Wie ist die Welt doch “komplex” geworden – und kompliziert! Sie braucht zur Bewältigung mannigfache Erklärungen: Gebrauchsanleitungen. Und diese wiederum sind sprichwörtlich – wie die fernöstlichen Übersetzungen ins Deutsche – schlichtweg unverständlich. Der Mensch mit dem Text in der Hand steht vor dem Objekt in der Welt und versteht beide nicht mehr! Bevor es zu “Wissen” kommt, ist der “Transfer” schon gescheitert.
Hat uns das die Genieästhetik eingetragen, die seit dem 18. Jh. das autonom text-produzierende Individuum forderte, befreit von allen Regeln der Rhetorik und damit auch der Verständlichkeit? Die Behauptung eines eigenen kreativen Schöpfungsprozesses, weg von irgendeiner Nachahmung (imitatio) einer Vorlage, auch entfernt davon, sie übertreffen zu wollen (aemulatio)? Rein genial im Kantischen Sinne, dessen 200. Todestag bewegt, ihn zu zitieren: Schöne Kunst ist Kunst des Genies. Genie ist die angeborene Gemütslage (ingenium), durch welche die Natur der Kunst die Regel gibt… Der Begriff der schönen Kunst aber verstattet nicht, daß das Urteil über die Schönheit ihres Produktes von irgend einer Regel abgeleitet werde… Originalität muss seine erste Eigenschaft sein. Das Produkt darf selbst nicht durch Nachahmung entsprungen, noch der Urheber eines Produktes, welches er seinem Genie verdankt, wissen, wie sich in ihm die Ideen dazu herbei finden, auch es nicht in seiner Gewalt hat, dergleichen nach Belieben oder planmäßig auszudenken, und anderen in solchen Vorschriften mitzuteilen… (Kritik der Urteilskraft § 46 b 182). Darin ist jedermann einig, das Genie dem Nachahmungsgeiste gänzlich entgegen zu setzen… (ebd. §47 b 183).
Der Fremdwörterduden folgt dem: genial wird mit schöpferisch, bahnbrechend, überragend; sublim mit erhaben, fein, nur einem geläuterten Verständnis oder Empfinden zugänglich übersetzt. Das betrifft freilich eher den gewöhnlichen Wortschatz, in der rhetorischen Fachsprache bedeutet genial den Bruch mit der klassischen regelgeleiteten officia-Rhetorik und sublime den erhabenen, pathetischen Schreibstil des genus grande oder eben sublime.
Eigentlich aber widerstrebt einem solchen Verständnis, die Begriffe anderweitig als auf Poesie oder epideiktische Reden anzuwenden. Doch wenn es schon im 18. Jh., zu den Zeiten der Originalgenies, manchen Leuten unmöglich war, die Wörter nicht in dem Besitz ihrer Bedeutung zu stören (Lichtenberg, Sudelbücher C 158), warum sollte das in den Postzeiten der Postmoderne anders geworden sein? Ein wahres Genie setzt seine eigene Wortbedeutung und seinen eigenen Stil. Der neue Ton, so meine ich, kam mit Jamie Oliver in die Welt. Wie waren doch vordem die Kochbücher sachlich:
Katharina Prato, Die Süddeutsche Küche, Vorrede zur ersten Auflage, Graz 1858: Ich beabsichtige mit meiner Vorrede durchaus nicht dieses Kochbuch lobend anzupreisen und große Erwartungen zu erregen, sondern nur zu erklären, wie es gekommen, dass ich wage, meine Arbeit, ungeachtet der schon vorhandenen Unzahl ähnlicher Bücher der Öffentlichkeit zu übergeben; dann um einige Andeutungen vorangehen zu lassen. … Es ist nicht allein nothwendig, Quantitäten und Qualitäten der Bestandteile nach Angabe zu nehmen, sondern auch bei allem die angegebene Reihenfolge zu beobachten und die vorgeschriebene Zeit darauf zu verwenden. Vorzüglich wichtig ist auch die Kenntnis der mannigfaltigen Esswaren beim Einkaufen… Prato suchte das Wohlwollen der Leserin zu erringen, brachte den Bescheidenheitstopos an, um dann, etwas verschachtelt, in medias res zu kommen. Sie betonte die Exaktheit, die Befolgung genauer Mengen- und Zeitangaben; was man demnach wissen musste, um es perfekt nachzumachen. Eine ähnliche Haltung formuliert J. Rottenhöfer, Hofkoch bayerischer Könige, wenn gleich sein Ton, adressatenbedingt, schon in Richtung genus sublime wechselt:
J. Rottenhöfer, Illustriertes Kochbuch, München 101904; erstmals 1858: Nachdem in der Urzeit durch die Eruption der Erde oder durch den Blitz die Menschen sich Feuer verschafft hatten, werden sie auch das zur Nahrung dienende Fleisch an dem selben oder in heißer Asche gebraten und nachdem sie auch Geschirre herstellen konnten, auch gekocht haben. Daß beides sich mit der Zeit vervollkommnet hat, erscheint ganz natürlich. Je zivilisierter von jeher ein Volk war, desto mehr war es auch bestrebt, sich gut und mit Geschmack zu ernähren, und wo die Zivilisation die Grenzen der Besonnenheit überschritt, wie bei den Römern, ging auch die vernünftige Ernährung in Schlemmerei und Üppigkeit über, wie bei diesen, die sich an dem Genusse der Zungen von Singvögeln, Pfauenhirnen und in Wein aufgelöster Perlen erfreuten (Einleitung, S. 9). Ein kurzer Abriss der Gastrosophie demnach – und, wie in dieser Zeit üblich, geprägt von der Degenerationstheorie: die Römer, ermattet in erlesenen Ausschweifungen, seien den unverdorbenen, frisch- dynamischen Germanen nicht mehr gewachsen gewesen. Wachsen. Blühen. Untergehen. Eine Art organologischer Geschichtsauffassung – sich wiederholend, immer wieder von vorne beginnend. Und ganz unbewusst stellte sich der Hofkoch selbst in diesen Zirkel. Die Rezepte und die daraus zusammengestellten Speisefolgen sind durchaus auserlesen, üppig – die Gänseleberpastete fehlt nicht! Schon ein Zeichen für den degenerativen Niedergang der Wittelsbacher? Ansonsten erscheint die zeitübliche, französisch orientierte grande cuisine; im rhetorischen Sinne entspricht das der alten Hofberedsamkeit, mit einem eigenen Pathos, womit wir uns dem sublimen Stil nähern. Der Begriff findet sich dann auch völlig zu Recht im Titel:
Philippe Rochard, La cuisine sublime. 200 Erfolgsrezepte vom Meisterkoch, Baden und München 2003. Da passt die obige Definition von: fein, nur einem geläuterten.. Empfinden zugänglich. Der Inhalt eignet sich jedoch nicht wirklich für den gewöhnlichen Haushalt und ein normales Budget: viel mit Gänsestopfleber, nicht wenig Trüffel, Kaviar… Die Froschschenkel dürften ökologisch Bewusste schrecken; auch ambitioniertere KöchInnen die z.T. recht komplizierten Zubereitungen mit entsprechenden und vielen Zutaten, wie bretonischen Hummer etc. Eine sublime Küche im klassischen Sinne des Wortes, mehr dazu geschaffen, um über den Koch und seine Küche ein Bild zu gewinnen – wenn nur die Fotos besser wären…
Die Einleitung stammt nicht vom Koch selbst, sondern von Véronique Zbinden. Die Überschrift schlägt den Ton an: Leidenschaft – Ein Leben lang. Lassen wir zunächst die Zitate auf uns wirken, das sollen sie ja auch. Ein scheuer junger Mann wird vorgeführt: bescheiden, Erbe einer Philosophie – diese scheint unvermeidlich; besessener Koch, Zauberer, auf calvinistischem Boden als Katholik so etwas wie ein Exot (mehr als das! Wer zauberte, besessen war, dem drohte gerade auf calvinistischem Boden, dass er selber zum Opfer eines Holzfeuers wurde!). Liegt in dieser kulturellen Besonderheit vielleicht die Wurzel seines starken Willens, seiner Beharrlichkeit, seiner Verschlossenheit und Ernsthaftigkeit? Dickköpfig, beharrlich, eigensinnig, nicht selten schroff… entwickelte er schon früh einen ausgeprägten Geschmackssinn. Der Lebensabriss geht weiter: früher Tod der Mutter, Stiefmutter, bittere Jahre; samt Psychologie der Autorin: Vielleicht wünscht er sich insgeheim, durch das Kochen einen Teil seiner Mutter, ihr Lächeln, ihre jugendliche Anmut wieder auferstehen zu lassen… Lehre als Koch. Spitzenhotels. Spitzenleistungen bei Schi- und Radfahren. 1992 lernt er die zweite Fee seines Lebens kennen… Heirat 1995. 1997 dritter Michelin Stern. 1998 Koch des Jahres. 2002 verunglückt seine Frau, Philippe ist ein gebrochener Mann, vom Schmerz gebeugt und untröstlich… durch verschiedene Projekte findet er langsam wieder ins Leben zurück.
Es ist tragisch. Doch die Autorin hat das nicht anders zu gestalten gewusst als mit Standardphrasen; und so fehlt kaum ein Klischee. Die “Plotstruktur”, wie man heute so sagt, mit der tragischen Schreibart, entstammt unmittelbar der mittelalterlichen Hagiographie. Schema, Stil wie Vokabular sind perfekt übernommen. Harte Jugend, hartes Schicksal – aber am Ende die herbeigeschriebene Apotheose: Rochat steigt auf zum Heiligen der Schweizer Köche. Dazu passt noch, dass er alles Überflüssige abwerfen möchte… Vielleicht auch so einen Text?
Da haben wir, nebenbei gesagt, eine Folge der nouvelle cuisine! Die Köche kamen aus dieser hervor ins Rampenlicht, stiegen zu Stars auf und übernahmen deren Formen kultischer Verehrung Um noch einen Eindruck von den Rezepten zu geben: Eine schwungvolle Sauce ebenfalls mit Kalbsbriesröschen; ein gegrillter Steinbuttrücken mit knusprigen Artischockenstückchen, Streifenbarbenfilets, sehr fein mit Tapenade bestrichen, auf einem Schaum mit Maussane-Öl, mit ein paar Kammmuscheln und kleinem Frühlingsgemüse, um einen schönen Seeigel mit cremigen Jus herum angerichtet, mit einer feinen Pfeffersauce… Und so wird das Ying und Yang von Taschenkrebs und Meeresspinne mit Erbsencreme nicht nur zur Gaumenfreude, sondern auch zum eleganten Augenschmaus – ist das eine gewollte Enallagé – oder nicht doch der ganze Satz ein Beispiel für gedankenlose à la mode-Schreibe?
Sichtlich – was die Schreib- wie die Kochkunst anlangt, sind die Möglichkeiten begrenzt, sogar die der Kombinationen (manche der in zeitgeistigen Journalen beschriebenen erinnern von ferne an das späte Rom). Da bleibt nur noch übrig, neue Begriffe einzuführen – oder alte zu übertragen – um damit neu zu erscheinen. Jamie Oliver hat den Begriff des Genialen für seine Küche beansprucht; mit Folgen.
Kochen mit Jamie Oliver – Von Anfang an genial, Starnberg 2002 schlug ein, wie seine folgenden Kochbücher etwa Genial kochen mit Jamie Oliver, Starnberg 2002 auch – und andere Köche in den Bann.
Seinem ersten Kochbuch steht voran gestellt: Ich hab’s geschrieben, weil ich das Gefühl hatte, wenn alle wüssten, wie einfach, schnell und wie mit wenigen Basics man phantasievoll kochen kann, hätten eine Menge Leute eine Menge mehr Spaß und würden dabei auch noch wesentlich gesünder leben… Der Erfolg meiner Bücher hat mich total umgehauen – ich kann’s manchmal immer noch nicht fassen. Ich freue mich natürlich, dass so viele Menschen auf der ganzen Welt auf den Geschmack gekommen sind… Es ist eine Sammlung von idiotensicheren, schnellen, absolut super schmeckenden Gerichten ohne überflüssigen Schnick-Schnack. Schließlich soll kochen vor allem Spaß machen.
Der Stil liegt am gegensätzlichen Ende vom genus sublime, bemüht lockere Umgangssprache, eine Art gewollter Jugendjargon, mit etlichen Barbarismen: Basics, super… Nachdem die Einfachheit der Küche propagiert wird, muss dies sich anscheinend auch auf den Stil übertragen: simpler – genus humile.
Das Geniale liegt sicher nicht im Jargon! Es kommt überhaupt erst durch die deutsche Übersetzung zum Vorschein, die anderslautende englische Titel unter dem Markenbegriff des Genialen laufen lässt. Das hat sichtlich funktioniert, wie die hohen Auflagen zeigen. Allen Definitionen nach müsste es jedoch in der Originalität der Gerichte liegen, à la Kant diese: nicht durch Nachahmung entsprungen; Jamie dürfte es nicht in seiner Gewalt haben, dergleichen nach Belieben oder planmäßig auszudenken… geschweige denn Kochbücher zu schreiben, um es anderen in solchen Vorschriften mitzuteilen…
Wir haben es also um die Reklamierung des Genialen als Etikett zwecks Vermarktung zu tun. Die Reste traditionellen Genie-verständnisses zeigen sich immerhin – sicher unbewusst – in der Befreiung von Regeln und von Wissen: Ganz ehrlich: Diese Art Suppen macht mich richtig an. Früher hatte ich absolut keine Ahnung von Fusion – oder asiatischer Küche und ich muss zugeben, dass ich auf diesem Gebiet immer noch kein Experte bin. Aber das ist nicht immer das wichtigste – man muss sich nur in die Dinge einfühlen und für sich selbst herausfinden, worum es überhaupt geht. (Ich würde ihnen jedoch nicht raten, eine solche Kreation beim ersten Rendezvous aufzutischen, denn zum echten Genuss gehört auch eine Menge Geschlürfe, Geschmatze und Geschlabbere). Immerhin ein Versuch einer Alliteration, doch ansonsten nur einfacher Satzbau, einfachesVokabular: …eine Auswahl von tollen Salaten und Dressings, die so schnell und einfach gehen, dass sie sie einfach ausprobieren müssen (S. 29). Forellen sind für mich etwas richtig Leckeres, besonders wenn man sie im Ganzen genießen kann (S. 88). Das Essen wird auch zum total geselligen Ereignis… Meiner Meinung nach hat die Qualitätssteigerung eine Menge damit zu tun, dass wir immer weniger das zweitklassige Zeug akzeptieren, das wir früher bereitwillig verwendet haben… (S. 157). Wir sollen diese Devise des Meisters ernst nehmen – auch sprachlich immer weniger das zweitklassige Zeug akzeptieren, das wir früher, aber sichtlich auch heute, bereitwillig verwende(te)n.
Es stellt sich doch die Frage, warum die Übersetzerin so auf diesen Schichtenjargon zielte – wo diese doch anscheinend die Bücher eher weniger kauft… Ein einfacher Stil muss durchaus nicht so barbarisch ausfallen, könnte kreativer sein… Dann passte er auch besser zum Küchenstil. Wir verlangen ja keine latinitas, wenn auch im Großen und Ganzen Oliver von einer simplen italienischen, bzw. sizilianischen Küche ausgeht, diese mit Fusions-elementen anreichert. Das ist durchaus kreativ, entbehrt auch nicht der Raffinesse. Den Zeitgeist jedenfalls trifft eine solche “bricolage”, s. o: Wenn die Welt so kompliziert ist, muss man “Komplexität reduzieren”, auf allen Ebenen; d. h. aber wiederum auch hier: imitationssicheres Kochen. Das wahrhaft Geniale liegt darin, den KöchInnen zu suggerieren, dass sie in der Nachkochung selber genial seien! Wenn immer mehr Leute immer weniger kochen können, es aber in bestimmten Gruppen zum Sozialprestige gehört, dies dennoch vorgeben zu müssen, dann braucht es idiotensichere Vorgaben und die Befreiung von Perfektionszwang. Das ist sichtlich (kauf-) ermutigend, heißt das Motto doch, einfach, locker und leger mit den Zutaten vor sich hin werkeln.
Im Grunde ließe sich das auch mit einem Klassiker, wie der Cucina italiana, hg. von der Accademia Italiana della Cucina, München 1987, bewerkstelligen, indem die Rezepte variiert werden, was Kochkundige ohnehin tun. Das klingt nur nicht so spektakulär und nicht genial – doch ist Oliver nicht eher genialisch? Die Auswirkung derartiger Befreiungsaufrufe blieb jedenfalls nicht aus.
Karl und Rudi Obauer, Hemmungslos kochen, 24 Wahrheiten über die gute Küche, München 2002. Da haben wir das Pathos: Hemmungslos! Aufruf zur Emanzipation! Zur selbstbewussten Interpretation jedweder Kochideen und zur Befreiung vom Diktat der grammgenauen Kochrezepte. Aufruf zum Weglassen und Hinzufügen nach Inspiration und Laune… für ein fortan hemmungsloses Kochen. Individuelle Modifikationen werden ausdrücklich empfohlen, denn die Rezepte dieses Buches sind als Navigationsmarken zu betrachten…
Das brauchte es schon, eine schnelle Begriffsklärung, denn: Hemmungslos in der Küche – das ruft leicht andere Assoziationen hervor! Verbunden noch mit dem Aufruf zur Emanzipation könnte das als Aufstachelung der weiblichen Lehrlinge gelesen werden – in Abkehr vom klassischen Küchenmachismo! Doch darauf und: Auf manche… so wertvolle Vokabel musste im Streben nach dem hohen Ziel verzichtet werden... Sorry! Doch ein wenig Schifffahrtsmetapher darf auch hier nicht fehlen – und ein sexueller Subcode, so ist auch: Fisch… gefügig (S. 31). Was sich zum Fressen gern hat passt häufig gut zusammen. Auch wenn das Fressende in den wenigsten Fällen den Geschmack des Gefressenen tatsächlich annimmt… Nur Illusion… Aber die Vorstellung eines Häschens im Garten, Huhns auf der Frühlingswiese oder Kalbs auf der Kräuterweide inspiriert zu jeder Menge Kochideen mit hellem Fleisch und Kräutern (S. 45). Da weht ein Hauch von Tragik durch – ja die Menschenfresserei! Auch die Vorstellung eines zu schlachtenden Häschens im Garten wird zarte Gemüter eher schrecken denn inspirieren.
Den Schreiber des Textes, es ist keiner der Brüder Obauer gewesen, sondern Werner Maisinger, packte stellenweise textlicher Horror vacui. Die Angst vor dem Leeren, ergreift uns häufig auch bei der erfüllten Tätigkeit des Kochens. Von allem und jedem Nahrungsmittel, das die Natur mit einem Hohlraum ausgestattet hat, oder an dem im küchenfertigen Zustand ein solcher vorliegt, wird der Drang zur Füllung ausgelöst, von Kamelen ebenso wie von entkernten Zwetschgen. Bratfertiges Geflügel hat einen Hohlraum, der besonders provoziert, passt doch die Größe der befüllbaren Höhle mit dem umgebenden Fleischanteil gut zusammen (S. 71). Genießen wir die Antithesen und die Antagonismen zwischen Kamel und Zwetschge. Schließen wir dieses Buch der ewigen Versuchung. Milch und Honig – das verheißt paradiesische Süße und barocke Üppigkeit. Die Vorahnung ist leicht einlösbar, vor allem wenn wir Sahne als Derivat der Milch in das Spiel miteinbeziehen (S. 179).
Öffnen wir dagegen zur Kritik unsern alten Meister Quintilian. Er schrieb bereits über derartige Stilmischungen: Die Entscheidung für die hervorleuchtenden (clara) und erhabenen (sublimia) Wörter hängt meist von dem Stoff der Rede ab. Ein Wort das hier prächtig wirkt, wirkt an anderer Stelle geschwollen…. Wie aber in einer glänzenden Rede ein zu niedriges Wort auffällig erscheint und wie ein hässlicher Fleck, so sticht von einem schlichten Satz das erhabene und glänzende Wort ab und führt zu verdorbenem Ausdruck, weil es geschwollen in der flachen Umgebung steht (Institutio oratoria VIII 3, 18). Was also in maßlosem Schwulst sich aufbläht oder in hohlen Gemeinplätzen schwelgt… Überstürzung für Erhabenheit hält (praecipitia pro sublimibus habet) oder unter dem Anschein des Freimuts sich in ihrem Wahnsinn austobt, meint, es sei dem Volk mehr genehm und ernte mehr Beifall. Dass dies zwar vielen gefällt, das leugne ich nicht und wundere mich auch nicht darüber (ebd. XII 10, 73).
Das Kochbuch selber erntet durchaus mehr Beifall – und völlig zurecht. Denn die obigen Zitate stammen alle aus den Kapiteleinleitungen – und nur dort geht es in jeder Richtung hemmungslos zu. Was die Obauer als Rezepte ablieferten, ist ein – auch in häuslichen Küchen – sehr brauchbares Kochbuch mit Vorschlägen und dank genauer Angaben gut nachvollziehbaren Rezepten. Titel wie Einleitungstexte zeigen sich von Oliver inspiriert, wollen ihn sprachlich übertreffen – und auf dieser Ebene einen Kaufanreiz bieten. Dankenswerterweise ist es aber in den wesentlichen Teilen ein solides klassisches Kochbuch geblieben. Dem Drang zur Wort-Füllung wurde da nicht nachgegeben. Doch die Entfesselung der Leidenschaften ist Mode – und jeder Koch, der ein Star ist, sein möchte, braucht unbedingt sein eigenes Kochbuch.
Armin Röttele, La cucina de la passione. Lustvoll-mediterrane Gerichte aus der “giardino”-Küche, Aarau 2001. Warum der Titel so gewählt worden ist, bleibt zunächst offen; wir haben ein klassisches Kochbuch für Liebhaber der gehobenen italienischen Küche. Ohne große Einleitung, die kurze Philosophie der “Giardino”-Küche darf nicht fehlen, geht es in medias res. Unterteilt wird in die vier Jahreszeiten und weiter gegliedert in: Sonnenküche, leidenschaftliche Küche, lustvolle sanfte Küche. Warum aber ein Rehrücken mit Kastanienspätzle und Balsamicokirschen oder eine Vanille-Pannacotta mit pochiertem Erdbeer-Rhabarber eine leidenschaftliche Küche sein sollen und ein marinierter Polipo mit Venusmuschel und gefüllten roten Pfefferoni eine lustvolle sanfte wird nicht weiter erklärt. Die Rezepte sind ausführlich, weisen höheres Niveau als bei Oliver auf, die Foodfotographie, bzw. die Anordnung der Fotos fallen ab. Es kommt doch die Klärung: Kochen ist vor allem ein ziemliches Vergnügen – eine große Leidenschaft und sichtlich auch die Harley Davidson: Koch und Sozia, passioniert, ohne Sturzhelm auf zwei Farbseiten…
Wir lesen das Spektrum der Stile und Schreiber – und wir wissen, dass Köche gewöhnlich nicht “schreiben” können, genauso wenig wie Rhetoriker imstande sind, Kochrezepte zu verfassen. Manchem Text ist der Eigenversuch bzw. das Eigendiktat mehr als deutlich anzumerken. Für die Texte außerhalb der eigentlichen Rezepte werden zudem überwiegend Autoren gedungen, sichtlich bei Rochat, verdeckter bei den Obauer. Doch Lektoren wie Übersetzer hatten die Zielgruppe jeweils auch noch mit im Auge. Das ist alles legitim, versteht sich durchaus. Doch was dann eintritt, ist lange vordem bei Quintilian nachzulesen: Ein ähnlicher Fehler ist es bei uns, Erhabenes mit Niedrigem (sublimia, humilibus), Altes mit Neuem, Poetisches mit Gewöhnlichem zu vermischen, denn dann kommt so ein Ungetüm zustande… (XII 10, 60). Damit ist das passende Stichwort gegeben:
Alfons Schubeck, Liebesmenüs. Raffinierte Köstlichkeiten für sinnliche Stunden. 144 anregende Rezepte vom Meisterkoch, München 2002. Wieder die Leidenschaft, umzusetzen versucht in Rezepte und Sprache. Nur wie: Die eiförmig geformte Forellencreme regt hoffentlich die Sinne ein wenig an, und der frisch geriebene Meerrettich vor dem leicht bekömmlichen Hauptgang sorgt dann sicher für die nötige Schärfe… (S. 10). Und so weiter:Gemüsesalat mit Matjes. Wer nach dieser Vorspeise nicht in die gewünschte Stimmung kommt, dem ist wirklich nicht mehr zu helfen. Kürbiskerne, biologische Wundersamen für Männer und als Garnitur die optisch anregenden Artischockenblätter. Darauf kringelt sich dann verführerisch ein jungfräulicher Matjes, der nur darauf wartet, genussvoll verschlungen zu werden… Hinzu kommen dann beim Hauptgang reichlich Zwiebel, deren gesundheitliche Wirkung selbst moderne Wissenschafler (sic) nicht bestreiten. Halten sie sich allerdings bei den neuen Kartoffeln ein wenig zurück, die jungen Knollen sind nämlich sehr kaliumhaltig, was zur Folge hat, dass sie eventuell öfter das stille Örtchen aufsuchen müssen, als ihnen lieb ist, und das kann an einem reizvollen Abend ganz schön nerven (S. 23). Hasen hatten in der Geschichte immer eine enge Beziehung zu Frauen (S. 43). Wagen sie zur Abwechslung mal, an Stelle des üblichen Blumenschmucks, ein völlig ungewöhnliches erotisches Arrangement z.B. aus rohen Spargelstangen, frischen Kräutern, Ingwerwurzeln und Veilchen, verteilen sie leere Austernschalen mit einer Perle drin. Anheimelndes Kerzenlicht beleuchtet – wenn da keine lustvolle Stimmung entsteht! Das feine, cremige Spargelsüppchen stärkt dann hoffentlich noch den Liebeshunger. Die noblen Stangen werden nämlich nicht nur des Aussehens wegen als “Herausforderung der Venus” bezeichnet… ( S. 49).
Hören wir auf. Es ist so trivial wie pubertär, streckenweise peinlich und verschwiemelt. Kitsch und keine Kunst, dafür eindeutige Anspielungen – demnach könnte es vom Meister selber sein; oder von einem ihm kongenialen Texter. Ganz ernst kann man das nicht nehmen, ganz ernst wird es der Meister auch selbst nicht genommen haben. Die unfreiwillige Komik ist ihm unterlaufen; das wird ihm wahrscheinlich auch wurst sein. Man kann danach kochen; es ist eine Zweitverwertung der guten alten Schubeckküche unter diesem lüsternen Aufmacher. Diese Texte vor(her) zu lesen, empfiehlt sich nicht: Schließlich will man ja nicht völlig erschöpft die Liebesnacht beginnen – vor lauter Lachen…
Leidenschaft muss sein! Das Genie soll sich hemmungslos Bahn schaffen, wenn es dabei auch Sprachkrücken braucht. Der neue Tonfall ist Mode, Oliver hat ihn vorgegeben, andere stimmen ein. Der Erfolg verführt zum Nachklang, zur Nachahmung. Doch dabei fällt die Divergenz auf. Bei Oliver geht es um die Vereinfachung, die Aufhebung der starren Regeln und fixierten Mengen, das kommt im Geiste dem Geniegedanken noch nahe. Das erstreckt sich freilich auch auf die Sprache, mit Niveauabsenkung und Anbiederung. Dem kantschen Postulat der Originalität kommt Oliver nicht nach, geschweige erst dessen Imitatoren – doch das dürfte auch schon im 18. Jh. nicht anders gewesen sein! Und weil wir gerade historisch sind: Auch die ungenauen Angaben sind nichts Neues. Bei den mittelalterlichen Kochbüchern fehlen sie gewöhnlich überhaupt. Da wird nur angegeben, was überhaupt dazugehört; ansonsten weder Mengen noch Zeiten. Geschrieben wurden sie von Profis für Profis – und die konnten damit umgehen. Darum kommt auch Oliver nicht ohne Hilfestellung und genauere Angaben aus… Doch wenn mehr Leute bewusster einkaufen und kochen, dann liegt darin immerhin ein gesellschaftlicher, gesundheitlicher Gewinn. Und man muss eben die Laien da abholen, wo sie sind: beim Ehrgeiz ohne Können!
Dem Sog Olivers konnten und wollten sich die anderen Autoren nicht entziehen – und sei es mit Hilfe von Lohnschreibern. Da fallen die Bücher sprachlich auseinander: das gediegene Handwerk der Köche im sachlichen Ton, genus humile, der Rezepte und der aufgesetzte, pathetische Klag der Einleitungen. Es entspricht dem lustbetontem Zeitgeist – doch dieser, das führen die Kochbücher vor, ist aufgesetzt: nur die Simulation von Genie, von Hemmungslosigkeit; eine Fassade, ein Kaufanreiz: Sex sells – jetzt auch bei den Kochbüchern…
Zum letzten Mal Quintilian: Sobald aber nun etwas Gesuchteres in der Rede sich findet, das auf das Ohr der ungebildeten Menge Eindruck macht, es sei, was es wolle, wenn die Zuhörer nur meinen, so etwas könnten sie selbst nicht, so findet es ihre Bewunderung (XII 10, 75).
Lothar Kolmer