Archiv der Kategorie: Forum

Was lernt man eigentlich in Rhetorik–Kursen? Was macht die Rhetorik eigentlich? Wie kann sie helfen, einen Text rhetorisch zu erschließen? Nach welchen Kriterien kann man einen Redner und dessen Rede beurteilen? Wie sprechen Bilder zu mir? Sprechen sie überhaupt?

Nur einige Fragen, mit denen sich die hier versammelten Beiträge auseinandersetzen.

Beiträge die häufiger konsultiert werden und der Sache nach passen können auch nach „Rhetorik von A bis Z“ transferiert werden.

Die Idee ist, ein Forum zu schaffen, das jedem die Möglichkeit bietet, sich einen umfassenden Überblick über die verschiedenen Gebiete, Funktionen und Aufgaben der Rhetorik zu verschaffen, einen Ort, wo man recherchieren und sich informieren kann. Grundlage dafür bilden Beiträge von TeilnehmerInnen an unseren Rhetorikkursen, für die diese Plattform wiederum eine Möglichkeit ist, ihre Arbeit einem breiteren Publikum zugänglich zu machen und an dieser rhetorischen „Enzyklopädie“ selbst mitzuwirken.

So ensteht nach und nach ein breit gefächertes Nachschlagewerk für einen großen Interessentenkreis.

Rhet-Talk

Das Rhetorikforum des Rhetorikvereins veranstaltet am 22.4.2024 von 19.00 bis 21 Uhr einen Abend mit Vorträgen und Diskussion im online-Format. Sprecher des Abends sind Bend Rex, Thomas Schirren und Dietmar Till. Wir laden dazu herzlich ein.

Rhetorikforum

Packen Sie die Zuhörer!

Ein Filmprojekt der Studienergänzung Rhetorik

Editorial

Was kann das Schauspiel zur Rhetorik beitragen? In der Theaterarbeit hat man die Erfahrung gemacht, dass Sprache und Bewegung miteinander eine Einheit bilden. Diese Erkenntnis lässt sich auch auf die rhetorische actio, die Lehre von der Aufführung einer Rede, übertragen. Bei der Einstudierung der Rede bedeutet das, dass sich die Stimmführung der Rednerin oder des Redners durch die intentionale Bewegung positiv beeinflussen lässt.

Im Film führt uns Tomma Galonska gemeinsam mit Salzburger Rhetorik-Studierenden in das Prinzip des Handelnden Sprechens ein. Wir erleben mit, wie die ‚Handlungsgesten‘ der Vortragenden zu Bausteinen einer sprachlich und gestisch lebendigen Rede werden. Indem sie Körperhaltung, Mimik und Gestik zum Handelnden Sprechen verbinden, lernen sie das bisher genutzte Arsenal an Ausdrucksmöglichkeiten zu erweitern. Gleichzeitig dringen sie rhetorisch in bisher weniger vertraute Facetten ihrer eigenen Persönlichkeit vor.    

Impressum

Mitwirkende: Jakob Julius Falkenbach, Elena Fischer, Anne Radakovich, Fabian Rausch und Stefanie Schmerbauch u. a.

Kamera und Schnitt: Hans-Christian Gruber, Simon P. Haigermoser

Musik: Gregor Schwellenbach (mit freundlicher Genehmigung von Kompakt, Köln)

Konzept und Regie: Tomma Galonska

Dieser Film entstand im Rahmen der Lehrveranstaltung Redetechniken und ihre didaktische Vermittlung im Wintersemester 2018/19 am Fachbereich Altertumswissenschaften / Studienergänzung Rhetorik in Kooperation mit dem NaWi AV-Studio der Universität Salzburg

© Tomma Galonska 2019

Warum eigentlich Rhetorik studieren?

Warum Rhetorik studieren?

– Ein Film, den Sie unbedingt sehen sollten

Matthias Erler hat als Student unserer rhetorischen Lehrveranstaltungen viel gelernt und möchte diese Erfahrungen auch an andere weitergeben, die sich fragen, ob Rhetorik etwas für sie sei. Inzwischen ist Matthias Erler selbständiger Unternehmer und Rhetoriktrainer.

Aufgaben des Redners: docere, delectare, movere

Um die Absicht seiner Rede, die Meinung der Zuhörer entsprechend zu verändern, in eigenem Sinn zu beeinflussen und eine gewünschte Erkenntnis hervorzurufen, erfolgreich zum Ziel zu führen, hat der Redner 3 Hauptaufgaben zu erfüllen. Hierbei stehen ihm drei Vorgehensweisen zur Verfügung (officia oratoris). Aufgaben des Redners: docere, delectare, movere weiterlesen

Natura

Natura, auf Griechisch φύσις; phýsis lässt sich als „natürliche Anlage“ ins Deutsche übersetzen. Durch sie erlangt ein Mensch die Fähigkeit das Reden zu gestalten. Des Weiteren ist die natura die individuell ausgeprägte Basis für das kunstvolle Reden, das durch die lehrbare Redekunst (docrina, ars) und Übung (exercitatio, usus) erworben wird.[1]
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Produktionsstadien

inventio

Das griechische Wort heuresis, lateinisch inventio oder deutsch Auffindung/Erfindung findet seinen Ursprung in der Antike und stand für das Finden von Stoffen in allen Teilen der Rede, als erstes der fünf Produktionsstadien der Rede. Heute wird der Begriff mit dem Eruieren evidenter Argumentationen gleichgesetzt. Diese Auffindung wahrer oder zumindest schlüssiger und wahrscheinlicher Beweisführungen bildet den ersten Teil der Aufgabenbereiche eines Redners. Es besteht eine enge Verbindung zum iudicium, da durch geeignete Suchformeln eine Vielzahl plausibler Argumente gefunden werden kann, aus der es gilt die inhaltlich signifikanten zu ermitteln. Ein System dieser Suchformeln, auch topoi oder loci genannt,  findet sich zum ersten Mal bei Aristoteles in seiner Topik und Rhetorik. Es wurde später von den Römern übernommen und weiterentwickelt. Eine weitere mögliche Strategie stellt die Statuslehre des Hermagoras von Temnos dar. Hier können durch die Imagination und Klassifikation gewisser Streitfälle vor Gericht denkbare Begründungen ausgemacht werden. Kombiniert man die beiden Methoden, so werden für jeden Staus mittels Loci die adäquaten Argumente gefunden.
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Redegattungen (genera orationis)

Die Unterscheidung in Redegattungen ist durch Aristoteles festgelegt worden; sie findet sich allerdings bereits in älteren Überlegungen zur Rhetorik (z.B. bei Anaximenes von Lampsakos). Aristoteles hält in seiner Rhetorik[1] den Zuhörer für das entscheidende Kriterium für die Bestimmung der Redegattung: man kann eine Rede hören, um sie wegen eines gegenwärtigen Anlasses zu genießen (Lobrede) oder um eine Entscheidung zu fällen. Im letzteren Fall kann es sich um eine Versammlung (Volksversammlung, Parlament) handeln, die eine Entscheidung über eine zukünftige Regelung zu treffen hat, oder um ein Gericht, das über ein vergangenes Geschehen zu urteilen hat.[2]
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Redeteile

prooemium

Der Begriff des prooemium leitet sich vom alt-griechischen Wort prooimion ab und stellt ursprünglich den Beginn nicht dramatischer antiker Dichtung dar. In der antiken Rhetorik wird das prooemium als Einleitung einer Rede bezeichnet. Der sophistischen Schulrhetorik folgend, liegt das Ziel hierbei bei der Vorbereitung der Hörer im Darlegen eines Anliegens, dem Bitten um Aufmerksamkeit und, wenn möglich, auch dem Erhaschen von Sympathie in der Zuhörerschaft.
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Niveau der Textgestaltung

Demetrios

Im Gegensatz zu der in der Antike üblichen Dreistillehre kreierte ein gewisser, bis heute nicht identifizierter Demetrios im ersten Jahrhundert vor Christus ein System mit vier Charakteren: einem großartigen/erhabenen (charakter megaloprepes), einen schlichten/einfachen (charakter ischnos), einen eleganten/glatten (charakter glaphyros) und einen gewaltigen (charakter deinos).
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Ethos im wissenschaftlichen Vortrag

Sarah Grabler

1          Einleitung und Fragestellung

In dieser Arbeit werde ich einen genauen Blick darauf werfen, welches Ethos in einem wissenschaftlichen Vortrag anzustreben ist. Leider ist zu diesem Thema kaum Literatur verfasst worden, weshalb ich ein exploratives Vorgehen angestrebt habe. Hierfür habe ich verschiedene wissenschaftliche Vorträge aus unterschiedlichen Fachgebieten zufällig zum Besuch ausgewählt, um einen Eindruck zu erhalten, wie beispielsweise wissenschaftliche Vorträge gehalten werden. Methodisch habe ich ein Kategoriensystem verwendet. Das Ziel soll es sein, mit vier Beispielen einen Einblick in die Praxis des wissenschaftlichen Vortagens zu bekommen und theoretisch auf den Begriff des Ethos einzugehen. Aus diesen beiden Komponenten ziehe ich ein Fazit zur folgenden Fragestellung:

 

Welche Schlussfolgerungen und zukünftigen Untersuchungsansätze ergeben sich aus der Beobachtung von Vortragenden, bei der Haltung eines wissenschaftlichen Vortrags, in Zusammenhang mit der Theorie zum Thema „Ethos“? Ethos im wissenschaftlichen Vortrag weiterlesen

Walk of Modern Art 2014

Anthony Cragg – „Caldera“

G.J.

Wir haben unseren Walk of Modern Art durch die Salzburger Innenstadt beim 7. Kunstwerk des Projektes der Salzburg Foundation begonnen. Die 5 Meter hohe Bronze-Skulptur „Caldera“ des englischen Bildhauers Anthony Cragg wurde 2008 inmitten des kleinen Parks auf dem Makartplatz aufgestellt. Das Werk ist von innen begehbar und stellt einerseits eine Landschaft mit Vor- und Rücksprüngen dar, die sich ineinander wie tektonische Platten verschieben. Andererseits sieht man menschliche Gesichtszüge und erkennt mehrere Profile. Je nach Standort und Blickrichtung bietet sich dem Betrachter ein anderes Bild, man muss nur ein paar Meter zu Seite wechseln und schon hat man eine völlig andere Dimension vor sich. Genau diese zweiteilige Interpretationsmöglichkeit fasziniert mich. Walk of Modern Art 2014 weiterlesen

Erkenntnisse aus dem Tagebuch

Martina Kocher

Erkenntnisse aus dem Tagebuch

 

Die folgende Abhandlung soll zunächst eine Reflexion über den besuchten Kurs „Der wissenschaftliche Vortrag“ und anschließend einen Einblick in persönliche Erfahrungswerte, welche ich während des Semesters gesammelt habe, geben. Am Ende werde ich in einer Art Zusammenschau ein persönliches Resümee ziehen und beschreiben, welche Eigenschaften einen guten wissenschaftlichen Vortrag ausmachen.

Vergangenes Wintersemester wurde die Lehrveranstaltung „Der wissenschaftliche Vortrag“ als Kurs für die Studienergänzung Rhetorik angeboten. Es erschien mir wichtig, eine Vorbereitung zu erfahren, welche sich näher mit dem Aufbau und dem Halten von Vorträgen wissenschaftlicher Natur auseinandersetzt.  Erkenntnisse aus dem Tagebuch weiterlesen

Ein Plädoyer für Natürlichkeit

Cornelia H. Schreiegg

Ein Plädoyer für Natürlichkeit

1. Warum es einer guten Vortragsweise bedarf

Seit mehreren Jahren halten Schreibseminare an den Universitäten Einzug. „Was garantiert die Aufmerksamkeit der LeserInnen?“, „Wie schreibt man eingängig?“  und „Wie verleihe ich meinen Texten bei alldem noch eine persönliche Note, die eigene Handschrift?“ – solche Fragen und ähnliche sind oft Ausdruck einer gewissen Hilflosigkeit, welche zum Hinterfragen des eigenen Präsentationsstils führen, beziehungsweise daraus resultieren.

Als ich das vergangene Jahr an der Universität Konstanz studiert habe, wurde zeitgleich das dortige „Schreibzentrum“ eröffnet. Auf den Broschüren, die diese Möglichkeit zur Weiterbildung den Studierenden anpreisen sollten, prangten genau die oben genannten Fragen. Und dort, in diesem „Schreibzentrum“ sollte man Antworten darauf finden. Ein Plädoyer für Natürlichkeit weiterlesen

Die abenteuerliche Reise des Ritters Rhetorikus in das wundersame Land der Kommunikationswissenschaften

Kathrin Förster

Die abenteuerliche Reise des Ritters Rhetorikus in das wundersame Land der Kommunikationswissenschaften

 

Die Geschichte beginnt mit unserem Helden, Ritter Rhetorikus, der hinauszog, um die Welt zu verbessern. Mit nichts außer einem Schwert, einem Pferd und einem Zaubersack voller rhetorischer Stilmittel ritt er gen Horizont. Sein Auftrag war es, die Kommunikation der Menschen zu verbessern.

Natürlich kann unser Ritter nicht die ganze Welt verändern, also beschließt er sich auf einen kleinen Teil zu konzentrieren. Und zwar auf den Teil, welcher von Königin Kommunikation regiert wird. Kurz gesagt, er begibt sich in das wundersame Land der Kommunikationswissenschaften. Als Ritter Rhetorikus aber ankam, klagten die Bürger über die verschwundene Königin Kommunikation. Die abenteuerliche Reise des Ritters Rhetorikus in das wundersame Land der Kommunikationswissenschaften weiterlesen

„Danke für Eure Aufmerksamkeit!“

Sarah Grabler

„Danke für Eure Aufmerksamkeit!“

 

In diesem Essay wird der wissenschaftliche Vortrag genauer analysiert. Dazu werden anhand der rhetorischen Produktionsstadien die verschiedenen– im Lauf des Semesters gehörten – wissenschaftlichen Vorträge herangezogen. Es handelt sich dabei um Vorträge und Referate aus dem Fachbereich Erziehungswissenschaften, mit dem Titel „Beratung für Masterarbeiten“, in denen die Studierenden ihre Masterarbeitsprojekte vorstellten. Außerdem habe ich einzelne Vorlesungstermine am Fach­bereich der Psychologie und der Theologie besucht. „Danke für Eure Aufmerksamkeit!“ weiterlesen

The Take Home Message

Claudia Bischoff

The Take Home Message

Der wissenschaftliche Vortrag spielt eine zentrale Rolle in unserer Gesellschaft. Schon in der Schule lernen Schülerinnen und Schüler wie sie Themen vortragen sollen und bereiten sich darauf vor, später im Berufsleben oder Privat vor Leuten zu sprechen. An der Universität hat der wissenschaftliche Vortrag eine sehr große und bedeutende Rolle. Nicht nur weil täglich wissenschaftliche Vorträge gehalten werden, sondern weil dies ein wichtiges Medium der Forscher ist, ihre Erkenntnisse den Leuten zugänglich zu machen. Denn nur durch das Interesse und den Nutzen der Mitmenschen ist auch sichergestellt, dass künftige Mittel für weitere Forschung vorhanden sind. Was macht aber einen guten wissenschaftlichen Vortrag aus? Auf welche Aspekte sollte der Referierende besonders achten? Wie soll der Vortrag aufgebaut sein, um das Verständnis durch einen roten Faden zu erhöhen? Wie soll ein wissenschaftlicher Vortrag gestaltet sein um nachhaltig im Gedächtnis der Zuhörer zu bleiben? The Take Home Message weiterlesen

Wenn es nicht mehr aufhört zu tropfen…

Unzählige kleine Seen in den Wiesen, der noch sehr hohe Wasserpegel der Alz in Neuötting, doch sonst nichts zu sehen. Nicht einmal in Freilassing, welches vom Hochwasser eingeschlossen wurde. Als ich nach ein paar Tagen wieder mit dem Auto nach Salzburg fuhr, war die Katastrophe schon vorüber und nur kleine Hinweise ließen es erahnen.

Am Donnerstag um die Mittagszeit, als es schon zu beginnen drohte, war ich mit dem Auto auf dem Weg von Salzburg nach Hause in Bayern gewesen. Dabei begriff ich erst, dass das kommende Wochenende möglicherweise einige Unannehmlichkeiten mit sich bringen könnte, als ich die Salzach bei der Karolinenbrücke nicht überqueren konnte. Die Nacht von Freitag auf Samstag bereitete meiner Familie und mir dann schon erste Schwierigkeiten im Kampf gegen das Wasser.

Der zunehmende Regen verursachte einen sehr hohen Grundwasserspiegel, weswegen durch einen Abfluss im Kellergeschoss unseres Hauses sehr viel Wasser hochgedrückt wurde. Mein Vater und später auch meine Mutter versuchten das hochkommende Wasser mit einem Schwamm aufzusaugen, um diesen anschließend in einem kleinen Eimer auszuwringen. Wie sich später herausstellte, war diese Mühe vergebens! Um elf Uhr abends wunderte ich mich, was meinen Vater wachhielt und ging zu ihm in den Keller. Da wir beide zuerst keine Lösung für das vorliegende Problem wussten, rief er den Feuerwehrchef unserer Stadt an und bat ihn um Rat. Dieser empfahl uns, dass wir eine Burg mit Hilfe von Sandsäcken um den Abfluss bauen sollten. Also holte mein Vater die von der Feuerwehr bereitgestellten Sandsäcke ab, und um Mitternacht schleppten wir zehn kleine, aber dennoch erstaunlich schwere und äußerst schmutzige Sandsäcke vom Kofferraum des Autos in den strömenden Regen und hinunter in den schon teils gefluteten Kellerraum. Die Säcke richteten wir nun in einer viereckigen Anordnung um den Abfluss an. Eine Burg sah zwar anders aus, aber fürs Erste, dachten wir, müsste das reichen. Doch wir täuschten uns. Die Sandsäcke waren schon nach ein paar Stunden komplett durchnässt. Es half also alles nichts! Glücklicherweise konnte uns ein Freund meines Bruders eine Wasserpumpe leihen, und somit konnte das Wasser in einen naheliegenden Kanaldeckel abfließen. Wir hatten erst einmal Ruhe. Gottseidank!

Doch der Regen hörte nicht auf. Erst am Dienstag besserte sich die Situation. Obwohl wir nun im Trockenen saßen, erging es vielen bayerischen Landsleuten und den österreichischen Nachbarn miserabel. Versunkenes Passau, überflutetes Deggendorf, weit über die Ufer getretener Chiemsee, unpassierbares Freilassing sowie von Hochwasser gefährdetes Salzburg – die intensive Berichterstattung schockierte uns. Das Leid der vielen Menschen, ihre ausweglose Situation stimmte uns zutiefst traurig. Viele von den Betroffenen hatten alles verloren. Was für eine Tragödie!

Die zunehmend brenzlige Situation ließ Zweifel in mir aufkeimen, ob überhaupt möglich wäre, am Sonntag gegen Abend nach Salzburg zu gelangen. Da ich durch zahlreiche Rundfunkberichte von der katastrophalen Lage in Freilassing wusste, suchte ich im Internet nach einem sogenannten Liveticker, um aktuelle Verkehrsmeldungen sowie etwaige Hochwassermeldungen zu erhalten, in der Hoffnung, doch noch abreisen zu können. Die Verkehrsupdates der Seite des bayerischen Rundfunks halfen mir dabei, zu begreifen, daß meine Chancen, Salzburg bald zu erreichen, dahinschwanden. Auch die zweite Option, die bayerisch-österreichische Grenze über Laufen zu passieren und von dort aus weiter nach Oberndorf und Salzburg zu gelangen, blieb mir verwehrt. Die Salzach war auch an dieser Stelle zu hoch, als dass der Verkehr über die historische Brücke gestattet werden könnte. Nach mehrmaligen Updates auf der Seite und dem gleichbleibenden Stand der Unpassierbarkeit, gab ich den Versuch auf, einen Weg nach Salzburg zu finden.

Doch mir ging es gut, ich hatte nichts verloren. Die Anstrengung beim Schleppen von ein paar Sandsäcken kam mir so lächerlich unbedeutend vor. Neben zahlreichen Fernsehreportagen, Zeitungsartikeln und Radiomeldungen zeichnete mir vor allem Facebook ein dramatisches Bild der Lage. Meine Freunde waren zwar glücklicherweise nicht davon betroffen, doch durch das Liken von Facebookseiten über aktuelle Hochwassermeldungen erhielt ich Auskunft über die Hochwasserpegel und deren Folgen. Ich war erstaunt über die Hilfsbereitschaft und Courage der Menschen vor Ort. Vor allem in Passau engagierten sich sehr viele Studenten in Form von Aufräumarbeiten, als der Wasserpegel schon wieder gesunken ist.

Heute spricht kaum noch jemand über das Hochwasser, obwohl es sich erst vor ein paar Wochen ereignete. Höchstens Meldungen über Schadensbezifferungen und Nachfolgeerscheinungen spielen eine Rolle in der Medienagenda. Das Thema war bewegend, doch nun sind die katastrophalen Ausmaße vorbei, die Zerstörung und deren finanzielle Sanierung sind nun die einzigen Themen, welche noch interessieren. Obwohl immer wieder einzelne Schicksale von Betroffenen in einem kleinen Zeitungsartikel erscheinen, sind die Medien nun mit dem Thema Hochwasser im Großen und Ganzen durch.

Dieser Ausnahmezustand hat uns nun gezeigt, was Solidarität bedeutet und welche Rolle auch hierbei die Medien spielen. Beispielsweise hat eine Spendenaktion der Passauer Neuen Presse drei Millionen Euro eingebracht. Unzählige Spendenaktionen von Medienunternehmen wie auch von anderen Organisationen rufen zur finanziellen Bereitschaft auf. Obwohl hier auch Vorsicht geboten ist, denn nicht alle Spendenorganisationen erweisen sich als seriöse Wohltäter, ist dies eine große Leistung unserer Gesellschaft. Eines sollte doch nachfolgend bewusst geworden sein – es gilt hierbei nachhaltig zu handeln, damit eine solche Umweltkatastrophe nicht derartige Ausmaße annehmen kann. Unserer Umwelt zuliebe sollten wir bewusster und ökologischer handeln, um im Gleichklang der Natur ein angenehmes Leben verbringen zu können.

Stefanie Spitzendobler

Essay – Hochwasser 2013

Samstag 8.Juni 2013, ca. eine Woche nach dem dramatischen Hochwasser fahre ich nach Hause, damit ich mir einmal selbst ein Bild von dieser Naturkatastrophe machen kann. Meine Familie hat es zum Glück nicht erwischt, weil unser Haus etwas höher auf einem typischen Mühlviertler Hügel gebaut ist, aber die Familie meines Onkels und meine Oma stehn ganz unter Wasser. Kaum vorstellbar, wie sich innerhalb relativ kurzer Zeit enorme Wassermassen plötzlich aus dem Nichts  annähern und schließlich riesige Flächen überfluten können! In solchen Momenten wird einem bewusst, wie hilflos man diesen Mächten der Natur gegenübersteht. Sie lässt sich nicht beherrschen und auf gar keinen Fall von den Menschen bezwingen.

Gleich am Vormittag fahren mein Nachbar und ich zu meiner Oma. Er ist bei der freiwilligen Feuerwehr und war einer der zahlreichen ehrenamtlichen Helfer. Kurz vor dem Altstoffsammelzentrum sagt er zu mir „Gleich zeige ich dir die Anlegestelle der Motorboote, mit denen wir die Menschen und Tiere evakuiert haben.” Das sind Bilder, die könnte ich mir gar nicht ausmalen, hätte ich nicht Fotos davon gesehen. Solche Motorboote haben schließlich einen Tiefgang von ca. 70 bis 80 Zentimeter! Hier ist eine riesengroße, viele Hektar große, ebene Fläche mit zahlreichen Feldern, die unter anderem mit Mais, Raps, Weizen bewirtschaftet werden. So ein Hochwasser bringt jede Menge Schlamm, der an Häusern, Bäumen, Pflanzen und anderen Dingen haften bleibt. Auf den hohen Maispflanzen, die bestimmt schon über einen Meter hoch sind, erkenne ich die Höhe des Wasserstandes an der Höhe des anhaftenden Schlammes.

Wir fahren ein Stück weiter und sehen Feuerwehrmänner in der brütenden Hitze den Verkehr regeln, denn der öffentliche Verkehr wird umgeleitet, bis sich auch die letzten Flüsse in ihr Flussbett zurückgezogen haben. Nur Anrainer dürfen diese Straßen passieren.

Ein Stück weiter sehe ich eine Bekannte, die gerade ihr Haus, Einfahrt und Auto mit Hilfe eines Hochdruckreinigers von dem braunen, klebrigen und sandigen Schlamm befreit. Sie erzählt mir, dass in ihrem Keller noch immer das Wasser stehe, es aber keinen Sinn hat es abzupumpen, weil der Grundwasserspiegel noch immer so hoch sei, dass das Wasser sofort wieder von unten herauf gedrückt werde. Schlichtweg sinnlos, es hilft nur abwarten …

Endlich bei meiner Oma angelangt, sehen wir die fatalen Auswirkungen der Naturkatastrophe. Den Wasserstand erkenne ich sehr gut an der Mauer, fast bis zum Obergeschoss, trotz Hochparterre! Unvorstellbar hoch, das war wirklich eine bedrohliche Wassermasse. Zum Glück konnten sie noch die Traktoren und einen Großteil der zahlreichen Maschinen in Sicherheit bringen und den Schaden zumindest etwas einschränken. Im Wohnbereich konnten ebenfalls die meisten Möbel gerettet werden, aber das schlammhaltige Wasser hat trotzdem markante Spuren hinterlassen. Gemeinsam reinigen wir mit dem Hochdruckreiniger und mit Bürsten die Wände und bilden im Garten einen großen Haufen mit Dingen, die nicht mehr zu gebrauchen sind. Den starken, beißenden Geruch des Wasser-Schlamm-Gemischs, unser treuer Begleiter während der gesamten Aufräumarbeiten, werden wir nicht los, der wird höchstwahrscheinlich erst nach einigen Tagen das Haus verlassen…

Dieses Hochwasser ist für mich ein sehr gutes Beispiel für die gewaltsame Macht der Natur und die überheblichen Gedanken der Menschen, die Natur beeinflussen oder beherrschen zu können.

Ein Student der Universität Salzburg

Hochwasser- Vom Glück und Unglück

Die schöne Weingegend, das schöne Graz und das vorzügliche Essen beim Heurigen. Sonne, Bienen, blühende Blumen und das Gefühl von Sommer.

In Gedanken war ich bei unserem Familienurlaub in der Steiermark, als wir noch im Auto auf der Heimreise waren. Während ich diesem tollen Urlaub nachsann, hörte man im Radio erste Unwetter- und Hochwassermeldungen.

Hochwasser? Meine Gedanken von den sonnigen Tagen waren wie weggeblasen. Während wir in der Steiermark Sonne pur genossen, hatte es zuhause, in Salzburg und Tirol und, wie das Radio uns mitteilte, auch in weiteren anderen Bundesländern, ständig geregnet, so dass einige Teile Österreichs der Überflutung nahe waren.

Hektisches Telefonieren und Straßenkartenlesen. Kommen wir auf dem geplanten Weg nach Salzburg? Kommen meine Mama und meine Schwester dann von Salzburg aus nach Hause? Zunächst waren einige Straßen noch befahrbar. Doch schon bald mussten wir unsere Route ändern. Dass wir nach Salzburg kommen, das war sicher, aber die Hoffnung, dass meine Mama in den Pinzgau und meine Schwester nach Tirol kommt, sank mit jeder neuen Radiomeldung. Zunächst dachten wir, dass sie es noch knapp schaffen könnten. Doch irgendwann war die Hoffnung geschwunden, denn laut Radio wurde der Pinzgau zum Katastrophengebiet erklärt und auch von Salzburg fort war nichts meher möglich.

Wir alle saßen nun in Salzburg fest.

Mein Freund erwartete eigentlich nur mich an diesem Sonntag in Salzburg zurück. Doch stattdessen kamen alle drei Großbötzl-Damen. Damit hätte er wohl nicht gerechnet, keiner von uns.

Zu Hause angekommen hörten wir noch weiter Radio und betrachteten die Berichterstattungen im Fernsehen: Überschwemmungen auf der Zug- und Autostrecke von Salzburg nach Innsbruck. Bilder von überfluteten Autobahnen. Ein Murenabgang in Taxenbach, der Pinzgau war vom Rest des Landes abgeschnitten. Kein Heraus- und kein Hineinkommen. Nichts. Nun saßen wir da, in unserer Wohnung …

Ehrlich gesagt, mir war es ganz recht, dass meine Familie nicht mehr heim konnte. Ich hatte den Urlaub so sehr mit ihnen genossen, und so war ich auf eine Weise auch erleichtert, dass sie noch nicht abreisen konnten. Zwar war der Grund ein trauriger, beängstigender, ein Hochwasser, doch trotzdem war ich froh, sie um mich zu haben.

Die zwei hingegen sahen dies nicht so gelassen. Hochwasser. Was ist daheim los, und vor allem wann kann ich wieder heim? Geht es allen gut? Diese und andere Gedanken geisterten wohl Mama und Schwester durch den Kopf.

Eine Nacht später dachten wir, dass sich die Lage sicher gebessert hätte. Doch nichts hatte sich getan. Viel Wasser und viel Schlamm, überall. An ein Heimfahren war auch am nächsten Tag nicht zu denken. Ein Tag mehr, an dem sie wieder nicht in die Arbeit konnten. Aber da waren sie wohl auch nicht die einzigen.

Den ganzen Tag über hatten wir die Hoffnung, dass sich die Lage vielleicht gegen Abend ändern würde: Wieder hörten wir Radiomeldungen und Berichterstattungen im Fernsehen. Immer das Hoffen, dass doch irgendwann die Straßen befahrbar werden, dass doch irgendwann Entwarnung kommt. Doch am Abend dann die Gewissheit: eine weitere Nacht in Salzburg.

Am nächsten Tag dann wurde die Hoffnung schon wieder etwas größer. Die Lage schien sich zu beruhigen. Meine Schwester hatte schließlich eine Mitfahrgelegenheit nach Innsbruck gefunden, mit einer Gruppe, die versuchten wollte, auf irgendeinem beliebigen Weg dorthin zu kommen, denn schließlich waren alle großen Straßen noch immer gesperrt. Schon nach zwei Stunden dann erreichte uns ihr Anruf, dass sie nun endlich in Innsbruck angekommen sei. Gott sei Dank. Wir waren alle froh.

Und auch am Abend konnte meine Mama die Heimreise antreten. Schade eigentlich. Aber sie war froh, endlich wieder zu Hause zu sein, was ich ihr nicht verübeln kann. Und auch mein Freund genoss es nun, endlich wieder mich für sich allein zu haben. Denn eine Großbötzl-Dame ist wohl auch genug.

Madita Großbötzl

Wasser

Es ist Abend und das Wasser der Brunnen plätschert im Garten, während ich diese Zeilen schreibe. Wasser kann so erfrischend und kühlend sein, jetzt, wo der Sommer endlich gekommen ist. Die Goldfische drehen ihre Kreise und die Frösche schwimmen mit energischen Tempi durch das Wasser. Die ersten Badeausflüge und Ruderpartien liegen hinter uns mit dem beglückenden Gefühl, ganz und gar in ein anderes Element einzutauchen.

Am Wochenende war ich auf einer Hütte. Das wilde Rauschen des Wildbaches war die ganze Nacht zu hören. Herrlich, nach einer langen Wanderung  ein Bad im kalten Bach zu nehmen. Aber auch vorstellbar, wie der Bach zur Schneeschmelze wild und bedrohlich wird. Die Verwüstungsspuren der Muren aus vorangegangenen Jahren sind noch deutlich zu sehen.

Auch die Schäden der letzten Hochwasserkatastrophe werden noch lange nicht behoben sein. In der momentanen trockenen Sommerhitze scheint der nicht enden wollende schwere Regen jener ersten Junitage, der die Flüsse zum Überlaufen brachte und das Land in einen Ausnahmezustand versetzte, weit weg. Und doch: Weggespülte Dämme, nicht mehr vorhandene Gehwege, Gebäude, die sichtbar unter Wasser standen, bleiben als Zeugen der Unwetter zurück.

Zu Beginn war der Regen nur lästig. Ein geplanter Ausflug war nicht möglich, der Kongress bei Dauerregen nicht ganz so angenehm für die Besucher aus Nah und Fern. Dann spitzte sich die Lage zu, der Regen und das permanente Prasseln wollten nicht aufhören. Warnungen wurden ausgegeben, Vorsichtsmaßnahmen getroffen, Strategien für den Notfall überlegt. Das Wasser stieg immer mehr an, der Pegel der Gewässer wurde bedrohlich. Die Situation wurde stündlich dramatischer.

Am dritten Tag des großen Regens wollten wir eine Freundin von München abholen. Morgens wäre das noch problemlos möglich gewesen, allein sie versäumte den Flieger. So verbrachten wir das Wochenende damit zu warten und zuzuhören, wie die Lage immer prekärer wurde.

Am nächsten Tag zu Mittag hatte die Salzach den höchsten je gemessenen Pegelstand erreicht. Baumstämme tanzten wie Zahnstocher auf dem Fluss an den Augen des Betrachters vorbei, die Kaiwege waren von Strandgut übersät. Wenn die Stadt selbst auch vor größeren Katastrophen verschont blieb, so konnte man sich doch nur zu gut vorstellen, wie diese das Flussbett bis ganz oben hin ausfüllende und dahintobende Wassermenge in den umliegenden Gemeinden unglaublichen Schaden verursachen würde. Brücken wurden gesperrt, die Unterführungen abgeriegelt und vermeintlich selbstverständliche Verbindungen unterbrochen. Die Kanaldeckel verwandelten sich in Fontänen, die Straßen wurden zu Bächen, Keller und Tiefgaragen wurden überflutet.

Die auf 36 Stunden später vertagte Fahrt nach München war nicht mehr möglich. Mittlerweile war die Autobahn gesperrt und die Verkehrsstaus schier unendlich. Auf den gewohnten Wegen gab es kein Durchkommen mehr. Sinnlos, mitten in der Nacht jemanden abholen zu wollen, um gleich wieder die Rückreise durch das Chaos anzutreten. Also musste ein professioneller Transferservice gebucht werden, der über stete Funkverbindung die noch möglichen Schleichwege erfahren konnte. Was war das für ein Empfang am langen Ende der Reise! Ein durch Laternen beleuchteter Weg, da die Elektrizität durch das viele Wasser ausgefallen war.

Dabei war das alles eine recht harmlose Variante der großen Flut. Ein Bekannter berichtet aus Passau und Vilshofen. Die Städte waren nur mehr  Inseln in der Donau. Die Feuerwehr in Bayern hatte einen der größten Einsätze ihrer Geschichte. In 21 von 96 Landkreisen und Städten sei Katastrophenalarm ausgelöst worden. Die Feuerwehren seien mit 78 000 ehrenamtlichen Helfern über Tage, teils über Wochen an mehr als 25 000 Einsatzstellen im Einsatz gewesen und sicherten in mehr als 930 000 Einsatzstunden Dämme und retteten Menschen, füllten Hunderttausende von Sandsäcken und pumpten Tausende von Kellern und Tiefgaragen aus. In Salzburg forderte das Hochwasser drei Todesopfer, Muren rissen Menschen mit sich fort und richteten verheerende Verwüstungen an. Die Feuerwehr hatte 500 Einsätze in 14 Stunden zu bewältigen.

Ein anderer Freund wurde evakuiert. Von einem Moment auf den andren musste die Familie ihr Haus verlassen und sich bei Freunden einquartieren, da es zu riskant war, noch länger an der tosenden Saalach wohnen zu bleiben. Die Dämme hielten, und nach Tagen konnte man ins das Haus zurückkehren. Am Saalachspitz soll der Flusslauf jetzt verbreitert werden und der Saalach so im Falle eines Hochwassers Raum gegeben werden, um sich ausbreiten zu können.

Auch von unserem Ruderclub kamen erschreckende Bilder. Der Mondsee war völlig über die Ufer getreten. Der Mondseelauf wurde abgesagt, das Bootshaus in 50 m Entfernung vom Ufer stand unter Wasser. Die eleganten Boote mussten schnellstmöglich ins Trockene gebracht werden, wenn sie nicht in ihren Aufhängungen in Augenhöhe hingen. Die Veteranen des Clubs hatten niemals dergleichen erlebt. Keiner konnte sich erinnern, den Mondsee je so weit über die Ufer getreten gesehen zu haben. Das wöchentliche Training wurde abgesagt, See und Land waren ineinander übergegangen und keiner hätte gewusst, wo das Boot zu besteigen gewesen wäre.

„Panta rhei“ – „Alles fließt.“ Nichts bleibt gleich, alles verändert sich, das Gute wie das Schlechte. Die Situation hat sich beruhigt, das Ausmaß des Schadens ist für dieses Mal ermessbar. Die Hochwassermarkierungen sind gesetzt.

Aber wie wird es weitergehen? Wann kommt die nächste Katastrophe? Und wie soll man es durchsetzen, dass die Interessen der „Großen und Mächtigen“, wie des „Rhein-Main-Donaukanals“, der sich für eine noch weitergehende Begradigung der Flusssysteme einsetzt, nicht völlig mit den Bedürfnissen und dem Schutz des einzelnen Bürgers kollidiert, der sein Zuhause oder seine Lebensgrundlage durch solche Maßnahmen akut bedroht sieht? Wie viele werden die Mühsal des Wiederaufbaus auf sich nehmen, wie viele die Zelte abbrechen und in voraussichtlich sicherere Gefilde abziehen?

Denn letztendlich ist die Natur doch noch stärker als der Mensch.

Christina Hofer-Dückelmann, Juli 2013

Der Mensch und das Wasser

Eigentlich eine recht natürliche Kombination sollte man meinen. Der Mensch lebt mit dem Wasser im Gleichgewicht, welches in Sonderfällen kippt – wie bei einem Hochwasser – und erschreckende Konsequenzen mit sich zieht. Das Wasser sprudelt einem, im übertragenen Sinn, so heftig über den Kopf, dass man erst nach einer Weile durchatmen kann.

Das Hochwasser Anfang Juni ist so ein Beispiel, dessen Konsequenzen mich für eine kurze Weile weggespült hatten. Ich frage mich heute, in wie weit ich hilfsbereit sein sollte? Darf ich Hilfsbereitschaft bereuen? Und warum war ich überhaupt so hilfsbereit zu einem mir so fremden Menschen? Also eigentlich sollte dieser Essay besser heißen: „Dieser Mensch und dieses Wasser!“

Aber ich glaube, ich muss erst mal erzählen, wie es zu diesen Zweifeln überhaupt kam. An jenem Sonntagmorgen wachte ich von Straßenlärm au,f und weil es nach einer Stunde Weiterdösen nicht aufhören wollte, beschloss ich dann doch aufzustehen. Die Nachbarn und noch viele weitere Helfer füllten große Abfalleimer mit Wasser, das sie mit Eimern aus den Häusern trugen. Es lagen Feuerwehrschläuche auf der Straße, die mit Hochdruck Wasser von Kellern auf die Straße pumpten. Gerade hatte ich mich entschieden, mich anzuziehen und den Leuten im strömenden Regen zu helfen, da kam blitzartig die Angst in mir hoch, dass unser Keller im Haus auch betroffen sein könnte. Ich spurtete ins Treppenhaus und traute meinen Augen nicht. Wo ist unser Keller? Gestern Abend habe ich noch vorsorglich mein Fahrrad in den Keller geparkt, damit es nicht nass wird. Und heute versteckt sich der Keller ganz selbstverständlich im graubraunen Kanal-„Mischwasser“ als hätte es nie einen gegeben. Zweiter Schockmoment: Mir fällt auf, dass bei diesem hohen Wasserstand von über einem Meter doch eigentlich der Mieter der Kellerwohnung (ich hatte bislang nicht allzu viel mit ihm zu tun) sich schon längst hätte melden müssen. Zum Glück stellte sich später heraus, dass er über Nacht nicht zu Hause gewesen war. Das ganze Haus hat mit angepackt und Eimer getragen und die Nachbarn Schläuche und Pumpen verlegt. Erst zehn Stunden später war die Wohnung wieder begehbar… es bot sich uns ein katastrophaler Zustand. Daniel tat mir leid, es war alles wie erwartet kaputt, aufgeweicht oder verdreckt. Es roch stechend nach Kanalisation und feuchten Wänden. Alles Vertraute war plötzlich fremd, nichts wollte man mehr anfassen. Die Festplatte, alle Erinnerungen, Dokumente, Schuhe und Klamotten waren zerstört und wir halfen ihm es wegzuschmeißen.

So selbstverständlich, wie wir ihm halfen, war auch mein Angebot, er könne erstmal bei meinem Freund und mir übernachten und duschen – ich dachte da an ein oder zwei Nächte, wenn überhaupt. Plötzlich stand die Wohnung komplett voll mit seinem geretteten Hab und Gut. Das Wohnzimmer, ein Durchgangszimmer, war nun zu seinem geworden, mit Luftmatratze und PC-Ecke. Es ging drunter und drüber, aber noch machte es nichts aus, ihm zu helfen. Nach der fünften Waschmaschine Klamotten, die bei uns gewaschen hatte, war unser kleiner Lebensraum völlig unzugänglich. Nach kurzer Zeit stellte ich mit Erschrecken fest, wie wenig er seine Umwelt wahrnehmen kann, sehen kann, wie es uns dabei geht, so belagert zu werden. Zu echten Unterhaltungen kam es nicht, stattdessen hielt er nur endlos lange Monologe über seine eigene Herrlichkeit. Mich wundert es, wie ein Mensch so wenig Interesse am anderen zeigen und dabei so wenig Empathie aufbringen kann. Allmählich machte mich seine Anwesenheit immer wütender. Ich zweifelte an mir: Gibt es solche Menschen, die so wenig Feingefühl aufbringen, oder sind sie sich ihrer Bosheit vielleicht bewusst? Bin ich empfindlich? Nein, es kann nicht sein, dass jemand in meiner Wohnung bis drei Uhr morgens Computer spielt und sich dabei lautstark per Headset über künftige Spielzüge mit seinen Zocker-kollegen berät, ohne zu bemerken, dass mich das stören könnte. Ich stehe eigentlich schon für meine Bedürfnisse ein, doch in diesem Härtefall war ich sprachlos und fühlte mich wie gelähmt. Ich ging ihm großräumig aus dem Weg, mein Freund rettete so manche Situation. Nach über zwei Wochen zog Daniel endlich aus unserem Wohnzimmer aus, da die Gutachter seine eigene Wohnung wieder für beziehbar hielten. Ich hätte nie gedacht, dass er so lange da bleiben würde. Er hat ein ungutes Gefühl hinterlassen: Eine Unzufriedenheit mit seiner Person, mit seiner Invasion in unseren Lebensraum und eine Unzufriedenheit mit mir selbst, wie ich mit der Situation umgegangen bin. Es gibt nämlich auch ein zwischenmenschliches Gleichgewicht, eine Balance von Geben und Nehmen. Dabei hat mich seine erstaunliche Rücksichtslosigkeit tatsächlich aus der bahn werfen können.

Jetzt im Rückblick und mit dem nötigen Abstand frage ich mich, wie ich wieder mit einer solchen Situation umgehen würde. Heute kommt mir sogar lächerlich vor, in dieser misslichen Lage gewesen zu sein. Es ist verwunderlich, in welchen Situationen und Verstrickungen man sich plötzlich befinden kann. Mittlerweile kann ich sogar über die beiden Wochen im Juni und ihr Chaos lachen… und vor allem erst mal wieder durchatmen.

Eine Teilnehmerin

Salzburg – Sonne statt Schnürlregen

“Salzburg, na klar, kennt doch jeder – Festung, Fluss, Getreidegasse und natürlich der omnipräsente Mozart. Was – studieren kannst du da? Ach, dann ja bestimmt Musik, oder?“

So in etwa reagiert die Mehrheit der Menschen, mit denen ich über meine Wahlheimat Salzburg spreche. Sie haben die Stadt meist nur aus den Augen eines Touristen gesehen, eingereiht in eine nicht enden wollende multikulturelle, meist fernöstliche Menschenschlange, im Marsch durch die ewig gleichen Bahnen der Stadt; an den stets überfüllten Sehenswürdigkeiten vorbei, bei denen man sogar froh sein muss, wenn man deren wahre Schönheit überhaupt wahrnehmen kann – die heißeste Tipp hierfür: Sei ein durchschnittlich großgewachsener Europäer mit klarem Größenvorteil gegenüber den zahlenmäßig deutlich überlegenen Asiaten, ferner bedarf es dazu noch ein wenig Sonne statt Schnürlregen.

Aus der Sicht eines Vogels muss dieses Gewusel einer Ameisenstraße zum Verwechseln ähnlich sehen – lauter brave, sich vorarbeitende Arbeiter, die ihrer Königin hinterherlaufen – einer Königin, die sich in diesem besonderen Falle als ein musikalisches Wunderkind entpuppt. Dieser Superstar, diese unheimliche Berühmtheit hat der Stadt bereits vor langer Zeit zu einem Synonym verholfen – Salzburg als die weltberühmte Mozartstadt.

Diese Menschen, die leider nicht die Möglichkeit hatten, die vielgesichtige Stadt besser kennenzulernen, sind nicht selten erstaunt, wenn ich ihnen dann mein ganz persönliches Salzburger Leben schildere:

Vor mittlerweile fast fünf Jahre, war mein Motiv hierher zu kommen nicht Mozart, nicht Sound of Music oder irgendeine einzigartige Sehenswürdigkeit – nein, es war das studieren zu dürfen, was ich wollte – die Psychologie – und das in einer für mich nicht zu übertreffenden landschaftlichen Umgebung. Das Beste war für mich damals, dass ich dafür gerade mal zwei Zugstunden von Zuhause fahren musste!

Ich stehe frühmorgens auf, genieße ein hektisches Frühstück mit dem süchtig machenden Duft frisch gemahlener Kaffeebohnen in meiner Nase. Schwinge mich auf mein Fortbewegungsmittel Nummer eins, auf mein Fahrrad, und rase auf den Salzach-Fahrrad-Highway Richtung Downtown, den ich mit unzähligen anderen Drahtesel-Begeisterten teile. Das sind Menschen, die verstanden haben, wie man sich in dieser Stadt am schnellsten fortbewegt – vorausgesetzt, ihnen bedeutet der Zeitfaktor etwas. Die vielen anderen Salzburger Bürger hingegen stürzen sich augenscheinlich lieber in die Blechlawine rechts neben mir, die mit einem rekordverdächtigen Schneckentempo immer nur in eine Richtung rollt und dabei maximal Fußgängergeschwindigkeit erreicht. Ich frage mich jeden Tag aufs Neue – wie mächtig ist die Macht der Bequemlichkeit?

Ich düse weiter flussaufwärts in Richtung naturwissenschaftliche Fakultät im Süden Salzburgs und genieße die Freiheit eines Fahrradfahrers – die kleinen Wettrennen mit den vielen anderen Zuspätkommenden, den frischen Duft eines warmen Sommerregens, das Spiel der Schatten in einer Allee, das herrliche, unverwechselbare Knistern beim Durchbrechen einer unberührten Schneedecke und ganz besonders die Sicht auf die vertraute Bergwelt. Das sind Gefühle, dich ich liebe.

Nach knapp vier Kilometern habe ich meine Fakultät erreicht, wunderschön gelegen mit einem 360-Grad-Blick auf alles, was Salzburg zu bieten hat. Jedes Mal fällt es mir schwer, dieses warme Bild zurückzulassen und mich in die kontrastreichen kalten Räume eines x-beliebigen Hörsaals zu begeben. Meine Stimmung verbessert sich jedoch schlagartig, sobald ich von einer neuen spannenden psychologischen Theorie höre, die mich sofort fesselt. Ich bin dankbar für diesen vielseitigen theoretischen Input und tausche mich anschließend mit Freunden und Bekannten darüber aus. Nach Stunden andauernder Theorie kommt aber dann schließlich der Punkt, an dem mein Kopf raucht und streikt und nichts mehr aufnehmen kann. Ich merke, wie ich diese Passivität nicht mehr aushalte und wie mein Körper Aktivität einfordert. Zappelig und ungeduldig kann ich nur noch an das Eine denken: an diese fantastische paradiesische Natur direkt vor der Haustür, die nach mir ruft. Wenn es mein Zeitplan zulässt, erklimme ich direkt nach der Uni einen der vielen Salzburger Hausberge – entweder zu Fuß, mit dem Fahrrad oder mit Skiern, mal allein, mal zu zweit oder in einer Gruppe. Es ist ein unbeschreibliches, erhabenes und vor allem beglückendes Gefühl, auf einem Gipfel zu stehen nach vollbrachter Anstrengung. Ich kann den Raum in zwei Dimensionen wahrnehmen – vertikal sowie horizontal. Dort ganz oben und unter einem diese kleine weltbekannte Großstadt – jedes bekannte Fleckchen so scharf erkennbar, alle alltäglichen Orte und Wege so perfekt auf ein Blickfeld zusammengeschrumpft. Alles erscheint mir so nah und doch so fern. Durch diese körperliche Anstrengung in der Natur können mein Gehirn und ich perfekt abschalten, entspannen und neue Kräfte für den morgigen Tag sammeln. Ich bin mir sicher – ohne diese sportlichen Möglichkeiten, die mir die Salzburger Umgebung bietet, wäre ich ein nur halb so zufriedener Student.

Abends freue ich mich dann je nach Jahreszeit auf ein kühles Radler oder einen warmen Glühwein an einem vertrauten gemütlichen Ort in der Altstadt.

Seit fünf Jahren schaut so mein perfekter studentischer Alltag aus, und ich bin damit so zufrieden wie am ersten Tag. Ich bin glücklich hier studieren zu können – für mich ist Salzburg mehr Sonne als Schnürlregen!

Jan-Christof Bochnik

Studentenheime – günstig und gut?

Wenn man in Salzburg studiert, muss man sich wohl oder übel auch mit der Frage auseinandersetzen: Wo wohne ich? Man ist Student und hat nicht viel Geld: Das sind schon mal keine guten Voraussetzungen, um in Salzburg etwas zum Wohnen zu finden. Eine Option wäre ein Studentenheim.

Doch was kann man von einem Studentenheim in Salzburg erwarten? Ein Raum zum Kennenlernen, gemütliches Beisammensitzen, neue Freunde und billiges Wohnen? Sind Studentenheime noch das, was sie einmal waren?

Was waren Studentenheime bzw. was glaubt man, dass sie waren? In meiner Vorstellung waren Studentenheime seit jeher ein Treffpunkt, um neue Leute kennen zu lernen, gemeinsam zu essen und gemeinsam das Leben genießen. Eltern einer Freundin, die in dem gleichen Studentenheim wohnten, in dem ich jetzt lebe, erzählten es mir so. Damals war es für sie einfach DER Raum, um etwas zu unternehmen.

Doch als ich in dieses Heim kam, war davon nicht viel übrig. Mein erster Eindruck war: Leere Gänge, keine Studenten. Das Stiegenhaus sah kalt und grau aus, ich konnte wohl ahnen, warum sich hier keiner aufhielt. Es wirkte nicht sehr einladend. Deshalb waren auch all die Studenten, die ich eigentlich vor ihren Zimmern erwartete, drinnen, nämlich in ihren winzigen Zimmern, aus denen sie nur herauskamen, um sich etwas zu kochen. Doch ich finde, dass es noch schlimmer war, im Zimmer zu sitzen als in den leeren Gängen und Gemeinschaftsbereichen. Denn das Zimmer war, egal ob Doppel-oder Einzelzimmer, sehr beengt: Wenig Stauraum, wenig Platz und immer staubig, egal ob man jeden Tag staubwischte oder nicht. Mir war es draußen im Gemeinschaftsbereich etwas lieber, denn da kam ich mir weniger eingezwängt vor.

Je länger ich in dem Heim wohnte, desto mehr merkte ich, dass die Vorstellung, die ich mir gemacht hatte, sich so gar nicht bewahrheitete. Meine und ich Zimmerkollegin saßen zwar weder beim Essen noch beim Kaffeetrinken in unserem Zimmern. Doch dabei sahen wir kaum Mitbewohner; drei, vier Leute in anderen Stockwerken vielleicht.

Eine Heimbar, die alle zwei Wochen stattfand, war zumindest ein Treffpunkt in diesem Studentenheim, zu dem einige hinfanden. Doch auch diese Gelegenheit wurde von längst nicht allen Studenten des Hauses wahr genommen, obwohl alles zu günstigen Studentenpreisen angeboten wurde, nicht zuletzt auch Tischfußball und sogar Billard.

Natürlich muss das nicht so sein, in anderen Studentenheimen gibt es mit Sicherheit noch so etwas wie ein Gemeinschaftsleben, doch ob es entsteht, das kann vorher niemand genau sagen. Es hängt immer von den Studenten ab, die dort wohnen.

Es kann auch innerhalb der Häuser Unterschiede geben, wie es ein Beispiel eines anderen Heims zeigt. Im 3. Stock war die Gemeinschaftsküche leer, jeden Tag. Keine Leute, die gemeinsam saßen oder kochten. Nichts. Schaute man einen Stock höher, sah die Sache schon ganz anders aus. Eine wirkliche Gemeinschaftsküche. Gemeinsames Essen, gemeinsames Beisammensitzen und sogar Küchenpartys.

Man muss wohl ein Glück bei der Wahl seines Studentenheimes haben. In manchen ist es tatsächlich noch so, wie man es aus alten Geschichten gehört hat, in anderen findet man leere Gänge und bekommt keine anderen Studenten zu Gesicht.

Studentenheime bieten sich oft an, um günstig zu wohnen; manchmal geschieht dort auch genau das, was man erwartet, aber nur selten das, was man sich erhofft hat.

Madita Großbötzl

Essay – Studieren in Salzburg

Mittlerweile sind sie schon einige Semester her (wie viele genau, werde ich euch aber nicht verraten): meine ersten Schritte in Richtung Universität Salzburg. Meine Erinnerung hieran ist so fest eingebrannt, als wäre es erst gestern gewesen.

Schon während der Oberstufe war für mich klar, dass ich einmal studieren würde. Doch nach der Matura wollte ich erst mal gar nichts mehr lernen. Ich genoss die Maturareise in vollen Zügen, denn schließlich wartete gleich anschließend das Bundesheer darauf, daß ich dem Vaterland dienen würde. Als ich meinen Präsenzdienst im Jänner endlich absolviert hatte, machte ich mich über die Inskriptionsmodalitäten der Uni schlau. „So kompliziert wird‘s ja wohl nicht sein, bis Ende Februar hab ich Zeit zum Inskribieren, und dann werd ich mich für ein paar Kurse anmelden, nicht allzu viele, weil ich ja auch nebenbei arbeite“, dachte ich mir.

 

Die Zeit vergeht, Jänner, Februar… „Ach, das geht sich schon aus.“ Ende Februar fand ich schließlich den Weg zum zuständigen Büro. Aber was war denn da los? Eine lange Schlange von Studienanfängern bis auf die Straße heraus. Meine Trödelei begann sich anscheinend zu rächen. Endlich, nach elendslanger Wartezeit für die Studienrichtung ‚Recht und Wirtschaft‘ inskribiert, startete ich zu Hause hoch motiviert und erwartungsvoll meinen Computer, um mich für meine Kurse anzumelden. Leichter gedacht als getan, erster Kurs voll, zweiter Kurs weit überfüllt… Ihr werdet wohl ahnen, wie es weiter ging. „Das kann doch nicht sein, hätte ich mich doch schon eher um diese Dinge gekümmert! Hilft ja alles nichts, ich probiere einfach die Übung mit den kürzesten Warteliste aus, und den Rest füll ich mit Wahlfächern auf, mehr Zeit hab ich ja eigentlich ohnehin nicht.“

Rasch stand mein erster Uni Tag vor der Tür. Mittlerweile war ich in der Warteliste bereits auf einen hoffnungsvollen Platz 4 vorgerückt; die Chance, gerade noch in die Übung aufgenommen zu werden, war erheblich gestiegen. Es war zwar erst März, aber das Wetter war an diesem ersten Studientag schon fast sommerlich. Die Sonne strahlte so vom blauen Himmel, daß man keine Jacke mehr brauchte. Ich schwang mich auf mein Rad Richtung Uni, reichlich nervös, kette mein Fahrrad neben den anderen an und begebe mich auf die Suche nach dem Hörsaal 230. Mit meinem schweren Gepäck bestehend aus einem Block und einem Kugelschreiber stieg ich die steinerne Treppe, offenbar ehrwürdigem Marmor, in das Untergeschoss hinab. Zwei Eingangstüren, das ließ auf einen größeren Vorlesungssaal schließen. Ich wählte also die linke Tür und blickte geradeaus in den Raum: „Ohje, da sind aber schon einige. Wie viele Studenten werden da wohl hinein passen?“ Ich betrachtete die Bänke aus Holz, die stufenförmig nach unten führten. Vorne zwei große grüne Tafeln, in der Mitte projizierte der Beamer schon den Titel der Lehrveranstaltung auf die Leinwand: „Übung Allgemeines Vertragsrecht I“. Was wir da wohl lernen würden? Eigentlich suchte ich einen unauffälligen hinteren Platz, aber da waren schon alle Reihen gefüllt, also setzte ich mich in die Mitte, wo ich gerade noch einen Platz entdeckte. Endlich trat der Professor ein, ein etwas älterer Herr mit Anzug. Als er sogleich die Anwesenheitsliste durchging, hatte ich Glück, da doch einige nicht erschienen waren. So rutschte ich in der Warteliste auf und ergatterte den ersehnten Fixplatz.

 

Dieses Mal hatte ich also noch Glück gehabt, aber wahrscheinlich war gerade diese Erfahrung des hoffenden Wartens gleich zu Studienbeginn eine prägende Lehre für mich, denn von diesem Zeitpunkt an sitze ich immer pünktlich zur ersten Minute der Anmeldefrist aufmerksam vor dem Computer.

Andreas Reisinger

Uni-Sport ist easy… aber nur durch USI

Studieren, das heißt viel lesen, schreiben und lernen. Bei meinem Studienfach Kommunikationswissenschaft stellt das Lesen und Schreiben das Herzstück des Studiums dar, denn ich befinde mich nun am Ende des Masterstudiums und habe somit die Grundkenntnisse und Theorien der Kommunikationswissenschaft schon gelernt und mehrfach wiederholt. Da ich gerade an meiner Masterarbeit schreibe, verbringe ich fast jeden Tag in der Bibliothek, um unzählige wissenschaftliche Werke zu lesen und die wesentlichsten Informationen in meiner Arbeit zu vermerken. Bei dieser mentalen „Belastung“ benötigt man wiederum einen Ausgleich. Ich suche diesen durch sportliche Betätigung – genauer gesagt durch die Teilnahme an USI-Kursen.

Ob man für die persönliche Kondition und Fitness etwas tun möchte, präventiv und gesundheitsfördernd sportlich aktiv sein will, eher der spielorientierte Typ und Teamplayer ist oder am liebsten einfach nur in der freien Natur körperlich aktiv ist – mit dem Universitätssport ist für jeden etwas dabei und das zu wirklich günstigen Preisen. Zwischen 12 und 140 Euro sind jegliche Kurse und Leistungsstufen für die Studierenden buchbar, die meisten Sportkurse kosten in der Regel nur 18 Euro und das ein ganzes Semester lang.

Von Body Shape, Power Workout, Pilates, Taekwondo, Tennis hin zu Volleyball – so weit reicht meine Erfahrung im USI-Bereich. Wobei ich zum BORG im Nonntal, zum Annahof, zur Getreidegasse und zum Universitätssportgelände in Rif schon fast quer durch Salzburg geradelt bin, um diese Kurse zu besuchen und nochmals aktiv zu sein.

Bei diesen unterschiedlichen Standorten in Salzburg ist somit ein weitreichendes, flächendeckendes Sportnetzwerk geschaffen worden. Dennoch können die anderen Sportstätten mit dem Universitätssportgelände in Rif nicht mithalten. Die grüne, dörfliche Umgebung, die zahlreichen roten und blauen Tennisplätze, die sandigen Beachvolleyballplätze und das traumhafte Bergpanorama haben es mir sofort angetan! Bei dieser natürlichen Umgebung und ruhigen Kulisse konnte ich während des Sports am besten abschalten und den Schreibstress für ein paar Momente vergessen.

Gerade der derzeitige Volleyballkurs in Rif ist eindeutig mein Favorit, denn es passt einfach alles – die sympathischen Mitspielerinnen, das hohe Niveau im Team und der regelrechte Spaßfaktor während des Spiels!

Die erhitzten Füße versinken im kühlen, feinen Sand. Die letzten warmen Sonnenstrahlen des Tages tauchen die Umgebung in Gold ein und nehmen mir gleichzeitig die Sicht. Die Luft ist noch lau, kein Wind bläst. Die Berge schimmern in einem wunderschönen weiß-blauen Farbton und ragen hoch in den klarblauen Himmel empor. Ich nehme den ledernen Ball, werfe ihn ein paar Meter in die Höhe, blicke einen Augenblick in die grelle Sonne und muss blinzeln, um den Ball sehen zu können. Ich strecke meinen rechten Arm nach hinten und schlage den Ball mit der festumschlossenen Faust und einer solchen Wucht nach vorn, dass dieser in Windeseile an meinen Mitspielerinnen vorbeisaust. Der Ball fliegt über das festgespannte Netz ins gegnerische Feld und wird von einer Kontrahentin spielerisch leicht angenommen. Das Spiel hat begonnen. Jetzt heißt es volle Konzentration! Mit jedem Schlag auf den Ball fühle ich, wie mein Körper sich mehr und mehr entspannt und der Stress Stück für Stück abfällt. Am Ende der Kurseinheit fühle ich mich zwar ziemlich ausgepowert, doch zufrieden. Ich habe nun zu meiner inneren Mitte gefunden. Gerade solche Momente machen das sportliche Erlebnis noch schöner und beflügeln mich, diesen Sport immer wieder auszuüben.

Meine USI-Karriere ist mit diesem Semester leider zu Ende, da ich mein Studium demnächst abschließen werde. Eines ist jedoch gewiss – meine Neugier auf neue Sportarten wurde geweckt!Den Halbmarathonlaufen, Kajakfahren, Squash und vieles mehr – das Abenteuer Sport kann weiter gehen!

Stefanie Spitzendobler

Studieren in Salzburg

Wenn man schon doppelt so alt wie die meisten Studenten ist und nach Jahren an die Universität – noch dazu zum ersten Mal in der eigenen Heimatstadt –  zurückkehrt, ist das eine ganz eigen Sache.

Ich erlebe Salzburg nach wie vor und noch immer und immer wieder aufs Neue als wunderschöne Stadt, und am Morgen ohne die Hektik des Berufsalltags mit dem Fahrrad über Residenz- und Kapitelplatz in die Kaigasse zu fahren und in einem geschichtsträchtigen Gebäude in ein Seminar mit einer Handvoll Kommilitonen zu gehen: das erscheint mir als wahrer Luxus. Man trifft sich, um gemeinsam zu denken und zu philosophieren. Ich frage mich, ob das wohl repräsentativ ist oder ob ich nur mit der Auswahl meiner Fächer Glück gehabt habe.

Ein bis zum letzten Platz gefüllter Hörsaal, ein Chemielabor im Anschluss, alles schäbig und kurz vor der Schließung des Institutes, ein verschultes Curriculum – das sind meine Erinnerungen an mein Pharmaziestudium vor vielen Jahren in München. Mein Aufbaustudium in Schottland war sehr praktisch orientiert und spielte sich vor allem in Krankenhäusern ab, sodass es nicht wirklich mit dem Studieren eines geisteswissenschaftlichen Faches vergleichbar ist. Und auch mein Dissertationsstudium mit seinen gedrängten Vorlesungen zwischen Salzburg und Wien, wo wir uns an die Auswertung der Blutproben machten, um die Nächte in Salzburg mit dem Zusammenschreiben zuzubringen, entspricht nicht meinen eigentlichen Vorstellungen vom Studieren.

Ganz anders mein spätes Studium in Salzburg. Von Anfang an war alles sehr persönlich, die Inskription, die Absprache der Kurse mit den Zuständigen in den verschiedenen Instituten, die Kurse selbst. Liegt es daran, dass alles nur ein kurzer Ausnahmezustand von ein paar Monaten sein darf und ich deswegen ganz bewusst auswähle, um es ebenso bewußt zu genießen?

Als neuer alter Student muss man sich erst wieder im System zurechtfinden. Wo bekomme ich meine Informationen? Wie kann ich hier Bücher ausleihen? An welchem der vielen Standorte verschiedener Institute sind sie zu finden? Die einen sind selbst mitzunehmen, auf die anderen muss gewartet werden.

Alles ist im Computer ersichtlich. Das Ausleihen und Vorbestellen der Bücher erfolgt per Computer. Man immatrikuliert auch per Computer, man hat seine ID im Computer, das „blackboard“ und die Emailadresse halten einen auf dem Laufenden. Die Studenten haben ihre „smartphones“ stets bereit und sind jederzeit erreichbar und online.

Ich kann nicht beurteilen, wie das Studentenleben in Salzburg so ist, wo und wie man in dieser Stadt lebt und isst und sich vergnügt, wenn man Anfang 20 ist, da ich neben dem Studium mein gewohntes Leben fortsetze, in dem viele Entscheidungen schon gefallen sind. Aber es ist schön, wieder mit den so viel Jüngeren zusammenzukommen, sich vorzustellen, wie sie noch so vieles vor sich und zu entscheiden haben; frei sind und die Gelegenheiten, die sich bieten, problemlos ergreifen können. Auslandssemester, Jobangebote, neue Beziehungen, alles scheint noch offen zu sein. Aber eben auch erlebt werden zu müssen …

In Salzburg als junger Mensch zu studieren stelle ich mir schön vor, weil alles nahe beieinander liegt. Man braucht kein Auto, alles ist mit dem Fahrrad zu erreichen. Es muss sehr reizvoll sein, hier neu herzukommen und alles für sich zu entdecken. Ob und wie einfach oder schwer ein finanzierbares und hübsches Quartier für einen Studenten aufzutreiben ist, lässt sich für mich, die ich ja in dieser Stadt aufgewachsen und im Beruf zu leben gewohnt bin, nicht beurteilen. Inwieweit braucht und findet man einen Zusatzjob, um sein Studium zu finanzieren oder sich etwas mehr leisten zu können? Ich habe aber den Eindruck, dass zumindest meine Kommilitonen ganz gut zurechtkommen.

Es scheint sehr nette Kollegen zu geben, nicht in so überwiegender Zahl wie in großen Universitätsstädten mit allen nur erdenklichen Studienrichtungen, aber doch genügend. Die Lehrenden sind den Studenten sehr nahe und immer für ein Gespräch zu haben. Natürlich, mein Altersunterschied zu ihnen ist jetzt auch ein anderer. Ähnlich wie in meinem Studium in München bin ich von Deutschen umgeben – hier hat sich mit der EU wohl einiges verändert.

Ist die Stadt interessant und abwechslungsreich, wenn man jung ist und alles ausprobieren möchte? Oder viel zu eng, teuer und borniert? Die Sportler werden sich wohl fühlen, denn Berge, Seen und die Natur überhaupt sind nie weit weg. Kunst- und Kulturinteressierte werden auch auf ihre Rechnung kommen. Und die wirklichen Großstadtmenschen werden sich hoffentlich nie für eine kleine Stadt wie Salzburg entscheiden.

Christina Hofer-Dückelmann, Juni 2013

 

 

La vie est belle… auch abseits des französischen Mainstreams?

Reisen, das bedeutet für mich weniger bestimmte Sehenswürdigkeiten abzuklappern, nur um dann meiner Familie, meinen Freunden und Bekannten eine Masse an Fotografien zu zeigen, zu denen man oft kaum einen Bezug hat. Für mich machen das Flair, der Moment und somit auch das Einatmen der Lebensweise des Landes die ideale Art des Reisens aus. Am schönsten ist es dazu noch, wenn ich Menschen kennen lerne und somit in die reale Welt der dortigen Umgebung eintauchen kann und dabei nicht in einer touristisch verkitschten Atmosphäre verharre.

Meine letzte Reise ging nach Frankreich – ein europäisches Land, das ich besonders gerne besuche. Da ich schon einmal ein paar Tage in Frankreich verbracht habe, aber noch nie abseits von Paris, beschloss ich, die Normandie mit zwei Freundinnen zu erkunden.

Donnerstag, 17:30 Uhr – Flughafen München

Der eigentliche Anlass, sich in den Flieger von München nach Paris zu setzen und von dort aus weiter mit dem Zug in die Normandie zu reisen, war die eine Freundin. Sie war dort in einem kleinen idyllischen Ort gerade als Lehrassistentin für französische Gymnasien tätig, um den Schülern spielerisch die deutsche Kultur näher zu bringen.

Donnerstag – 22:00 Uhr – Paris, Montmartre

Als wir am Abend in Paris gelandet waren, haben wir uns sofort in das Nachtleben begeben: Unser Hostel lag mitten im Zentrum des nächtlichen Trubels von Paris – natürlich in Montmartre, dem wunderschönen Künstlerviertel der Stadt. In einer kleinen gemütlichen Bar namens „La fourmi“ – auf Deutsch „Die Ameise“ – knüpften wir auch schon erste Bekanntschaften. Obwohl Ivo und Jules direkt in Paris wohnten und arbeiteten, stammte der eine aus Korsika und der andere aus den Bergen Frankreichs. Ich glaube aus den Vogesen, wo die Quelle des teuren Mineralwassers Evian liegt.

Die Nacht war lang und voller philosophischer Gespräche – der Alkohol trug auch ein kleines bisschen zur Stimmung bei. Als wir um fünf Uhr mit der ersten und erstaunlich überfüllten Metro wieder in unser Hostel zurückkehrten, fiel es uns schwer keinen Radau zu machen; schließlich wollten wir die, uns eigentlich ganz unbekannte, Zimmergenossin nicht aufwecken. Nachdem sie sich zuerst geregt hatte, schien sie sich dann doch nicht von unserer beschwingten Laune aus dem Schlaf reißen zu lassen: Gott sei Dank!

Freitag – 10:00 Uhr – Paris, Montmartre

Kaum hatte ich die Augen geschlossen, läutete schon wieder unser Wecker, und wir hatten nur noch eine Stunde Zeit bis zum Auschecken. Ich hätte am liebsten einfach nur weitergeschlafen, da ich solch starke Kopfschmerzen von der kurzen Nacht hatte und mir auf den Beinen noch etwas schwindlig war. Noch entkräftet entschlossen meine Freundin und ich uns, die Treppe zur Rezeption hinunter zu stapfen, um eine weitere Nacht zu buchen, nur um noch etwas länger zu schlafen. Das Glück lag jedoch nicht auf unserer Seite – alle Zimmer waren ausgebucht. Natürlich, es war ja Freitag. Ich hätte laut losschreien und fluchen können, jedoch war ich einfach zu müde für einen solchen Wutausbruch. Außerdem hätte dies auch recht unreif gewirkt. Sichtlich enttäuscht gingen wir in unser Zimmer zurück, packten und verließen das Hostel.

Zuerst beschlossen wir, uns mit einem kräftigen Pizzaessen zu stärken und noch eine kleine Weile in Montmartre zu schlendern – bevor wir uns nach L’Aigle, dem kleinen Örtchen 142 km westlich von Paris, aufmachten. In den schmalen Gassen kamen wir an hübschen kleinen Restaurants und Straßencafés vorbei und stöberten in einem bunten und vollgestopften Second Hand Shop. Ich fand dort ein schickes, schwarz-rot gemustertes Kleid aus Satin, welches mir wie angegossen stand. Mit diesem Erfolgserlebnis fühlte ich mich mit Paris noch mehr verbunden als bei meiner ersten Reise in diese Stadt.

Von den vielen Eindrücken noch benommen, hatten wir keine bessere Idee als unglaubliche zwei Stunden in einem heruntergekommenen und schmutzigen Fast-Food-Restaurant namens „Quick“ zu verbringen. Sinnvoll war das Herumlungern in dieser versifften Bude nicht gerade, wie wir dann einsehen mussten. Also kehrten wir wieder in unser Hostel zurück, buchten noch eine Nacht für den Sonntag und schlenderten zum Bahnhof, um endlich in die Normandie zu reisen.

Nach anstrengenden 2 Stunden in einem überfüllten Zug von Paris nach L’Aigle kehrten wir schließlich im riesigen und zugleich auch verlassen wirkenden Appartement unserer Freundin ein. Sie wohnte dort ganz allein, obwohl es für noch zwei weitere Lehrer gedacht gewesen wäre. Sie empfing uns mit einer schlechten Nachricht, die uns zunächst frösteln ließ, nämlich dass die Heizung an diesem Herbstwochenende nicht funktioniere. Es gelang uns aber, indem wir uns in flauschige Decken wickelten und Unmengen an heißem Tee tranken, der Kälte zu trotzen. Nach einer französischen „Brotzeit“ – frisches Baguette, Frischkäse aus Ziegenmilch und buntgemischter Blattsalat – sahen wir uns noch französisches Reality-TV an, bis uns die Müdigkeit übermannte.

Samstag – 11:00 Uhr – Étretat und L‘Aigle

Am nächsten Tag besichtigen wir das raue Meer in Étretat. Während der langen Autofahrt dorthin machten wir einen kurzen Halt in Lisieux, der zweitgrößten Pilgerstadt in Frankreich. Die beeindruckende, im neobyzantinischen Stil gehaltene Basilika stimmte uns friedlich und hinterließ große Bewunderung für diese Architektur.

Als wir den Strand erreichten, war ich fasziniert von der Kraft des gewaltigen Atlantik. Obwohl das Wetter alles andere als warm und heiter war – immerhin war es Mitte November – ließ ich mich von den großen, tosenden Wellen und dem kiesigen Strand in eine andere Welt tragen. Das schwappende Geräusch der ankommenden dunkelblauen Wellen beruhigte mich auf Anhieb. Ich fand ebenso Gefallen an den glatten, runden Steinen, welche es in den verschiedensten Grau- und Brauntönen gab. Sie fühlten sich in der Hand sehr schmeichelhaft an, aber wollte man auf ihnen den Strand entlangwandern, sank man mit den Füßen in dieses steinerne Meer regelrecht ein. Als Andenken nahm ich eine Hand voll von diesen so unberechenbaren und zugleich wunderschönen Kostbarkeiten mit.

Am Abend begaben wir uns wiederum ins französische Nachtleben – diesmal jedoch in einem kleinen knapp 8.000 Einwohner umfassenden Seelenort namens L’Aigle, was übersetzt „der Adler“ bedeutet. Als wir die einzige wirkliche abendliche Bar der Kleinstadt besuchten, kannten wir noch niemanden. Nach kurzer Zeit jedoch begannen uns die Einheimischen einer nach dem anderen anzusprechen: Einer zeigte uns verblüffende Zaubertricks, ein weiterer machte uns, kaum hatte er unsere Sprache gehört, sogleich mit seiner Freundin bekannt, die ganz zufällig aus Salzburg stammte wie wir. Mit dieser witzigen Truppe gingen wir schließlich, als die Bar um Mitternacht schließen wollte, in den einzigen Club im Ort – ins „Le Moulin“ – die Mühle.

Sonntag – 12:00 Uhr – L’Aigle

Nach einer heiteren, wenn auch ungewöhnlichen Nacht in dieser kleinen Stadt verbrachten wir den nächsten Tag damit, die Ortschaft mit den historischen Gedenkstätten aus dem zweiten Weltkrieg und den kleinen geschwungenen Gassen noch ein wenig zu erkunden. Am Abend kehrten wir wieder nach Paris in unser Hostel zurück und verbrachten den letzten Abend wiederum in der Bar „La Fourmi“. An diesem Sonntag war kaum etwas los. Als wir uns gerade wieder auf den Weg machen wollten, winkte uns ein bärtiger Mann zu. Wir winkten zurück, und drei Männer kamen an unseren Tisch. Diesmal waren es kanadische Künstler aus Montréal, die mit ihrer Indie-Band namens „Canailles“– auf Deutsch „Schurken“ – auf Europa-Tournee waren. Ich unterhielt mich mit dem Bärtigen, obwohl er recht schwer zu verstehen war, denn sein Französisch hatte für meinen Geschmack einen zu starken amerikanischen Einschlag. Als wir um ein Uhr die Bar verlassen mussten, kehrten wir in unser Hostel zurück, wo auch die Bandmitglieder nächtigten. Im Aufenthaltsraum zeigten sie uns noch viele verblüffende Kartenzaubertricks, die wir einfach nicht entschlüsseln konnten.

Montag – 10:00 Uhr – Paris, Montmartre und München

Die letzte Nacht war wiederum kurz. Meine Freundin, die Lehrassistentin, musste nach L’Aigle zurückkehren. Und meine andere Freundin und ich konnten auch nicht mehr lange in Paris bleiben. Bei einem selbst zusammengestellten Mittagessen aus dem Supermarkt – erfrischender Couscoussalat, frisches Baguette und in Öl marinierte Oliven mit Schafskäse –  ließen wir unter dem monströsen Eiffelturm unseren aktiven Kurztrip gemütlich ausklingen. Gegen 22:00 Uhr kamen wir dann im verschneiten und eisigen München an. Beim Anblick der dicken Schneeflocken wünschte ich mich wieder in die Normandie zurück. Doch ich freute mich schon riesig darauf, meinen Liebsten wiederzusehen, weswegen ich übers Heimkommen doch sehr glücklich war.

Auch wenn diese Reise kurz und auch sehr anstrengend war, war sie authentisch wie keine zuvor. Dass man in so kurzer Zeit so viele Menschen aus den unterschiedlichsten Gegenden wirklich kennenlernen kann, habe ich nie wieder erlebt. Dies macht mir die Reise unvergesslich. Von diesen Erlebnissen werde ich immer wieder Neues erzählen können.

Stefanie Spitzendobler

 

Verona – eine Stadt für Verliebte, Genießer und Geschichtsinteressierte?

Verona – eine Stadt für Verliebte, Genießer und Geschichtsinteressierte?„Romeo und Julia“ oder einfach ein Balkon für Touristen?

Obwohl die Stadt nur wenige Stunden von der Heimat entfernt ist, hat man schon bei der Ankunft das Gefühl, ganz woanders zu sein. Der italienische Charme der Stadt ist auch beim Bahnhof schon präsent. Ein paar Straßen weiter, und die typischen kleinen italienischen und romantischen Gassen häufen sich, und nichts lässt einen daran denken, dass man vor 4 Stunden noch in Innsbruck war. Auf dem Weg in die Stadt, zur Arena, geht man auf kleinen, kopfsteingepflasterten Gehwegen, vorbei an kleinen einzelnen Boutiquen, Cafes und Restaurants. Gemütlich. Der große Platz vor der Arena ist zwar mit Menschen gefüllt, aber nicht überfüllt. Italienisch – das einzige Wort, welches diesen Anblick beschreiben kann. Italienisch: Kaffeetassen klappern, der Geruch von Pizza, überall Menschen mit den leckersten Eistüten in der Hand, im Hintergrund italienische Wortfetzen, Leichtigkeit. Geht man weiter, einer Einkaufsstraße entlang, kommt man immer mehr ins Innere der Stadt. Die Gassen werden noch kleiner und noch italienischer und noch romantischer. Weitere viele kleine Cafes. Man kommt an zahlreichen historisch interessanten Bauten vorbei- von einer wunderschönen Brücke, über Gräber von den damaligen Herrschern, bis hin zu einem italienischen Garten, wo auch schon Goethe  so manche Inspiration bekam. Beeindruckende Architektur. Und schließlich DER  Balkon. Der Balkon von Julia. Enttäuschend. Der ganze Innenhof von Touristen vollgestopft, und alles, was man sieht, ist ein Balkon. Was erwartet man auch von einem Balkon, der nur für Shakespears Drama lebt und dafür gebaut wurde? Es ist ein Balkon, wie es jeder sein kann. Aus hellem Stein und Mustern. Darunter eine Julia-Figur, deren Brust man berühren soll, um Glück in der Liebe zu bekommen. Sehr touristisch. Nicht der Balkon macht Verona eine Stadt für Verliebte, sondern das italienische Lebensgefühl, die italienischen, romantischen Gassen und die vielen kleinen Cafes.

Im Großen und Ganzen ist Verona wirklich all das, was es sein soll: eine Stadt für Verliebte, Genießer und für Geschichtsinteressierte. Wer glaubt, Julias Balkon macht aus Verona eine Besonderheit, der irrt. Das Lebensgefühl und der italienische Charme sind es.

Madita Großbötzl

Ein Hund geht auf Reisen

In diesem Winter nahmen mich meine Hundeeltern auf eine Wochenendreise nach Prag mit. Mein Name ist Merlin Holberg, ich bin ein Golden Retriever und etwas mehr als zwei Jahre alt. Ich bin schon recht viel herumgekommen: Nach Deutschland, Italien und Frankreich, in Prag aber war ich noch nie zuvor gewesen.

Die Anreise war recht unkompliziert. Ich musste nicht all zu lange in meinem Reiseabteil im Kofferraum verbringen, dazwischen gab es eine sehr angenehme Pause an einem Rastplatz, der direkt an ein Feld voller Wohlgerüche angrenzte. Ich war sehr damit beschäftigt, die Duftspuren zu verfolgen.

Im Hotel wurden wir sehr freundlich aufgenommen, und die Rezeptionistin war ganz begeistert von mir. Ich bekam viele Streicheleinheiten und Komplimente. Die Einrichtung war sehr geschmackvoll und passte in ihrer Farbzusammenstellung mit ihren Braun- und Orangetönen ausgezeichnet zu meinem Fell.

Bald nach unserer Ankunft durfte ich einen kleinen Erleichterungsspaziergang zu einer Burg in der Nähe machen. „Hradschin“ heißt sie wohl. Da gab es endlich genug grüne Flächen für mich, und ich konnte mich ordentlich austoben. Dann wurde ich aber wieder angeleint und musste brav bei Fuß durch die Stadt spazieren. Es gefiel mir aber gut, was ich zu sehen bekam, und die vielen ungewohnten Gerüche beschäftigten mich sehr. Als äußerst angenehm empfand ich auch die Temperatur, mir war gar nicht heiß in meinem Pelz, und so bedauerte ich es eigentlich, dass wir schon bald in ein Cafe´ einkehrten. Dort musste ich wieder unter dem Tisch liegen mit dem Geruch von Prager Schinken in der Nase, ohne auch nur ein Stückchen abzubekommen.

An einem großen Fluss entlang gingen wir später zurück. Schnee liebe ich, ich kann mich wälzen und abkühlen und säubern und fühle mich pudelwohl – soweit das für einen Golden Retriever möglich ist! Es dauerte nicht lange, bis ich einen anderen Hund entdeckte, den ich gern begrüßen wollte. Obwohl er am anderen Ende des Parks umherschnupperte, konnte ich nicht anders, als sofort zu ihm hinzurennen. Wie zu erwarten ließ ich meine Hundeeltern mit lautem Geschrei zurück, schließlich wollten sie ja, dass ich sofort zu ihnen zurückkehren sollte. – Aber war ich heute nicht schon brav genug gewesen? Jetzt stand mir wirklich eine Runde Spielen zu! „Kennst Du die Parks oberhalb der Stadt?“ Ich mußte verneinen, da waren wir noch nicht gewesen. Viel zu schnell wurde ich wieder eingefangen, aber immerhin hatte ich kurz das Vergnügen gehabt. Ich glaube meine Eltern wären gerne in dieses Museum am Kampapark gegangen, aber da ich nicht willkommen war (dieses Schild kenne ich inzwischen selbst), sind sie draußen bei mir geblieben. Wir spazierten ins Hotel zurück, ich bekam meinen Napf Futter und eine kleine Verdauungspause. Anscheinend hatten aber auch meine Hundeeltern Hunger, und wir brachen bald wieder auf.

Der Weg war mir inzwischen schon bekannt, es ging den Berg hinunter zu dem gossen Fluss. Leider durfte ich nicht wie erhofft in den Park abbiegen. Stattdessen steuerten wir ein Restaurant an und bekamen einen Tisch in einem Riesenraum mit vielen Kerzen, in dem wir ganz alleine waren. Wahrscheinlich war  es mir zu verdanken, dass wir so exklusiv platziert wurden. Ich konnte mich vor den Schmeicheleien der Kellnerin, die auch nach Kollege roch, kaum retten, sie fand mich ganz großartig. Was da so aufgetragen wurde, roch köstlich, aber ich bekam nur die übliche Schlüssel Wasser, die mich ohne Einlage noch nie interessiert hat.

Am nächsten Tag ging es vom Hotel in eine ganz andere Richtung, bergauf bis zu der großen Burg. Allen außer mir schien kalt zu sein. Meine Hundeeltern benahmen sich merkwürdig: Immer wieder verschwand einer von ihnen in einem Gebäude, während der andere bei mir in der angenehmen Kälte stehenblieb. Warum durften wir nicht einfach zusammenbleiben? Für mich war das nicht so schlimm, weil genug Leute da waren, die mich bewundern, fotografieren und streicheln wollten. Ich verstand sie nicht immer, aber das war nicht so wichtig, denn sie waren alle recht freundlich. Nur hin und wieder kam eine kleine Gruppe von Männern in eigenartigem Schritt und komischer Kostümierung, die streng dreinschauten, sodass ich mich dann lieber in der Nähe meiner Hundeeltern versteckte. Viele Bekanntschaften habe ich nicht geschlossen, nur ein paar sehr kleine Artgenossen waren hin und wieder zu sehen. „Wir werden in den Taschen mit hineingenommen!“ Na ja, das kam für mich wohl nicht in Frage! Es ist Jahre her, dass ich im Korb durch Verona getragen wurde.

Nach geraumer Zeit hatten meine Hundeeltern wohl genug gesehen, und wir verließen den Burgberg. Es ging wieder durch kleine Gassen und Straßen, bis wir zu einem schummrig beleuchteten kleinen Restaurant gelangten, wo es allerdings nicht so ganz nach meinem Geschmack roch. Die Pause tat allerdings auch mir gut, und ich genoss die Ruhe und die angenehme Atmosphäre. Danach kreuzten wir den Fluss – die Brücke war aber weit oberhalb des  Wassers gelegen, sodass an Schwimmen nicht zu denken war. Auf der anderen Seite herrschte reges Treiben, viele Menschen, wenig Hunde, hell erleuchtete Geschäfte im Abendschein. Sehr oft entdeckte ich bunte Puppen an Fäden in den Fenstern, die wahrscheinlich auch für mich sehr nett zum Spielen gewesen wären. Es fiel mir auch auf, dass es besonders oft ganz viel Licht und Gefunkel in den Läden gab und die Leute da drinnen die Köpfe nach oben streckten. Nachdem man mich reichlich lange an der Leine hier- und dorthin gezerrt hatte, war ich ganz froh, als wir endlich in unser Hotel zurückkehrten, damit ich mich satt essen konnte.

Von den Diskussionen nach der Reise ist mir in Erinnerung geblieben, dass wir bald wiederkommen werden. Anscheinend hat es den Hundeeltern dort gut gefallen. Auch ich habe nichts dagegen, die erwähnten Parks näher zu entdecken. Bevor wir die Stadt verließen, schnappte ich ein noch etwas auf: „Prag lässt nicht los. Dieses Mütterchen hat Krallen (Kafka).“

Christina Hofer-Dückelmann

Kurztrip New York

Ich blicke auf mein Handy, und jedes Mal werden wieder Gedanken und Emotionen geweckt. Auf dem Hintergrundbild strahlen die zahlreichen Reklametafeln und die riesigen Menschenmassen, die den Times Square, egal zu welcher Tageszeit, beleben. Wenn ich so zurückdenke, bin ich sehr froh, letztes Jahr die Amerikareise mit meinem Bruder und Vater noch um ein paar Tage verlängert zu haben, um ein bisschen am Big Apple der Ostküste Amerikas zu knabbern.

Leider hatte ich nur etwas mehr als drei Tage zur Verfügung, um das niemals schlafende New York zu erkunden. Ich musste also eine Auswahl treffen, was mir nicht leicht fiel. Als Unterkunft wählte ich ein eher kleines, günstiges Hotel an der Upper West Side, das Zimmer war winzig und das Bad am Gang, aber das machte ja nichts, schließlich wollte ich dort nur schlafen, worauf ich mich bei der Ankunft auch schon gewissermaßen freute.

Am ersten Tag startete ich gleich zeitig in der Früh in Richtung Haltestelle der berühmten silberfarbigen New Yorker Subway an der 103rd Street, Ecke Broadway. Besonders charakteristisch für New York sind die zahlreichen duftenden Snack Shops, welche sich wahrscheinlich an jeder zweiten Ecke befinden. Da konnte ich nicht widerstehen und kaufte mir ein paar frisch gebackene Bagels gefüllt mit Ham and Eggs, sozusagen ein typisch amerikanisches Breakfast. Nach einer halbstündigen Fahrt befand ich mich ganz im Süden Manhattans, im Battery Park, um sogleich die Freiheitsstatue vom Ufer aus zu bestaunen. Wahnsinn, dachte ich, genau wie in den zahlreichen Filmen, die hier gedreht wurden, echt beeindruckend. Aus Zeitgründen aber beschloss ich, es bei einem Blick und Foto aus der Ferne zu belassen. Um möglichst viel zu sehen und die Atmosphäre wahrzunehmen, hatte ich mir vorgenommen, mich zu Fuß entlang des Broadways in Richtung Norden vorzuarbeiten. Die schachbrettartige Anordnung der New Yorker Straßen erleichtert die Orientierung immens. Man findet sich eigentlich sofort zurecht, gar nicht vergleichbar mit den Städten in Österreich. Beim Spazieren durch den Financial District bestaunte ich unter anderem die berühmte New York Stock Exchange, die Federal Hall und Büros zahlreicher Finanzunternehmen und Anwaltskanzleien. Alle wichtigen Gebäude werden hier von der Polizei bewacht. Es heißt ja, man glaubt es kaum, dass eigentlich fast jeder Schritt der Passanten auf den Straßen durch Videokameras überwacht wird. Aufgrund der vergangenen Vorfälle und der relativ hohen Terrorgefahr eigentlich verständlich, oder doch übertrieben – ich war unschlüssig.

Weiter lief ich mit kleinen Abstechern durch China Town und Little Italy. Faszinierend, dachte ich mir: wüsste ich nicht, dass ich in New York bin, glaubte ich mich tatsächlich in China oder Italien. Da ich auch noch ein paar Geschenke für die Freunde zu Hause besorgen wollte, machte ich mich auch gleich auf die Suche, aber ich fand eine solche Vielfalt an Geschäften, dass ich mich kaum für eines entscheiden konnte. Gegen Abend brannten meine Füße schon sehr, aber als ich die riesige Menschenmasse am leuchtenden Times Square erblickte, vergaß ich Schmerzen und Müdigkeit. Mir wurde klar, daß an Schlaf noch lange nicht zu denken war. Ungefähr in diesem Augenblick entstand auch das Foto, das ich später als Hintergrundbild für mein Handy auswählen sollte. Ich konnte meinen Augen kaum glauben, als ich plötzlich einen eigenen M&M Shop entdeckte: dort musste ich hineingehen. Drinnen angelangt entdeckte ich M&M Accessoires auf zwei Stockwerken, M&Ms nach Farben in meterhohen Säulen sortiert. Und, als wäre das noch nicht genug, setzte auch noch laute Musik ein, zu der die Mitarbeiter und Besucher wie wild zu tanzen begannen. Mit einem Mal befand ich mich in einer Disco, echt crazy.

Die Erinnerung an die frisch gebackenen Bagel des vorigen Tages führte mich wieder zum ersten Bagel-Geschäft zurück. Diesmal reichte die Schlange an der Kassa fast bis nach draußen. Als ich endlich die warmen Bagels ergattert hatte, machte ich mich auf den Weg in den Central Park, um dort mein Frühstück zu genießen. Hier kann man sich entspannen, den Leuten beim Joggen zusehen, und überall hüpfen kleine braune Eichkätzchen umher, die einem fast aus der Hand fressen.

Die Riesenmetropole aus der Vogelperspektive zu betrachten gehört zum Pflichtprogramm eines jeden New York-Reisenden. Am liebsten hätte ich ja einen Hubschrauberrundflug gemacht, aber das ließ mein Budget leider nicht zu, also suchte ich nach einer Alternative. Um auf das höchste Gebäude New Yorks, dem 381 Meter hohen Empire State Building zu gelangen, hätte ich mich einen halben Tag in die Schlange stellen müssen. Deshalb fiel meine wahl auf das etwas nördlicher liegende Rockefeller Center. In weniger als einer Minute gelangte ich nach einer aufregenden Liftfahrt mit Lichtspielen und Musik in 260 Meter Höhe, ungefähr auf Augenhöhe mit den anderen Hochhäusern in Midtown Manhatten. Auf drei verschiedenen Aussichtsplattformen konnte ich einen malerischen Ausblick über die einzelnen Boroughs genießen. In Richtung Süden, unmittelbar geradeaus, blickte ich auf das Empire State Building und das restliche Downtown New York. Dann drehte ich mich gegen den Uhrzeigersinn und konnte weitere beeindruckende Wolkenkratzer bestaunen, den Donald Trump Tower, das Chrysler Building, den Bank of Amerika Tower, das Woolworth Building. Im Norden befindet sich schließlich der Central Park als die grüne Lunge der Stadt, in der ich ja gerade zuvor meine frischgebackenen Bagels mit Ham and Eggs genossen hatte.

Mit diesem Rundblick ging mein Kurztrip leider auch schon wieder zu Ende. Den einzigartigen Flair dieser Stadt kann man eigentlich gar nicht in Worte fassen. Ich kann nur soviel sagen, daß ich keine Minute bereue, die ich dort verbracht habe und daß ich das nächste Mal, wenn ich dorthin reise – und das werde ich sicher tun – viel mehr Zeit werde einplanen müssen.

Andreas Reisinger

Familienurlaub

Alle Jahre wieder, gegen Ende des Winters, geht sie los – die familiäre Urlaubsplanung. Ein Marathon an Suche, Planung und Organisation. Drei (nun ja, eher zweieinhalb) junge Menschen auf der Suche nach drei Wochen Erholung, Spaß und Aktion. Also ab an den Strand? Unter der Sonne Tunesiens brutzeln? Im Club in Marmaris abfeiern? Nicht mit uns – Gott sei Dank gehören wir unisono zur Kategorie der Aktiventspanner. Unbekannte Länder, sofern sie mit dem Auto erreichbar sind (ferne Flugreisen wurden auf später verschoben) und Möglichkeiten für Abenteuer versprechen – das ist unser Ziel.

Eigentlich beginnt der Urlaub ja schon im Februar, wenn sich der Inhalt der Keksdose langsam dem Ende zuneigt und auch unser kleinstes Mitglied nicht mehr jeden Tag im Schnee verbringen muss. Denn solch gemeinsame Planung des immer näher rückenden Sommerurlaubes kann das Herz im dunklen Kämmerlein erwärmen. Bei der letzten Tasse (Kinder-)Punsch wird der Globus hervorgekramt, und dann wird fieberhaft überlegt, wo a) unbekannte und b) familientaugliche, mit dem Auto erreichbare Destinationen entdeckt werden wollen. Aspekte wie Sicherheit, Wetterbedingungen im Hochsommer, Kulturunterschiede und Sehenswürdigkeiten werden dann noch bis ins kleinste Detail erforscht. Es folgen wunderbare stundenlange Bibliotheksaufenthalte – die Schönheit unserer Welt lässt sich in einem fünf kilo schweren Bildband einfach besser vermitteln als über Bilder auf facebook. Und dann der wohl unangenehmste Teil: Die Internetrecherche. Da werden Unterkünfte gegoogelt, auf tripadvisor auf ihre Bewertung hin geprüft und auf booking.com reserviert. Da werden Distanzen auf den Meter genau berechnet: Von Himmelreich nach Mailand, von Nizza zu den Pyrenäen, von Berlin nach Stockholm. Eine gewisse Affinität zur Kostenrechnung  ist bei der Erstellung des Finanzplanes immer wieder hilfreich. Auf der Suche nach Geheimtipps werden auch noch die zahlreichen Internetforen durchforstet, wo uns schließlich Mr. Geo oder Fräulein Spagnia ihre Eindrücke und Erlebnisse schildern. Omas Reiseführersammlung tut ihr übriges. Bis auf die Bildqualität hat sich ja ohnehin wenig verändert, und man ist immer wieder freudig überrascht, dass der schiefe Turm von Pisa heutzutage doch noch um einiges schiefer ist und die Cinque Terre auch um einiges farbintensiver von ihren Felsen leuchten als im Reiseführer anno 1965 abgebildet.

Auch wenn es bedeutend einfacher anmuten mag, sich im Juli ins Reisebüro zu setzen und sich den Familienurlaub in kurzer Zeit durchplanen zu lassen, so verkürzt die gemeinsame Vorfreude die riesige Spanne zwischen Null und 35 Grad doch bedeutend!

Magdalena Fazal-Ahmad

 

 

Ghana als persönliche Horizonterweiterung

Zu diesem Zeitpunkt war viel los in meinem Leben – ich war noch ein frisch gebackener Abiturient, hatte bereits mein erstes Studium nach wenigen Wochen und völliger Unzufriedenheit abgebrochen und wusste nicht, was passiert jetzt mit mir, was ist dein nächster Plan? Ich war davon überzeugt, dass mir eine Reise weiterhelfen würde, Hauptsache weit weg von Zuhause, um endlich wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Ich glaubte, dass mir besonders ein Land mit einer anderen Kultur und Lebensweise in dieser Hinsicht sehr weiterhelfen könnte.

Daher beschloss ich ein Stückchen Afrika kennenzulernen und begab mich für 4 Monate auf eine Reise in das westafrikanische Ghana. Viele Vorstellungen hatte ich, aber als ich dort ankam, war alles anders.

Ich verließ aufgeregt die geschützten Räume des Flughafens und betrat zum ersten Mal afrikanischen Boden. Zwei Dinge erschlugen mich zugleich – eine scheinbar nicht zu durchdringende Hitzewand und die Blicke unzähliger Ghanaer. Eine leichte Überforderung spürte ich, als mich plötzlich jeder ansprach und irgendetwas von mir wollte – wohin gehst du? Woher kommst du? Kann ich dir helfen? Gib mir doch dein Gepäck. Ich war sehr erleichtert, als ich merkte, dass sich eine Person aus diesem Pulk von Menschen als mein Praktikumsbetreuer entpuppte, schon wenige Minuten später saßen wir in dem scheinbar nächsten geschützten Raum eines ghanaischen Minibusses – eines „TroTro“. Allerdings musste ich schnell feststellen, dass in diesem für maximal 8 Personen ausgelegten Fahrzeug gefühlte 20 Personen saßen und standen. Nie zuvor spürte ich derart viel Körperkontakt, mir fehlte fast die Luft, auch weil ich mit meinem Gepäck nicht gespart hatte. Das erste Abenteuer sollte nicht lange auf sich warten lassen – wir fuhren durch die Straßen einer Millionenstadt – Accra. Meine erste Unsicherheit und Überforderung vom Flughafen legte sich sehr schnell, als ich aus dem Fenster sah. Bezaubert von so viel Leben auf den Straßen um 6 Uhr morgens. Überall Menschen auf nicht enden wollenden Märkten, scheinbar alle am Arbeiten, so viele zufriedene Gesichter, diese ganzen Fahrradfahrer und Mopeds mit waghalsigen Aufbauten. Dazu kam in der ganzen glücklichen Hektik dieses ganze Grün – überall blühende Bäume und Palmen, soweit das Auge reicht. Die Luft, die durch das Fenster drang, fühlte sich angenehm an und roch nach nasser Erde. Plötzlich musste ich erschrocken feststellen, dass mich mein Betreuer fragte, ob mit mir alles in Ordnung sei. Anscheinend sprach er schon eine Weile, ohne dass ich irgendeine Reaktion gezeigt hatte. Er begann mir alles zu erzählen, was mich in Ghana erwarten würde, wie mein Alltag aussehen wird.

Nach einer Stunde waghalsiger Fahrt erreichte ich mein neues Zuhause – ein Haus mit Wellblechdach in einer hübschen ruhigen Seitenstraße. Ich stieg aus, und wieder waren alle Blicke auf mich gerichtet – ich kam mir langsam vor, als leuchtete ich wie ein Glühwürmchen. Kinder rannten auf mich zu und rubbelten an meinen Armen herum – ich verstand nicht, was das zu bedeuten hatte. Alle Leute um mich herum fingen an zu lachen, mir war das sehr unangenehm und ich wurde verlegen. Als mir mein zukünftiger Nachbar erklärte, dass die Kinder meine weiße Haut nur abrubbeln wollen, da sie nicht glauben können, dass ein Mensch eine andere als schwarze Hautfarbe hat, war ich sehr erleichtert und freute mich über diese besondere Begrüßung der Kinder. Die nächste Zeit merkte ich, dass ich mich an diese Prominenz erst gewöhnen musste. Jeder war an mir interessiert, wollte mit mir reden – ein sehr ungewohntes Gefühl, das ich aus Deutschland nicht kannte.

Das Leben ging los in Ghana, und die Erlebnisse der folgenden Monate in einem Kindergarten und Waisenhaus bleiben für mich bis heute unvergesslich und prägend.

Ich bin derart vielen Menschen begegnet, die bitterarm waren, aber trotzdem sehr offen, freundlich und zufrieden. Bei uns in Europa habe ich oft den Eindruck, dass die Menschen sehr unglücklich und traurig wirken, obwohl sie sich doch an sich alles leisten können.

Ich wollte dieses seltsame Phänomen des Ungleichgewichts verstehen und überhaupt die Gemeinsamkeiten und Unterschiede im menschlichen Verhalten. Dies war sehr ausschlaggebend für meine Studienwahl Psychologie, mit der ich bis heute zufrieden bin. Meine Reise war für mich ein voller Erfolg und hat meinen persönlichen Horizont sehr erweitern können. Nach mittlerweile 5 Jahren kann ich sagen, dass die Gefühle, die ich mit dieser Zeit und diesem Land verbinde, nicht an Intensität verloren haben.

Christof Bochnoik

Reisen – ein Abenteuer

Besonders spannend finde ich Orte, an denen ich mich so unterscheide von allen anderen Menschen, die mich umgeben. Natürlich fand ich die Natur und Umgebung immer wunderschön… sogar überwältigend, ob es die Reis-Terrassen in China, die wilden Küstengebiete in Mozambique oder die Tempel in Kambodscha waren. Aber sind es nicht gerade die Menschen, die dort leben, die die Reise interessant machen? Ich versuche mir vorzustellen, wie es ist immer am Meer zu leben, wie es ist, nicht seine Meinung in seinem eigenen Land äußern zu dürfen. Wie ist es, so abgeschieden von der Außenwelt zu leben? … Schon allein finde ich es interessant, wann die Menschen gewöhnlich essen und was… viele Fragen drängen sich mir auf – aber nie werde ich alle beantworten können. Sich in Menschen, vor allem mir so kulturell fremde Menschen, hineinzuversetzen, ist abenteuerlich – das große Abenteuer beim Reisen. In gewisser Weise bin auch ich damit konfrontiert, wer ich selbst bin; wo ich an eigene Grenzen stoße, die für andere Menschen noch nicht einmal das geringste Problem darstellen.

Das fiel mir besonders auf, als ich von Johannesburg (Südafrika) nach Maputo reiste. Die Hauptstadt von Mozambique ist nicht eine Hauptstadt, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Jedenfalls hatte ich das Gefühl, ich müsse schnellstmöglich weg von Johannesburg, aber das einzige Mittel sich fortzubewegen sind die Chappas. Das sind die afrikanischen Kleinbusse, die eigentlich für ungefähr 9 Personen ausgelegt sind und in jedem afrikanischen Land anders heißen. Ich saß nun in einem besonders klapprigen Chappa mit fehlender Schiebetür auf dem Weg nach XaiXai und dachte mir in Stillen: Es wird immer wahrscheinlicher, dass ich die Tour nicht überlebe. Das legte sich aber nach einer Weile, obwohl ich merkte, dass der Bus wohl noch lang nicht die Grenze seiner Kapazität erreicht hatte: In jedem Dorf stiegen mehr Leute ein und aus. Tendenziell mehr ein als aus. Nach mehreren Stunden hatte es gefühlte 40 Grad, und der Bus war besetzt mit etwa 23 Passagieren, zwei Hühnern, einem Baby und entsprechend viel Gepäck. Natürlich war das nur eine Schätzung, da ich nicht unbedingt einen freien Blick nach vorne hatte. Am Ende der Fahrt waren es zwischen 30-35 Mitfahrer und mindestens zwei Menschen auf meinem Schoß. Das brachte mich nur leicht an meine Grenzen, aber was wirklich dramatisch war, war die Luft, die wir atmeten. Es roch so furchtbar nach vielem, das ich aus meinem europäischen Leben gar nicht kenne… nach lebenden Hühnern, nach toten Fischen, nach Rauch und Abgasen, und vor allem extrem säuerlich nach menschlichem Schweiß. Diese zehnstündige Fahrt empfand ich als unfassbar belastend, aber interessant ist doch, dass man sich an wahrscheinlich alles gewöhnen kann. Viele machen das jeden Tag und pendeln von Dorf zu Dorf. Ich frage mich warum? Welche Berufe üben sie aus… wo wohnen sie? Wenn ich so über diese gewaltigen Unterschiede nachdenke, bekomme ich Gänsehaut. Das war eine anstrengende Reise, aber für mich sehr wertvoll, um mich immer wieder zu vergewissern, dass es außer meiner Welt noch eine andere Welt gibt.

Ich hatte mir das Land eigentlich zivilisierter vorgestellt mit Häusern und richtigen Straßen, aber das war nur seltene Ausnahme. Man sah dem Land den Bürgerkrieg an, der noch keine 20 Jahre vorbei war. In den Feldern liegen vereinzelt noch immer Landminen, und fast die Hälfte der Bevölkerung ist jünger als 16 Jahre. Ich fragte mich oft warum, aber merkte schnell, dass ich vielleicht dieser harten Realität nicht gewachsen bin. Was haben die Leute hier schon ertragen müssen? Es gab keine Bettler, es schien kaum Kriminalität zu geben, und ich fühlte mich so sicher wie schon lang nicht mehr. Wenn ich an die Zeit in Südafrika zurückdenke, kommt mir das Land bezüglich seiner Kriminalität und seinen sozialen Abgründen abartig vor. Was macht den Unterschied?

Ich hatte den Eindruck, die Menschen in Mozambique sind sehr ehrliche Menschen. Ich fühlte mich gut aufgehoben… es passierte nichts, und jeder schien seiner Aufgabe nachzugehen. Niemand lag am Straßenrand, allein und hilflos oder betrunken. – Sie sind aber auch ehrlich in dem Sinne, dass sie mich wie Luft behandelten, nicht Hallo sagten oder je lächeln würden. Sie erschienen verbittert, diese jungen Menschen, die so früh Verantwortung übernehmen (müssen), und als hätten sie ihr Schicksal angenommen. Was sie wohl über mich dachten? Warum ist es auf den Straßen so un-afrikanisch ruhig? Warum sah ich kaum jemanden lachen, tanzen oder sich aufregen? Wo sind die Emotionen? Ist das eine besondere Mentalität, oder kann es sein, dass ein Volk noch so flächendeckend traumatisiert ist?  So schien es mir fast. Doch als ich abends von meiner beschaulichen Hütte über den Strand zum Markt lief, sah ich, wie die Jungs (wie am Vorabend) wieder im Sand Fußball spielten, bis es dunkel wurde. Ein komischer Gedanke, aber es kam mir so vor als wäre die Welt schon wieder in Ordnung.

Nach so vielen großen Fragen und fremden Situationen, hatte ich das dringende Bedürfnis danach, Ruhe zu finden, um meine Gedanken zu sammeln. Mir gelingt das immer besonders gut, wenn ich von Natur umgeben bin. Also ging ich zu einem Tauchclub, der auch am Strand lag. Ein plötzlicher Schlag westlicher Vertrautheit: Bücher, ein Computer… Fotos hingen an der Wand. Ich wunderte mich, dass Mozambique‘s Hütten und dieses europäisch eingerichtete Haus auf so dichtem Raum stehen und sich scheinbar überhaupt niemand an den Gegensätzen stört.

Der Tauchgang war fantastisch, diese andere Welt ist ebenso unbeschreiblich wie die Welt der Menschen in Mozambique. Allerdings vergleiche ich nicht, und ich frage mich auch nicht, wie dieser Fisch oder Wal den Bürgerkrieg erlebt hat. Ich bewundere sie nur wegen ihrer Schönheit. Bei den Menschen ist es nicht nur die Schönheit, es ist ihre Persönlichkeit, ihre Kultur und ihre Geschichte, von der ich hören möchte und die das Reisen für mich zu einem Abenteuer machen.

Caroline Lenz

Rhetorische Überlegungen

Die Beiträge dieser Rubrik lassen sich unter dem Überbegriff „Rhetorik“ zusammenfassen. So wie es in der Ausbildung verschiedene Säulen gibt, wird es auch bei unseren Essays unterschiedliche Zugänge geben. Was unsere Essays jedoch verbindet, ist, dass sie vielfältige Phänomene aus rhetorischer Sicht betrachten.

Während sich Thorsten Schimpl mit der vermeintlichen Entstehung der Rhetorik auf Sizilien beschäftigen wird, werden die Beiträgen von Susanne Bieregger rhetorische Überlegungen zu diversen Uni-Veranstaltungen bieten.

Diese Kategorie soll darüber hinaus allen Studierenden und an Rhetorik-Interessierten die Möglichkeit bieten, über Rhetorik-Veranstaltungen der Universität Salzburg zu berichten, ihr Statement zu aktuellen (rhetorischen) Entwicklungen abzugeben und einen Erfahrungs- und Wissensaustausch ermöglichen.

 

Salzburger Sommerkultur

von Klara Exner

Sommer in Salzburg? Festspiele! Sommerkultur in Salzburg? Festspiele!

Keine Frage, die Festspiele sind ein deutlich sichtbarer Teil der Salzburger Sommerkultur – nicht nur, wenn man das Internet durchforstet.

Verändert sich Salzburg und ihre Bewohner während der Festspielzeit oder ist Salzburg noch genau dieselbe Stadt wie vor und nach den Festspielen?

Wir laden Sie ein mit uns hinter den Kulissen der Festspiele zu schauen und dabei Neues zu entdecken.

Denn glauben Sie, dass es auch einen Sommer, eine Sommerkultur, ja überhaupt ein Leben abseits der Festspiele geben kann? Und, dass Salzburg auch noch etwas anderes für die Touristen bieten kann?

Aber noch viel wichtiger, was machen die, die gar kein Interesse an den Festspielen haben oder gar Gegner der Festspiele sind?

All diesen Fragen haben sich drei Studentinnen gewidmet und sich IHRE Gedanken zum Thema „Sommerkultur in Salzburg“ gemacht.

Reisen

von Michaela Köckeis

 

‚Fernweh‘, ein weitverbreitetes Gefühl; jeder kennt es, und doch kann nicht jeder ihm nachgehen. Es mangelt oft an Zeit, Geld oder auch am Mut, eine Reise zu wagen. Man kann zwar seine Reiselust mit zahlreichen Internet-Reiseblogs stillen, nichtsdestotrotz wird einem sehr wesentlichen Aspekt nur wenig Beachtung geschenkt: Dem Gefühl ein Teil dieser Reise zu sein. Daten und Fakten von zahlreichen Reisetrips werden oft stur abgehandelt, dadurch wird das eigentlich Wertvollste der Reise, nämlich die Impressionen und Gefühle, ins Eck gedrückt.

Wir möchten diesen Gedanken Raum geben und unsere persönlichen Erfahrungen, Eindrücke als auch Erwartungen niederschreiben. Anhand der Essays „Fahrradtour nach Wien“, „Wochenendtrip nach London“ und einer  „Kuba-Rundreise“ möchten wir den Lesern unsere Gedanken zu den Reisen zugänglich machen.

Studieren in Salzburg

von Anna Kräutner, Michael Morf und Ingo Wachtler

Was schreiben Studentinnen und Studenten über ihr Studium in Salzburg?

Es gibt die unterschiedlichsten Themen über die sich Studierende in Salzburg Gedanken machen. Über den Studienstandort (Wohnen, Kultur und Stadtbild), Universitätsinstitution und Freizeit.

Auch wir sind Studenten der Paris-Lodron-Universität und möchten in dieser Rubrik unsere eigenen Essays im Kontext zum Studium vorstellen.

Michael Andrews: „The Colony Room I“


Katharina Riepler

Michael Andrews: „The Colony Room I“

 

Ich bin zur Francis-Bacon-Ausstellung gefahren und ich habe mich auf die Suche nach „The colony room I“ gemacht. Ich habe es nicht gleich auf Anhieb gefunden. Erst als ich durch die Ausstellung geirrt bin, habe ich es zum Glück im zweiten Raum entdeckt. Rechts und links von der Fotokopie hingen Erklärungen zum Werk, was bei keinem der anderen Werke der Fall war. Leider war nicht das Original, sondern nur eine Fotokopie vorhanden. Das Original, so konnte ich auf dem Schild links neben dem Bild lesen, wurde mit Ölfarben auf einer Hartfaserplatte gemalt. Es wurde im Jahre 1962 von Michael Andrews gefertigt und es ist 182,80 x 121,90 cm groß. Ich habe mich dann auf den Weg zur Museumswärterin gemacht und sie gefragt, weshalb das Original nicht da sei. Diese teilte mir dann mit, dass das Original zu Beginn der Ausstellung da gewesen und mittlerweile wahrscheinlich zu einer anderen Ausstellung gebracht worden wäre. Während ich das Bild musterte, störte mich beim Beobachten der Film über Francis Bacon, der im Hintergrund lief

Als ich die Menschen auf diesem Bild sah, musste ich sofort an eine Party denken. Die Farben des Bildes habe ich sehr schön gefunden. Was mir allerdings auffiel, war, dass rechts und links außen im Bild etwas hellere Farben zu sehen waren. Sonst war das Bild in dunkleren Farben gehalten. Ich weiß nicht, ob der Künstler damit was sagen wollte; Ich habe mir auch keine Gedanken darüber gemacht. Was ich aber sagen kann, ist, dass als ich das Bild zum ersten Mal sah, ich mich direkt dorthin beamen wollte. Ich wollte eine kleine Fliege sein und den Künstler bei dessen Treiben beobachten. Deshalb habe ich es mir zur Aufgabe gemacht, folgende Geschichte zu erzählen:

Ich ging durch die Straßen und mir war kalt. Ich sah dieses Pub und las auf dem Schild, dass das Pub den Namen „Soho-Club“ trägt. Ich dachte mir, diesen Namen kenne ich irgendwoher. Aber woher? Ich betrat das Pub und schaute mich um, ob ich jemanden kannte. Und so war es auch.

Als ich so durch das Lokal schlenderte und mich umsah, bemerkte ich, dass das Lokal aus einem großen Raum sowie einem Gang bestand, der sich nach hinten zog. Es waren viele Menschen anwesend, einige kannte ich und andere wiederum nicht. Die Wände waren in einem dunkelblauen bis schwarzen Ton gestrichen. Genau kann ich mich nicht mehr erinnern. Ganz links im Vordergrund auf der Wand war ein Spiegel befestigt, darauf sah man das Gesicht des Mannes, der sich auf der Wand mit dem rechten Ellbogen abstützte. Mit seiner linken Hand stützte er sich auf seine Hüfte. Er hatte eine James-Dean-Frisur und er trug ein weißes Hemd und eine blaue Hose. Die Kleidung des Mannes harmonierte mit seinem Auftreten. Der Mann, der neben ihm saß, zeigte mir den Rücken; Es sah so aus, als würde er sich mit der Frau rechts neben ihm unterhalten. Der Mann trug eine beige-braune Jacke und er hatte kurze braune Haare. Die Frau hatte weibliche Rundungen, sie trug ein blaues, knielanges Kleid und hatte braune, schulterlange Haare. Ihre rechte Hand ruhte angewinkelt vor ihrem Körper und sie hielt etwas Weißes in ihrer Hand. Es hätte ein Sandwich sein können, vielleicht aber auch eine Handcreme. Genau kann ich nicht sagen, was es war. Direkt hinter ihr stand ein Mann mit leicht gräulichen Haaren, er hielt ein braunes Glas in seiner rechten Hand und sein dunkelblaues Sakko hing über einem Stuhl direkt hinter der Frau, ich konnte nur einen Ärmel und die obere Hälfte des Sakkos sehen. Ich habe mich gefragt, was er wohl trank. Vielleicht ein Glas Whiskey, vielleicht einen Scotch? Der Mann, der rechts neben ihm stand, schaute mich direkt an. Er trug ein schwarzes Sakko und darunter ein hellblaues Hemd. Er hatte dunkelbraune bis schwarze Haare, eine spitze Nase und sein linkes Auge war von mir aus gesehen etwas kleiner als sein rechtes. Was es für einen Grund hatte, dass sein linkes Auge kleiner war, habe ich mich gefragt. Vielleicht hatte er ein Schmutzpartikel im Auge oder vielleicht zwinkerte er mir zu. In seiner rechten Hand hielt er ein Sandwich vor dem Bauch. Die Frau rechts neben ihm trug ein schwarzes Tuch auf ihrem Kopf, unter welchem ihre blonden Haare hervorschauten. Sie blickte nach rechts zu einer Person. Ihre rechte Hand ruhte unter ihrem Kinn. Sie trug ihre schwarze Jacke offen und darunter war etwas Grau-Blaues zu sehen. Ich denke mal, sie trug ein Kleid, ich bin mir allerdings nicht sicher. Direkt vor ihr saß ein etwas beleibter Mann auf einem Stuhl. Der Stuhl war mit einem braunen Stoff bezogen. Man sah den Mann im Seitenprofil. Sein linkes Bein war vorne und er trug eine schwarze Sakkohose mit einer Bügelfalte und ein dazu passendes schwarzes Sakko in der gleichen Farbe; Bei seinem Hals blitzte ein bisschen sein rotes Hemd hervor, welches er darunter trug. Der beleibtere Mann kam mir irgendwie bekannt vor. Er hatte hellbraune Haare und einen leichten Glatzenansatz. Neben ihm befand sich eine Person mit einer hellblauen Jacke. Die anwesenden Personen schienen in ihren Unterhaltungen sehr vertieft zu sein.

Dies war mein Versuch, das Bild aus einer anderen Sichtweise zu beschreiben. Was vielleicht nicht jeder weiß, aber durchaus bekannt ist: Michael Andrews kannte die Personen, die er in „The colony room I“ malte. Das Bild zeigt eine typische Barsituation aus den 60er Jahren. Am rechten Rand des Bildes ist Francis Bacon abgebildet, der sich mit der Besitzerin Muriel Belcher unterhält. Lucian Freud schaut den Maler oder den Betrachter frontal an. Henrietta Moraes, die Freundin und Muse von Freud und Bacon ist im Mittelpunkt des Bildes abgebildet. Sie bewegt sich gerade auf den Fotografen John Deakin zu, dessen Rückenansicht man sieht. Weiters sind auch noch Bruce Bernard, Jeffrey Bernard und Carmel auf dem Bild zu sehen.

 


 

Michael Andrews: „Melanie and Me Swimming“

 

 


 

 

Christina Mäser

Michael Andrews: "Melanie and Me Swimming" (1978 – 1979)

 

Es ist dunkel, es ist unheimlich, es ist bedrohlich… das Wasser, in welchem Melanie schwimmen lernen muss. Der Bergsee, in dem Melanie schwimmt, wirkt auf den ersten Blick wie ein dunkles Schlammloch, würden nicht die weißen Beine des Vaters durch das Wasser leuchten. Bei genauerer Betrachtung kann man feststellen, dass das Wasser kristallklar ist und der schwarze Grund die beängstigende Dunkelheit an die Wasserfläche spiegelt.

Die Stimmung ist grausam, sie macht Angst. Im Hintergrund sind bedrohliche Kalksteine, die gefrierende Kälte ausstrahlen. Ein Schaudern durchzuckt den Bildbetrachter schon beim bloßen Gedanken daran, auch nur einen Fuß in diesen See setzen zu müssen. Selbst steht er trockenen Fußes im Museum, hat den Schwimmkurs wahrscheinlich erfolgreich hinter sich gebracht und leidet aus tiefstem Herzen mit dem kleinen Mädchen.

Was geht wohl durch den Kopf der kleinen Melanie? Schrecken? Grauen? Angst?

Ihr Gesicht ist verzerrt, ihre kleinen, kindlichen Ärmchen sind voller Panik an die Arme des Vaters gekrallt, der für sie den einzigen Rettungsanker inmitten dieses dunklen Wahnsinns darstellt. Melanie trägt keinen Schutz am Leibe und ist splitternackt. Es gibt nur sie, den See und die Angst. Ja, und den Vater.

Haare hängen wild in ihr Gesicht, doch sie traut sich nicht, die Strähnen fortzustreichen. Jede unkontrollierte Bewegung bedeutete Gefahr und die Angst vor dem Wasser frisst sie innerlich fast auf. Sie darf nicht an den unerforschten Grund denken, er will sie zu sich herabziehen und ihren Körper festhalten. Tapfer hält sie den Kopf über der Wasseroberfläche, ihr Gesicht reflektiert die Dunkelheit. Ihre Augen sind geschlossen, denn die Angst, den Ort des Wahnsinns zu erblicken, ist zu groß. Sie verlässt sich lediglich auf ihre Händchen, die den Vater spüren und hofft, dass sie dieser niemals loslassen wird.

Melanies Schwimmlehrer heißt Angst. Von ihm wird sie gequält und getrieben, getrieben zu panischen Schwimmversuchen. Schwer atmend versucht sie, mit aller Kraft ihren Körper an der Wasseroberfläche zu halten, sie strampelt panisch. Die Vorstellung und die Angst vor dem dunklen und mysteriösen Grund gibt ihr die Kraft dazu. Sie strampelt und strampelt, gleitet jedoch mit ihren Beinchen immer wieder in die Tiefe.

Warum muss Melanie so schwimmen lernen? Warum gönnt ihr der Vater nicht einen Schwimmkurs mit lustigem Schwimmreifen, flottem Badeanzug und anderen Kindern?

Und warum in Gottes Namen wählt der Vater ausgerechnet diesen See?

Die Vorstellung, in diesem Gewässer unterzugehen, ist grausam und die Kälte des Wassers ist förmlich zu spüren. Die Abgeschiedenheit lässt einem das Blut in den Adern gefrieren. Dieser Bergsee ist fern von Gut und Böse und alles, was er zu bieten hat, sind Kälte und Schrecken.

Der Vater selbst fürchtet sich vor diesem Ort. Er hat Angst, sein Töchterchen loszulassen und es dem Wasser zu überlassen. Die Wahl dieses Sees ist eine harte Probe. Wird er es schaffen, sein Mädchen gehen zu lassen und ihm selbst die Verantwortung für sein Leben zu geben?

„Melanie and me swimming“ stellt einen schwierigen Prozess der Erziehung und des Erwachsenwerdens dar. Es spiegelt die Ängste des Loslassen und Losgelassenwerdens wider. Das Bild hat einen tiefen symbolischen Charakter. Der Betrachter wird emotional ergriffen und versteht, was hinter den Tiefen des Wassers steht.

Der Vater muss sein Kind erst halten und stützen. Er muss es Schritt für Schritt die Regeln und Grundfragen des Überlebens und Selbstständigwerdens lehren und dann entscheiden, wann der Moment gekommen ist, in dem er es loslassen kann.

Wann ist der Zeitpunkt gekommen, sodass jeder alleine seine Richtung ansteuern kann? Es liegt an beiden. Der Vater ist dabei die treibende Kraft und es ist seine Aufgabe, seinem Mädchen das notwendige Maß an Wissen, Mut und Kraft mitzugeben. Dann muss er entscheiden, wann er sein Mädchen aus seinen Griffen loslassen kann, um ihm zuzuschauen, wie es selber die Wellen des Lebens schaukeln wird. Doch auch das Mädchen muss ihren Beitrag dazu leisten. Will sie losgelassen werden, oder genießt sie doch die Sicherheit des vertrauten, väterlichen Haltes?

Wie schwierig muss es für den Vater sein, sein Mädchen alleine davon gleiten zu sehen. Die Zukunft ist ein dunkles Loch, das niemand kennt. Das Einzige, was der Vater dem Mädchen noch mitgeben kann, sind gute Tipps für die ihm richtig erscheinende Richtung. Doch irgendwann wird Melanie alleine so weit vorangekommen sein, dass sie ihn nicht mehr hören wird und auch die Kraft haben wird, alleine im Dunkel der Ungewissheit gegen den Strom voranzuschwimmen.

Die Wahl des Bergsees scheint wohl vom Vater gut durchdacht zu sein und der Beobachter des Bildes kann ihn nun mit anderen Augen sehen. Der grausame Schwimmlehrer wird zum liebevollen, besorgten Vater, der seinem Kind die Abgründe des Lebens frühzeitig zeigen will und es lehrt, im richtigen Moment loszulassen.

„Melanie and me swimming“ stellt auf geheimnisvolle Art und Weise eine Situation aus dem Alltag von Eltern und Kind dar, wobei sich der Betrachter in mindestens einer Person wiederfinden kann. 

 


 

Michael Andrews: „Four People Sunbathing“

 

 


 

 

 

Maximilian Huck

Michael Andrews: "Four People Sunbathing" (1955)

 

Ich entdecke Michael Andrews’ „Four People Sunbathing“ aus dem Jahr 1955 gleich im ersten Raum der Ausstellung, die man Francis Bacon und seinem künstlerischen Umfeld – zu dem eben auch Andrews zählte – gewidmet hat. Man hat das Bild in den zweiten Abschnitt des Raumes gehängt, der mit einer dünnen Trennwand vom vorderen Bereich abgegrenzt wird. Gemeinsam mit drei anderen Werken des Künstlers sowie mit Bildern von Diether Roth und Richard Hamilton soll hier eine thematische Einheit gebildet werden: „Die Schönheit der Natur versus die Strenge der Moderne“. Auch die Werke Andrews’ hat man nach diesen Kriterien ausgewählt; drei zeigen Darstellungen von Menschen, Landschaften und Gärten – eines zeigt eine kalte Wolkenkratzerfront.

Sein „Four People“ zählt zu den „Naturbildern“. Bei der Hängung hat man sich wohl an Francis Bacons Tryptichon-Stil orientiert: Gemeinsam mit einem Bild ähnlichen Formats und ähnlichen Farbeindrucks flankiert es ein großes, sich stark von den beiden „Seitenflügeln“ unterscheidendes Selbstportrait Andrews’. Ich konzentriere mich aber dennoch auf die Sonnenbadenden. Schon allein der Umstand, dass der heutige Tag genauso heiß, drückend und schwül ist, wie der auf dem Bild festgehaltene Moment – doch dazu später – lässt mich selbst leichter seine Stimmung einfangen.

Dadurch, dass man es in eine Ecke des Raumes gehängt hat, kann man es ruhig betrachten, während die anderen Ausstellungsbesucher an einem vorbeiziehen. Und dadurch, dass ich außerdem das Glück habe, dass man Michael Andrews bereits den ersten Ausstellungsraum gewidmet hat, wird man nicht belästigt von dem Dröhnen, welches aus dem dritten Saal dringt, der Francis Bacon selbst gewidmet ist. Dort versucht man mittels eines in Dauerschleife laufenden Dokumentarfilms über sein Leben zu kompensieren, dass man vom Namensgeber der Ausstellung selbst lediglich drei Werke auftreiben konnte …

Doch kommen wir zurück zu „meinem“ Bild, den „Four People Sunbathing“: Michael Andrews hat darauf eine Gartenszene festgehalten; samt Rasen, Blumenbeeten, Bäumen und Ziersträuchern – und in der Mitte vier Menschen, sonnenbadend. Dazu eine Gartenmauer samt Tor und viel blauem Himmel. Ein gewisses Freizeitgefühl stellt sich beim Betrachten also bald ein.

Die vier Sonnenbadenden hat der Künstler ins Zentrum seines Bildes gerückt. Für zwei von ihnen gab es Liegestühle, die anderen beiden liegen vor und hinter den Sitzenden im Gras. Von den Sitzenden erscheint dabei besonders präsent ein Mann mit Hut in der Bildmitte. Er ist die größte Figur im Bild und als einziger der Gruppe aufrecht. Die anderen dösen vor sich hin.

Neben den vier Menschen seien aber auch nochmals die übrigen Bildelemente genauer betrachtet. So der äußerst weitläufige Rasen, auf dem es sich die „Four People“ gemütlich gemacht haben. Er nimmt mehr als die Hälfte des Bildes ein und prägt somit wesentlich den Charakter des Gesamtwerkes. Sträucher, Bäume und Beete sind hingegen an den Rand gerückt und erfüllen eher eine schmückende Funktion. Besonders ins Auge sticht schließlich die hohe Gartenmauer im Hintergrund. Scharf grenzt sie den Garten von der Außenwelt ab und bildet mit ihrer Oberkante auch den Horizont. Lediglich das Gartentor bietet einen Blick auf das nur zu erahnende „Dahinter“, möglicherweise wieder Natur. Über der hohen Gartenmauer dann nur noch Himmel – und wie bereits erwähnt, viel Himmel. Beinahe ein Drittel der Bildfläche wird von ihm eingenommen.

Michael Andrews gelingt mit seiner Anordnung der Bildelemente die Fokussierung des Betrachters auf die vier Personen, wobei einem ein tieferes Verstehen der Szene wohl aber erst unter Rücksichtnahme auf die anderen Bildbestandteile möglich wird. Diese, ihre freie Zeit im Grünen genießenden, Menschen, sind sie nicht – wie die hohe Mauer andeuten könnte – doch Gefangene? Und könnten sie nicht, wenn sie wollten, ausbrechen? Das Tor steht offen und der Himmel darüber ist weit und grenzenlos…

Doch treten wir noch einen Schritt näher an das Bild heran. Michael Andrews hat es in groben Pinsel- und Spachtelstrichen mit Ölfarbe gemalt; allein der „Hutmann“ im Zentrum erscheint etwas schärfer und genauer ausgeführt als der Rest des Bildes. Möglicherweise ist er ja der Kopf seiner Gruppe. Ist er auch der einzige Wache, Aufrechte und der Einzige der vier, der eben diesen Hut trägt. Ein eleganter Straßenhut, der in starkem Kontrast steht zur Blöße seines unbekleideten Körpers.

Unbekleidet beziehungsweise in Badekostümen sind alle vier – und blass; Stadtmenschen. Und keiner aus der Runde sieht so aus, als ob er den Nachmittag unter freiem Himmel wirklich genießen könnte. Verrenkte, verdrehte Körper – beinahe anorganisch gezeichnet: Sie können alle nicht aus ihrer Haut und loslassen. Sich befreien. Auch der Kopf der Gruppe, der selbst in seiner freien Zeit einen Hut aus dem Arbeitsalltag trägt, wird sie bei einer Befreiung wohl nicht anführen. Denn auch er, obwohl aufrecht, erscheint erschlagen.

Bereits dieses trübe und dabei doch so grelle Licht zeigt ja die drückende Schwüle des Sommernachmittags an, die jede Aktivität lähmt und jedes Ausbrechen verhindert. Der Künstler taucht sein ganzes Bild in dieses unangenehme Licht: Der Rasen wird giftgrün, das Blau des Himmels erscheint nicht strahlend, sondern dunstverhangen. Allein das dunkle Rot der Mauer präsentiert sich satt und warm. Vielleicht bedeutet diese Mauer für die Menschen also doch Schutz und nicht Gefängnis – Schutz vor einer zunehmend feindlichen Umwelt an einem schwülen und lebensfeindlichen Sommertag. Und durch das Tor, das zwar Freiheit böte, sieht man ja nicht genau, was dahinter kommt – wer weiß, ist dort draußen vielleicht noch alles viel schlimmer?

Michael Andrews schafft es also mit einem einfachen Motiv, indem er Stilmittel wie abnormal verzerrte Körper und unnatürlich grelle Farben anwendet, beim Betrachter ein unangenehmes Gefühl auszulösen – obwohl der Bildinhalt selbst Assoziationen hervorrufen könnte, die man als angenehm einstufen würde: Ein Sommertag im Freien. Doch Andrews setzt auf Widersprüche. Seine Sonnenbadenden genießen die Freizeit und sind doch Gefangene ihrer Selbst, ihrer Verpflichtungen, des Arbeitslebens, … der Welt der Moderne. Aber die Mauern, die sie sich bauen, sind für sie nicht Gefängnis, sondern Schutz und Geborgenheit – vor zuviel Freiheit und der Angst davor. Denn das Leben dort draußen ist hart und unwirtlich. Unweigerlich stellt sich den Betrachtern die Frage: Sind diese Menschen vielleicht unser Spiegelbild? Was geben wir auf, um wir selbst sein zu dürfen?

Warum hat Michael Andrews dieses Bild aber nun gemalt, für welchen Zweck? Konzentriert man sich nochmals lediglich auf das abgebildete Motiv – vermutlich Freunde Andrews’ beim Entspannen im Garten des Künstlers – könnte man schließen, dass das Werk lediglich gedacht war, um seine persönliche Erinnerung an ein geselliges Zusammensein festzuhalten. Um es sich im eigenen Haus aufzuhängen und es bei weiteren Zusammentreffen der Freundesrunde zum Zentrum neckischer Gespräche zu machen: „Schau, wie dick Michael deinen Bauch gemalt hat – da bist du sofort wiederzuerkennen…“

Tatsächlich handelt es sich bei den „Four People Sunbathing“ aber um ein mindestens Ein mal Ein-Meter-Fünfzig großes Gemälde mit breitem Rahmen, aufwendig auf Holz gemalt und hinter Glas gesetzt. Und somit wahrscheinlich nicht gedacht für eine Mauernische im Eigenheim, sondern durchaus für eine Präsentation in einem etwas „würdigeren“ Ambiente. Besinnt man sich dann schließlich noch auf die Fragen, die auftreten, wenn man sich mit seinem Werk etwas näher beschäftigt, so wird letztlich klar, dass Michael Andrews seine Sonnenbadenden einer breiten Öffentlichkeit präsentieren wollte – im Rahmen von Ausstellungen wie jener, in der ich sein Bild gerade eben betrachtete.

Ja, er benutzte ein privates Motiv – aber seine Fragen richtete er an alle. Auch an mich? Inwieweit bin ich selbst frei? Inwieweit ziehe ich die Unfreiheit vor? Empfinde ich die Freiheit der Natur als Bedrohung? Und die Zwänge der Moderne als Schutz? Bin ich glücklich? Fragen, die das Bild von Michael Andrews bei mir überhaupt erst aufgeworfen hat. Antworten darauf suche ich noch.

 


 

Lucian Freud: „Girl with closed eyes“


Margot Dum

Lucian Freud: "Girl with closed eyes"

(1986 – 1987)

 

In einer Francis-Bacon-Ausstellung bleibt mein Blick an einem besonderen Bild hängen. Es trägt den Titel: „Girl with Closed Eyes“  und wurde von einem guten Freund Bacons gemalt. Aus guter Quelle erfahre ich, dass der Künstler ein Verwandter des berühmten Psychoanalytikers Dr. Sigmund Freud ist. Schmunzelnd male ich mir aus, was Dr. Freud wohl zu diesem Kunstwerk gesagt hätte.

So betrachte ich das Bild sehr genau und sehe eine junge Frau, die nackt auf einem Bett liegt. Sie hat ihren Kopf leicht zur Seite geneigt. Der dünne Hals ist dadurch gestreckt, was darauf deutet, dass sie tief und fest schläft. Dabei frage ich mich, was sie jetzt wohl träumen mag.  Der Mund ist leicht geöffnet. Sie sieht blass aus. Ihre Haare sind ein wenig gewellt und haben eine aschbraune Farbe. Man sieht nur die rechte Brust. Auf der Haut finden sich einige Leberflecken. Das Bettlaken, auf dem sie liegt, ist beinahe grau. Im Hintergrund sieht man eine grau-braune Holzwand. Das Mädchen sieht sehr entspannt aus. Es wirkt, als lebe es ein einfaches Leben, und doch strahlt es Zufriedenheit aus, wenn es schläft.

 

Das sind meine ersten Eindrücke, wenn ich dieses Bild betrachte. Tatsächlich gibt es viele verschiedene Weisen, ein Bild zu betrachten. Die einen sehen eine nackte Frau, andere eine Leinwand, die mit brauner, weißer und grauer Farbe bemalt ist. Wieder andere interpretieren in das Bild eine bestimmte Botschaft hinein.

Die Wahrnehmung ist also subjektiv. Doch der Maler, Lucian Freud, hat dieses Bild – bewusst oder unbewusst – nach bestimmten Kriterien hergestellt. Ziel eines Künstlers ist es immer, den Rezipienten zu überzeugen. Sei es nun mittels Worten, in Form einer Rede, mittels Musik oder auch mittels Bildern.

 

Nun stellt sich die Frage: In welchem Zusammenhang damit steht die Bildrhetorik und was ist das überhaupt?

Dazu müssen wir einen Ausflug in die Theoriegeschichte machen: In der Antike entwickelte sich die Kunst der Rhetorik. Es handelt sich dabei um eine Art strategischer Kommunikation: Der Redner verfolgt ein bestimmtes Ziel. Er will sein Publikum überzeugen. In der Rhetorik nennt man das Persuasion.

Aristoteles formulierte drei Charaktereigenschaften, die ein guter Redner mitbringen sollte. Das ist zum einem Integrität: Er soll in seinem Denken, Tun und Sagen authentisch sein. Weiters setzt Aristoteles das Wohlwollen des Redners gegenüber dem Publikum voraus. Auch eine gewisse Kompetenzvermutung des Publikums gegenüber dem Redner ist von Vorteil.

Um eine gute Rede vorzubereiten, wurde in der Antike eine Produktionstheorie entwickelt. In fünf Schritten soll der Vortragende seine Rede entwickeln:

Zuerst muss er einen Gedanken finden (Inventio). Anschließend ist das Ergebnis zu gliedern (Dispositio). Nun ist das Grundgerüst der Rede entstanden. Der nächste Schritt ist die sprachliche Ausformulierunng (Elocutio). Diese hat das Ziel, später die Aufmerksamkeit des Publikums punktuell zu steigern, je nach Situation. Dann hat der Redner die Aufgabe, sich die Rede einzuprägen (Memoria). Schlussendlich wird die Rede vorgetragen (Actio).

 

Sie lesen hier aber einen Text über Bildrhetorik. Hier geht es darum, Bilder zu beschreiben und dadurch beispielsweise eine Rezeptionsstrategie zu erkennen. Ausgangspunkt der Bildrhetorik ist immer die klassische Rede. Denn Bilder kommunizieren eine Botschaft ebenso wie ein Redner. Der einzige Unterschied besteht darin, dass für die Übermittlung des Inhaltes ein anderes Medium gewählt wird. Das Bild hat dennoch einen besonderen Stellenwert: Wir sehen Bilder auch in unserer Fantasie. Wir gleichen das Gesehene mit unserem Erfahrungsschatz ab und machen uns unser eigenes „Bild“.

 

In diesem Fall sehe ich nicht nur ein nacktes Mädchen. Die verschiedenen Eindrücke, die ich gewinne, wenn ich das Kunstwerk betrachte, verschmelzen zu einer Geschichte. Ich stelle mir vor, wie sie wohl heißen könnte, und warum sie sich porträtieren ließ.

Bilder vermitteln also konkrete Botschaften. Lucian Freud hat bei seinem Bild eine genaue Vorstellung davon, was er seinem Betrachter mitteilen will. Er überlegt, wie er das Bild, das in seiner Fantasie bereits vorhanden ist, am besten auf die Leinwand bringt. Dazu muss er wissen, welche Elemente das Bild beinhalten soll und wie diese angeordnet werden. Freud gibt dem Mädchen viel Platz. Im Hintergrund sieht man nur das Bettlaken oder eine Holzwand. Das rechte untere Drittel des Bildes zeigt ihre Schultern und Ansätze der linken Brust. In der Mitte des Bildes befindet sich der Hals. Die linke obere Hälfte des Bildes zeigt den Kopf. Für die Bildaufteilung wird meist eine Dispositionsskizze angefertigt, um die Größenverhältnisse  sowie die Anordnung der Inhalte zu fixieren. Das Mädchen nimmt in diesem Fall den Großteil des Bildes ein.

Vielleicht hat sich der Maler bei der Herstellung auch Gedanken darüber gemacht, wo das Bild später präsentiert wird, womit wir beim Wohlwollen dem Publikum gegenüber wären. Nach der groben Einteilung der Anordnung im Bild beginnen die Feinarbeiten. Mit der Farbgebung kann Lucian Freud  eine bestimmte Stimmung formen. Er stellt sich dunkle Brauntöne für die Ausgestaltung von Schatten vor. Die hellen drücken die Blässe des Mädchens aus. Bei genauerem Hinsehen erkennt man, dass die Muskeln ihrer linken Halspartie leicht angespannt sind, weil ihr Kopf sich auf die rechte Seite neigt. Durch diese detailreiche Darstellung soll der Betrachter für die Wirkung von bewegter Haut sensibilisiert werden.

 

Bevor der Künstler aber tatsächlich zu malen beginnt, muss er sich noch entscheiden, mit welchem Medium er seine Idee transportieren möchte: Hier entschließt sich Lucian Freud, auf einer Leinwand zu malen. Die Leinwand ist das Mittel, um die Bildinformation an das Publikum zu bringen, damit dieses die Botschaft aufnimmt. Der Betrachter erinnert sich an das Bild und die Geschichten, die er damit verbindet. Man könnte hier die Erinnerung des Betrachters mit der Memoria des Redners verbinden.

Schließlich hat der Künstler sein Werk auf die Leinwand gebracht. Das Thema und dessen Gegenstände sind dargestellt. Man könnte das als Bildlichkeit bezeichnen.

 

Wenn das Publikum das Bild betrachtet, ist das vergleichbar mit dem Hören einer Rede. In beiden Fällen werden Inhalte vermittelt, die die Einstellungen und die Gefühle des Rezipienten ansprechen sollen. Eventuell kann somit ein Einstellungswechsel erreicht werden. Der Anblick des „Mädchens mit den geschlossenen Augen“ hat mich jedenfalls dazu veranlasst, es sehr genau zu betrachten. Es weckt in mir eine Reihe von Emotionen: Für mich strahlt das Bild vor allem etwas Geheimnisvolles aus. Das Mädchen sieht sehr entspannt aus, als ob es sich von jemandem beschützt fühlen würde. Vielleicht hat sie den Maler gut gekannt.

 


 

Francis Bacon: „Henrietta Moraes“


Franziska Guggenbichler-Beck

Lucian Freud: "Henrietta Moraes"

Die Monsterfrau

Es schreit dieses Bild. Es brüllt. Eine Frau liegt verzerrt und entstellt auf einem froschgrünen Sofa. Nichts Menschliches an ihr. Ich finde sie widerlich. Kein Hintergrund, keine Geste, keine Details: nichts als dieser nackte Körper, von dem man gerade noch sagen kann, er sei weiblich.

Damals! Tizian oder Manet stellten doch auch nackte Frauen auf einem Sofa dar – welch Anblick! Die Schönheiten lagen horizontal ausgebreitet: Ihre Anmut war zauberhaft eingefangen. Jeder Gegenstand war am richtigen Platz.  Alles Schönheit und Harmonie!

Bei Bacon hingegen liegt die Frau so, dass sie fast aus dem Bild herauszufallen scheint: Sie und das Sofa sieht man aus der Untersicht. Recht viel unvorteilhafter geht es nicht: Am meisten Platz nimmt nämlich ihr Gesäß ein. Und das grüne Sofa? Es ist dem Sperrmüll geweiht, so alt und verbraucht ist es. Das Grün ist nicht frisch, sondern erinnert an abgestandenes Wasser und Übelkeit. Der Stoff ist rissig und abgewetzt. Darauf liegt der Körper wie ein Stück Fleisch. Einen Hintergrund gibt es nicht. Es gibt nur Henrietta Moraes, die präsentiert wird; Ihr Blick geht ins Leere. Mir sagt sie nichts, und im gleichen Moment brüllt etwas in mir. Ich kann es nicht verstehen. Von Schönheit und Harmonie – seien wir ehrlich – keine Rede mehr. Ich rümpfe die Nase. Ich finde das Bild einfach ekelhaft.

Muss ich mir das wirklich antun und es interessiert betrachten, als ob ich etwas davon verstünde? Ich drehe mich um und gehe.

Durch die langen weißen Gänge, an den grünen Bäumen hinter den hohen Fenstern gehe ich vorbei und bin erleichtert. Auf zu neuen Künstlern! Fotos mit Licht und Luft und Meer und Horizont. Ich habe wieder  frische Luft zum Atmen. Ich genieße die Ruhe.

Das Licht wird müde. Durch die Fenster fallen lange Schatten. Es wird Zeit zu gehen. Es war ein langer Tag.

Aber die Monsterfrau brüllt und tobt immer noch in mir. Ich muss noch ein letztes Mal zu ihr zurück. Ihr Bild thront majestätisch und aufdringlich im Zentrum des Raumes. Ich fühle mich so klein. Henrietta scheint so mächtig zu sein. So abscheulich und doch so verführerisch. Ihre Gliedmaßen sind verdreht. Sie hat blaue Flecken an den Knien und am Sitzfleisch. Ja, Henrietta ist wie ein Stück faulendes Fleisch, das sich langsam zersetzt. Panik. Es schnürt mir den Magen zu. Es stinkt hier. Wie die Bläschen im kochenden Wasser kommen allerlei Brocken von Ahnungen an die Oberfläche.                 Hitze!              Angst!                         Gefängnis! Abscheu!             Das Bild riecht förmlich nach Alkohol, Zigaretten und einer langen, heißen Nacht. Es ist schwül. Ich bekomme keine Luft mehr. Ich bin angewidert und verblüfft. Was passiert hier mit mir? Sieh an! Dieses Monster fängt mich ein. Ich stehe davor und starre und koche. Es brüllt nicht das Bild: Es ist Bacon selbst, der da tobt! Es geht hier nicht um Henrietta. Ihm geht es nicht um ihren Körper, um ihre Schönheit, um das geschundene, grüne Sofa oder um eine Anspielung auf Tizian! Bacon hat es auch nicht auf meinen klaren Verstand oder auf meinen ästhetischen Geschmack abgesehen, sondern auf das Tier in mir.

Steckt ein Monster in jedem von uns? Steckt es in mir? Ja, das wird die Frage sein, die Bacon hier stellt. Eine riesige rhetorische Frage, die uns unmittelbar angeht und wachrüttelt. In dieser Frage steckt die persuasive Potenz des Bildes. Es ist, als ob er zwei völlig antithetische Gegenstände (Mensch und Monster), die wir nur getrennt voneinander denken können, zusammenbringt und es wagt zu fragen, ob beides in uns steckt. Ist das so?

Bacon will keine Antwort geben; Er wirft bloß Fragen auf, die uns äußerst unbequem sind.

Ich muss an Georg Büchner denken: Der Mensch ist ein Abgrund.

Es liest sich so leicht…

Ich sehe die vergangenen Stunden noch einmal vor mir. Was ist nur aus diesem Frühlingstag geworden? Ich spazierte unter frischgrünen Baumkronen auf den Mönchsberg. Die Sonne schien, kleine Waldwege brachten mich zum Museum. Durch die langen weißen Gänge, an den grünen Bäumen hinter den hohen Fenstern wandelte ich von Bild zu Bild. Auf zu neuen Horizonten. Ich empfand Frieden! Ich empfand Freude! Eierkuchen!! Ein Schrei! Eine bohrende Frage! Da tut sich der Abgrund auf: Ein Mensch kann wohl ein denkendes Wesen sein. Aber er bleibt ein Tier! Noch schlimmer vielleicht: ein Scheusal? Ein Monster? Erbärmlich und einsam wie Henrietta kriecht das menschliche Wesen vor sich hin. Kein Ziel vor Augen. Es strampelt. Es hat alles keinen Sinn.

Strampel ruhig, bis der Abend kommt. Und mach dir nichts vor! Die Zeit vergeht. Die Zeit zerrinnt. Strampel ruhig. Aber vergiss nicht: du bist und bleibst: ein Abgrund.

Die Fenster sind jetzt große schwarze Löcher. Im Museum ist es still geworden. Leises Gemurmel. Das Licht ist grell. Die Luft ist schlecht und abgestanden. Kein Bild ist mehr in meinem Kopf. Kein Wort hat mehr etwas zu sagen. Schweißperlen auf meiner Stirn. Die Tür schiebt sich mir schwer entgegen. Es ist kalt draußen. Alles ist dunkel geworden. Meine Schritte auf dem Kies. In der Hand ein zerknitterter Zettel mit einem Zitat, das ich noch schnell mit einem schwarzen Filzstift hinaufgekritzelt habe:

 

„Meine Bilder sollen aussehen, als sei ein
menschliches Wesen durch sie hindurchgegangen und hätte
eine Spur menschlicher Anwesenheit und Erinnerung
an vergangene Ereignisse hinterlassen,
wie eine Schnecke ihren Schleim.“
 
Francis Bacon
 
 

 

Zu Besuch bei „Francis Bacon und sein Umkreis“


Christina Mäser

Zu Besuch bei „Francis Bacon und sein Umkreis“

Was erwartet der Besucher, wenn er in die Francis-Bacon-Ausstellung geht? Gleich vorweg noch, der genaue Titel lautet: „Francis Bacon und sein Umkreis“.

Der Besucher erwartet folglich Bilder von Francis Bacon und seinem Umkreis. Nun gut, doch wenn dann von Francis Bacon nur so wenige Bilder da sind, dass sein Umkreis die Ausstellung dominiert, was ist dann? Dann hat der Besucher wohl etwas Falsches erwartet. Aber gut, als Kunstliebhaber ist man ja ein offener Mensch.

Aber bleiben wir doch nun bei den Bildern von Francis Bacon, dem Namensgeber und Ausstellungshelden.
Der Besucher betritt voller Vorfreude den Ausstellungssaal und schaut sich um. Wo befinden sich die Bilder des Helden Francis? Er geht durch den ersten Saal, noch nichts. Dann kommt er in den zweiten, den hinteren Saal. Was ist denn da so laut, was lärmt denn da so? Es ist ein Fernseher. Hier läuft eine Dokumentation über Francis Bacon und nicht zu vergessen: seinen Umkreis. Der Besucher ist nun hin und her gerissen. Eigentlich war er ja gestern schon im Kino und hat sich eine Dokumentation angesehen, heute wollte er ins Museum. Was macht er nun? Soll er sich die Bilder von Francis und seinem Umkreis ansehen, oder soll er sich doch von der netten Fernsehstimme unterhalten lassen? Eine schwere Entscheidung. Er seufzt. Er reibt sich die Augen. Dann überlegt er sich, dass er ja schließlich recht viel Eintritt für die Ausstellung und den Lift bezahlt hat. Francis und seine ganzen Freunde befinden sich auf dem Mönchsberg, und man muss sie da oben erst einmal erreichen. Ist man zu Fuß nicht so gut, gibt es natürlich den Lift. Der gehört aber nicht zu Francis’ Umkreis, das heißt also, der Besucher muss dafür extra bezahlen.

Nun aber zurück zur Entscheidung zwischen Film und Museum. Der Besucher entscheidet sich für das Museum, deshalb hat er schließlich den weiten Weg auf sich genommen. Ein weiterer Seufzer – der Besucher versucht, sich auf die Bilder zu konzentrieren. Doch irgendwie fehlt ihm die Muße dazu. Seine Gedanken sind ständig beim Film, denn der ist so laut, dass er dem Museum doch tatsächlich die Schau stiehlt. Gott sei Dank hat der geübte Museumsbesucher Ohropax dabei. Er greift in seine Tasche und holt die kleinen Dinger heraus. Es folgt ein strafender Blick des Museumswärters. Der Besucher ist verunsichert. Stören den Francis oder sein Umfeld die Ohropax? Das kann doch fast nicht sein, oder? Doch eigentlich, wenn es sich der Besucher genauer überlegt, dann schaut der Wärter schon die ganze Zeit recht eigenartig. Der Besucher widmet sich nun mit verstöpselten Ohren und viel Muße den Bildern. Doch mit den bösen Blicken geht es weiter, jetzt kommen sie allerdings von den anderen Besuchern. Unser Besucher versteht jetzt gar nichts mehr. Was ist denn los? Aber er versteht einfach nicht, dass ihn die anderen Besucher bitten, ein wenig zur Seite zu gehen. Es ist nämlich ein bisschen eng beim Francis, es ist ja schließlich auch sein Umkreis dort. Mit freien Wänden muss also ein wenig gespart werden, vielleicht auch, weil der Fernseher sonst keinen Platz gehabt hätte. Der irritierte Besucher geht weiter und verliert nun komplett die Orientierung. Er sucht verzweifelt nach Text und Infos zu den Bildern. War es doch ein Fehler, nicht ins Kino zu gehen? Er seufzt, und das durch die verstöpselten Ohren so laut, dass schon wieder böse Blicke folgen. Welch Glück, der Besucher hat jetzt endlich den Ausstellungskatalog entdeckt. Nun wird alles besser. Er darf jetzt nämlich mehr über Francis und seinen Umkreis erfahren und langsam versteht er auch, wie sein Umkreis und Francis in Zusammenhang stehen. Es handelt sich wohl um lauter Infos, die eigentlich schon im Vorfeld über das Umfeld hätten gewusst sein sollen. Der Besucher schämt sich.
Er seufzt und geht zum nächsten Bild. Er sucht es im Katalog, doch er findet es nicht. Er sucht es noch einmal im Katalog, doch er findet es wieder nicht. Kann das sein? Er sucht es noch einmal, doch er findet es einfach nicht, dafür aber ein ähnliches. Eigentlich ist es genau das gleiche, nur seitenverkehrt. Der Besucher versteht nur mehr Bahnhof. Langsam wird ihm schwindelig, und er nimmt sich die Ohropax raus. Hinter ihm ist eine Schulklasse, die sich dicht um ihn drängt, und er wird von den Schülern nahezu eingequetscht. Jetzt muss er genau da stehen bleiben und kommt nicht mehr weg – das ist ja wirklich fast wie im Film! Was er nun aber hört, das gefällt ihm sehr, das ist sogar noch viel besser als ein Film! Das Bild bezieht sich auf Albrecht Dürers Bild „Melancholia“. Ach, das hätte man im Vorfeld schon auch wissen sollen, es gibt so viel zu wissen über Francis’ Umfeld. Die Lehrerin der Schulklasse hat sogar ein Bild von Dürers „Melancholia“ dabei. Der Besucher ist nun ganz aus dem Häuschen. Außerdem ist er so fasziniert vom Wissen der Frau Lehrerin, dass er beschließt, sich der Schulklasse anzuschließen. Leider ist ihr Unterricht schon zu Ende. Der Besucher ist enttäuscht und mag gar nicht mehr bleiben, er fühlt sich ohne die Klasse jetzt einsam. Obwohl da der Wärter wäre, der ihn die ganze Zeit anstarrt, als wäre er selber ein Bild, das ausgestellt wird. Der Besucher geht noch aufs WC, wäscht sich die Hände, trinkt einen Schluck Wasser und geht dann zum Lift, um Francis und seinen Umkreis alleine auf dem Mönchsberg zu lassen. Irgendwie ist er verwirrt und ein bisschen enttäuscht. Vielleicht geht er morgen wieder ins Kino.


Francis Bacon: „Man in Blue IV“


Sabrina Jäger

Francis Bacon: "Man in Blue IV"

 

Dieses Bild von Francis Bacon hat mich angesprochen, da es sich von allen anderen Bildern Francis Bacons in der Ausstellung deutlich unterschied. Es besteht lediglich aus zwei Farben – blau und weiß. Der blaue, dunkle Teil des Bildes überwiegt und füllt beinahe die gesamte Leinwand aus. Nur wenige Akzente und scheinbare Lichtpunkte im Gemälde wurden mit der hellen Farbe gesetzt. Es scheint, als würde das dunkle Blau nur durch wenige helle Linien und Flächen unterbrochen werden, um dem Betrachter eine Räumlichkeit aufzuzeigen und ihm in der Fülle des Blaus eine Szene erkennen zu lassen. Die Person, die sich im Zentrum des Bildes befindet, ist ein Mann, der hinter einem Schreibtisch sitzt. Er lehnt sich auf ihn und hat seine Hände gefaltet. Sein Gesicht sieht traurig aus. Es ist die größte helle Fläche des Bildes, wird aber von feinen, unregelmäßigen, dunkelblauen Linien durchzogen. Dadurch sind das Gesicht und die Gesichtszüge nur schwer zu erkennen und die Person wirkt niedergeschlagen und müde. Die weißen Linien, die hinter der Person zu sehen sind, bilden scheinbar einen Raum um sie. Dieser Raum füllt nicht das ganze Gemälde aus und wirkt daher wie ein Raum im Raum. Dadurch, dass die Linien im Hintergrund parallel und in einem regelmäßigen Abstand zueinander verlaufen, scheinen sie beinahe wie Gitterstäbe, die den Mann umschließen.Obwohl er durch diesen Raum eingesperrt scheint, wirkt er durch den Anzug, den er trägt, sehr seriös und selbstsicher. Zudem gibt ihm der Tisch, auf den er sich stützt, Halt.

Als ich im Internet zu dem Gemälde recherchierte, um ein paar Hintergrundinformationen zu erhalten, habe ich gelesen, dass Francis Bacon häufig Fotografien oder Personen aus seinem Leben als Vorlage für seine Bilder genommen hat. So fand ich auch einen Hinweis darauf, dass sein Liebhaber Peter Lacy als „Man in Blue“ auf Leinwand verewigt wurde. Ich kann allerdings nicht mit Sicherheit sagen, dass Peter Lacy auf dem Gemälde, das ich hier bespreche, zu sehen ist, da Francis Bacon im Jahre 1954 insgesamt vier Bilder der Serie „Men in Blue“ malte.

In der Ausstellung waren nur wenige Bilder von Francis Bacon zu sehen, die allesamt in einem Raum ausgestellt waren. „Man in Blue IV“ war direkt links neben der Tür aufgehängt. Als ich den Raum betrat, habe ich das Gemälde zunächst also gar nicht gesehen. Erst als ich mich wieder zur Tür wandte, fiel mein Blick auf das Bild. Dabei fiel mir auf, dass dem Gemälde sehr wenig Platz im Raum gegeben wurde. Es kam mir vor, als würde es in eine Ecke gedrängt werden. Vielleicht war es auch absichtlich so platziert, da es sowieso eine sehr düstere und melancholische Stimmung vermittelt und der Mann im Bild sehr gedrängt wirkt. Gemalt wurde es mit Ölfarbe auf einer Leinwand. In der Ausstellung war es hinter Glas zu sehen.

Die Anordnung der Szene im Gemälde wirkt genau geplant. Der „Raum im Raum“ wirkt sehr kantig, geradlinig und abgegrenzt vom übrigen Teil des Bildes. Der Raum ist zur rechten Bildkante hin offen, nach oben, unten und nach links geschlossen. Die Flächen des Tisches, der Wände und der Decke wirken wie geometrische Figuren, die zu einer Szene zusammengewürfelt wurden. Der Mann befindet sich fast genau in der Mitte des Bildes. Seine Silhouette wirkt sehr abgerundet und er scheint von seiner Umgebung erdrückt zu werden. Dies wird noch einmal durch den „Raum im Raum“ unterstrichen, der deutlich kleiner als das Gemälde insgesamt ist.

Offen bleibt allerdings, was rechts vom Bild passiert. Der Raum ist nicht völlig geschlossen und der Mann blickt auch in diese Richtung. Es scheint, als würde er eine Person ansehen, die sich dort aufhält oder etwas Anderes, das seine Aufmerksamkeit auf sich zieht.

Ich denke, dass mit dem Bild eine traurige und einengende Stimmung vermittelt werden soll. Der Blick des Betrachters wird als Erstes auf das Gesicht des Mannes gelenkt, das im Mittelpunkt des Bildes liegt und durch die helle Färbung deutlich hervorsticht. Bei näherer Betrachtung erkennt man, dass der Blick des Mannes auf etwas fixiert ist. Das Gesicht sieht starr und angespannt aus und durch die Schattierungen wirkt es sehr verfallen.

Ich denke, dass der Betrachter in die Stimmung des Bildes hineingezogen und neugierig gemacht werden soll, was sich außerhalb des Bildes befinden könnte und worauf der Blick des Mannes fixiert ist. Ich gehe davon aus, dass dem Betrachter, so wie auch mir, als Erstes die dunkle Färbung des Gemäldes und der helle Mittelpunkt auffällt. Man fragt sich, warum eine so düstere Stimmung vermittelt wird und welche Geschichte den Mann in diese Situation gebracht haben könnte.

Meiner Meinung nach kommt die rhetorische Persuasion des Gemäldes aber nicht zustande. Bei oberflächlicher Betrachtung wird durch die große, dunkle Fläche und die wenigen Lichtpunkte sofort eine düstere und traurige Stimmung vermittelt. Der Betrachter wird in diese hineingezogen und bleibt (so ist es zumindest mir gegangen) am Bild hängen. Bei eingehender Betrachtung erkennt man auch noch die feinen Details, die die Szene bereit hält. Diese Details machen neugierig und verleiten den Betrachter dazu, zu hinterfragen, was die Intention des Bildes ist und herauszufinden, was beim Betrachten des Gemäldes unklar bleibt bzw. was nicht abgebildet, aber zum Verstehen der Szene notwendig ist. So ist es auch bei mir gewesen und genau das ist das Merkwürdige und Unerklärkliche daran. Obwohl ich mich nun schon öfters mit diesem Bild auseinandergesetzt und es betrachtet habe, ist mir leider noch immer nicht klar geworden, was denn die Intention ist. Wie schon zuvor erwähnt, bleibt offen, was sich rechts vom Gemälde befindet – also worauf die Person im Bild blickt und was ihre Gedanken scheinbar gefangen hält. Das wäre meiner Meinung nach ein wesentlicher Punkt, der helfen könnte, die Szene und die Intention, die dahintersteckt, zu verstehen. Für mich aber haben sich diese Fragen nicht erschlossen, und obwohl ich in die Stimmung des Gemäldes hineingezogen wurde, konnte es mich letztendlich nicht für sich gewinnen.

 


 

Ronald B. Kitaj: „Melancholy after Durer“


Hanna Schlagitweit

Ronald B. Kitaj: "Melancholy after Durer" (1989)

 

Da sitzt er nun. Mürrisch sieht er aus, das Haar ergraut, der Blick in eine unbestimmte Ferne gerichtet. Die Krankheit hat dunkle Schatten in sein Gesicht gemalt, tiefe Furchen erzählen von Nächten ohne Schlaf und dunklen Gedanken. Er hat seinen Lieblingsplatz gewählt, den blauen Sessel, hier hat er die letzten Monate verbracht, tatenlos, grübelnd und wartend. Und das Telefon. Er hat es also nicht vergessen, unser Gespräch damals. Er hat es hervorgehoben, auf rotem Hintergrund, es schwebt über ihm, ist dominant ohne jegliche Leichtigkeit, es ist aufdringlich, es hat Bedeutung, das hat er mir in den letzten Tagen immer wieder versichert. Leer fühle er sich, alt, krank und nutzlos. Das hat er mir damals gesagt. Es ist nur ein Organ, nichts weiter, er soll dem nicht soviel Bedeutung zukommen lassen, hab ich gesagt. Ja, ich hab es heruntergespielt, das Herz ist nicht einfach irgendein Körperteil, das war mir schon bewusst, doch er war ja wieder gesund und er sollte dieser Erkrankung nicht zu viel Bedeutung zuschreiben. Wenn du nicht weißt, wie und woran du weiterarbeiten sollst, dann nimm genau das, was du im Moment fühlst, hab ich gesagt, bring deine Stimmung zu Papier, male deine Melancholie.

Melancholie, dieses Wort hab ich benutzt, ohne darüber nachzudenken. Und er hat es genommen, wie einen Strick in die Hand genommen und sich langsam raus gezogen. Er musste es nicht neu erfinden, zu viele waren schon vor uns, haben unser Leben schon gelebt. Er hat Dürers Bild genommen und es übersetzt, wie ein Dolmetscher eine Sprache übersetzt, hat er dieses Bild für sich übersetzt. Sein Werkzeug ist der Pinsel, er hält ihn in der Hand, so wie Dürers Figur den Zirkel. Und er hat keine Flügel, nein, das würde so gar nicht zu ihm passen, er hat dem Original die Flügel abgenommen und mit seiner eigenen schwarzen, trübsinnigen Figur ersetzt. Die Flügel hat er seinem Sohn verliehen, jener lichten Gestalt im Bild, fast schon strahlend sitzt sie neben ihm auf dem Bücherregal, voll von jenen Büchern, in die sich sein Vater monatelang zurückgezogen hat, der Wirklichkeit entfloh, um sich niemandem stellen zu müssen. Der Kleine hält den Pinsel in der Hand, nicht tatenlos wie sein Vater, nein, er ist vertieft in sein Werk und hat keinen Blick für all das, was rund um ihn passiert.

Das hat er so oft gesagt, so vertieft sein, so unbeschwert, ohne Gedanken zu verschwenden an die eigene Vergänglichkeit, genau so möchte er sich fühlen. Aber jeder Versuch ist gescheitert. Die Leinwand liegt vor ihm, der klägliche Versuch zurückzufinden, zu seiner Art zu arbeiten, zu malen wie vor seiner Krankheit, ist gescheitert. Er hat noch so viel Energie aufgebracht, den Versuch, seiner Melancholie zu entkommen, wütend zu übermalen, ehe er wieder versunken ist in seinen düsteren Tagträumen. Zurück zu seiner Schwere, die ihm treu, wie ein Hund seinem Herrchen, Tag und Nacht nicht von der Seite wich. Hier liegt er nun, der Hund, schlafend, zusammengerollt, und nicht mehr ganz so nah seinem Herrchen, aber er verlässt ihn auch nicht. Der Frieden trügt, das Tier ist wandelbar, der friedlich schlafende treue Hund kann sich jederzeit aufbäumen und zu jener schwarzen Bestie werden, die ihn wieder nach unten zieht. Es ist der „black dog“, den hat er keineswegs zufällig gewählt, er hat es mir gesagt, damals am Telefon, es war der Versuch unbeschwerter zu klingen, als er meinte, dass er sich fühle wie Churchill, der den black dog zum Symbol der Depression machte. Hier ist er also wieder, der schwarze Hund, die Dunkelheit seiner schweren Stunden.

Schwarz wie seine Kleidung ist der Hintergrund.  Schwarz, die düsterste aller Farben, die eigentlich keine Farbe ist, und doch so vieles ausspricht, ohne ein Wort zu verwenden. Auch Dürers Regenbogen im Hintergrund hat er verwendet, aber er ist nicht so strahlend wie im Original und der helle Komet, der vielleicht Licht bringen kann, auf den hat er gänzlich verzichtet.

Ich habe es verstanden, sein Bild. Heute hat er mich angerufen, seine Stimme hat sich verändert. Nicht mehr langsam und leise, zögerlich und kurzatmig, als hätte sein krankes Herz gesprochen, nein, fest klang seine Stimme und entschlossen. Er wollte mir danken für den Rat, den ich ihm gegeben habe, damals, und ich soll sie mir anschauen, seine Melancholie. Zugegeben, ich musste erst in den Tiefen meines Gedächtnisses kramen, ich weiß, ich wollte ihn aufbauen, so wie ein Freund das nun macht. Ich weiß, ich hab damals nicht lange darüber nachgedacht, was ich ihm sagen soll. Es gibt nichts zu danken, hab ich ihm heute gesagt, er hat dieses Bild ganz alleine geschaffen.

Ich bin gerührt, jetzt davor zu stehen und glaube zu verstehen, was in dir vorgegangen ist. Aber ich weiß auch, dass meine Gedanken über dein Bild Gedanken bleiben. Ich werde nichts sagen, es wären überflüssige Worte. Deine Melancholie bleibt deine Melancholie, sie muss nicht weiter besprochen und zerredet werden. Ein Blick reicht, und wir wissen, dass wir uns verstanden haben. Es ist gut so wie es ist.

 


 

Peter Doig: „Bird House“


Barbara Schnitzer

Peter Doig: "Bird House" (1995)

 

Schnee bedeckt den Wald und alles strahlt und leuchtet unter der warmen Wintersonne.

Es ist still. Friedlich.

Und ganz unscheinbar hängt es da, ein kleines Vogelhäuschen. Fast verschwindet es unter der dicken Schneedecke und den dichten Ästen.

So belebt es im Sommer sein mag, so ruhig und verlassen wirkt es im Winter. Für die Vögel ist es jetzt zu kalt, um darin zu wohnen, dennoch kann man sich das fröhliche Gezwitscher vorstellen, das es hier geben wird, wenn der Schnee schmilzt und der Winter dem Sommer weicht.

Von den vielen feinen Ästen des Strauches hängen kleine Lampions. Sie sind wie Farbkleckse in der weiß-braunen Landschaft und schimmern fröhlich durch die Äste hindurch. Wer sie wohl aufgehängt hat?

Sieht man genauer hin, entdeckt man im Hintergrund einen Zaun. Auch er ist verschneit und hinter den vielen braunen Ästen kaum erkennbar. Wo genau der zugehörige Strauch steht, wird nicht sofort klar. Es kann ein zugefrorener und zugeschneiter See sein oder ein schneebedeckter Waldboden.

Das Vogelhäuschen ist an einem roten Seil befestigt, das sich wie eine Schlange um die Äste wickelt und vom Baum wegführt. Wer immer es auch aufgehängt hat – man kann die Sorgfalt erkennen, mit welcher es befestigt wurde, um den Vögeln im Sommer Sicherheit zu geben.

Das Bild wirkt sehr beruhigend, da die winterliche Landschaft nahezu bewegungslos dargestellt ist. Der Künstler Peter Doig lässt das Bild vielmehr durch die Ölfarben bewegt und lebendig erscheinen. Die Pinselstriche sind sehr dick und deckend. Doig verwendet Farben, die starke Kontraste setzen. Weiß, Braun und Hellblau dominieren. Die bunten Lampions fallen erst nach einiger Zeit auf, da sie sich sehr versteckt im Hintergrund befinden.

In den ersten Sekunden der Betrachtung wirkt das Bild etwas „wirr“, da der obere Teil nur aus Ästen besteht und vorwiegend mit dunkeln Farben gemalt ist. Stellt man sich jedoch vor, an genau dieser Stelle das Motiv in Wirklichkeit zu betrachten, bekommt es eine ganz andere Wirkung.

Das Vogelhäuschen wurde, wie das gesamte Bild, mit dicken Pinselstrichen gemalt, welche den optischen Effekt haben, dass das Bild zweidimensional wirkt. Es sticht vor allem mit den Farben Weiß und Grün-Braun hervor. Das Bild trägt seinen Namen, wodurch das Vogelhäuschen an größerer Bedeutung gewinnt, als es beim Betrachten den Anschein erweckt.

„Bird House“ überzeugt durch seine starken, kräftigen Farben. Dadurch, dass der Hintergrund kaum erkennbar ist, weil die Äste alles verdecken, kann man nur erahnen, was sich hinter ihnen befindet. Weitere Bäume? Häuser? Menschen? Man weiß es nicht…

Meiner Meinung nach ist das Bild sehr gelungen, da es etwas Geheimnisvolles verbirgt. Wo befindet sich dieses Motiv? Wer hat das Vogelhäuschen gebaut und aufgehängt? Ich stand vor dem Original, und das Bild fing mich sofort ein. Durch seine Größe, das Bild ist ca. zwei Meter hoch, fühlte ich mich gleich in die Landschaft hineinversetzt. Ich hatte plötzlich den Wunsch, direkt in das Bild hineinzuspringen, den Schnee anzufassen und in das Vogelhäuschen zu schauen. Ich wollte wissen, was sich hinter den Ästen und dem Zaun befindet. Alle anderen Bilder interessierten mich nicht mehr wirklich, ich war so befangen von diesem einen Bild. Meine Phantasie leistete plötzlich gute Arbeit, ich stellte mir vor, mich in der winterlichen Landschaft zu entspannen und auf all die Fragen eine Antwort zu bekommen, die ich mir stellte.

Das Bild erzielt also eine sehr reale Wirkung, obwohl es doch mit groben, deckenden Pinselstrichen gemalt wurde. Der Maler hat sich also genau überlegt, wie er durch seine Malweise all diese Emotionen hervorruft. Ich kann es nicht genau sagen. Vielleicht ist es diese scheinbare Realität, die der Künstler schafft. Ich weiß es nicht.

Rhetorisch ordne ich dieses „Erzeugen von Unwissen“, so dass der Betrachter nicht weiß, was sich dahinter, davor und daneben befindet, der elocutio zu. Gerade ausdrucksvolle Pinselstriche können enorme Wirkung erzielen.

Schnee bedeckt den Wald und alles strahlt und leuchtet unter der warmen Wintersonne.
Es ist still. Friedlich.

 


 

Peter Doig: „At the Edge of Town“


Nicole Mirnig

Peter Doig: "At the Edge of Town" (1982)

 

Es gibt einen Spruch, der besagt, dass Bilder sprechen. Das stimmt sicherlich, denn jedes Bild erzählt eine Geschichte. Manche Bilder erzählen jedoch nicht nur, sie werfen vielmehr Fragen auf und stellen den Betrachter vor das eine oder andere Rätsel. So auch bei diesem Bild von Peter Doig. Auf den ersten Blick ganz simpel wirkend, hat es einen auf den zweiten bereits gefangen genommen. Man taucht ein in die Welt des geheimnisvollen Mannes und stellt sich den Rätseln, die uns der Maler aufgibt.

Ein Mann hält sich an einem Baum fest und blickt in ein naturbelassenes Tal. Sein Blick ist finster, vielleicht auch böse. Ein Ast des sich am rechten Bildrand befindenden Baumes erstreckt sich fast über den gesamten oberen Rand und wirkt dadurch wie ein rahmendes Element. Der Baum scheint relativ groß zu sein, denn man sieht lediglich einen kleinen Teil des Stammes. Der Mann fasst mit der linken Hand an den dem Rücken zugekehrten Baum und blickt von oben links in das Bild hinab. Vor ihm erstreckt sich eine weitläufige Landschaft im Goldenen Schnitt.

Der Mann ist lediglich mit einer Hose bekleidet, deren Blau im ähnlich getönten Landschaftshintergrund fast verschwindet. Sein nackter Oberkörper und das Gesicht sind aschfahl, die Haare sind kurz und rabenschwarz. Der Baum, an dem er sich festhält, ist fast schwarz und ganz kahl. Das Tal ist gefüllt mit allerlei Bäumen und Gewächsen. Die Farbwahl beschränkt sich überwiegend auf kalte Töne. Dennoch steht die doch eher bunte Landschaft in starkem Kontrast zu dem kahlen Baum. Die letzte Baumreihe am Horizont besteht lediglich aus vom Licht der Sonne erzeugten Silhouetten. Die restlichen Bäume haben allerlei Farben. Von gelbgrün bis zu einem satten Tannengrün sind alle Schattierungen vorhanden. Am blauen Himmel befinden sich ein paar größere Wolken. Nur eine Stadt ist weit und breit nicht zu sichten.

Auch das gleißende Licht der untergehenden oder aufgehenden Sonne ist weniger ein Lichtblick als ein greller Fleck am blauen, bewölkten Himmel. Die Bäume am Horizont befinden sich noch im Sonnenlicht und werden so von einem rötlichen Schimmer umgeben.

Das Bild wurde mit Ölfarben auf eine größere Leinwand gemalt. An und für sich wirkt das Bild ziemlich groß, was jedoch die Platzierung in der Ausstellung „A Guest of Honour, Francis Bacon & sein Umkreis“ im Museum der Moderne am Salzburger Mönchsberg so nicht vermittelt. Das Bild hängt nahe dem Eingang, jedoch in einem Winkel, sodass es vom Museumsbesucher nicht sofort gesehen wird. Es hängt an der Wand rechts vom Eingang, relativ weit hinten. Der Besucher wird aber eigentlich ein bisschen daran vorbeigeführt. Es ist umringt von großen, sehr bunten und eindrucksvollen Bildern – den wohl fröhlichsten der gesamten Ausstellung. Bei Betrachtung dieser Bilder ist man gezwungen, Peter Doigs At the Edge of Town den Rücken zuzukehren. So hängt genau gegenüber ein sehr kräftig gehaltenes, mindestens doppelt so großes Landschaftsbild. In dessen Bann einmal gezogen, hat man kaum mehr Augen für At the Edge of Town. Man betritt die Ausstellung und läuft daran vorbei. Ich persönlich habe diese Erfahrung auch gemacht – ich bemerkte das Bild zuerst gar nicht.

Kaum ist man ein paar Schritte im Bereich der Ausstellung vorgedrungen, nehmen einen andere Sinneseindrücke gefangen. Denn bei Bacon gibt es nicht nur Bilder zu bestaunen: Es gibt auch ein Video – in ohrenbetäubender Lautstärke. Der Fernsehapparat, auf dem das gute Stück ausgestrahlt wird, steht ganz im letzten Eck, fast schon versteckt. Doch durch die lauten Geräusche, die er von sich gibt, ist er kaum zu übersehen. Möchte man sich die Bilder im näheren Umkreis betrachten, wirkt dies eher störend als lehrreich. Deshalb bin ich ganz froh, dass mein Bild am anderen Ende der Ausstellung angebracht ist. Das bringt mich sogleich auf den nächsten Punkt: Möchte man nämlich die Ausstellung verlassen, so kommt man an Peter Doigs Bild fast nicht vorbei. Man läuft geradewegs darauf zu und der Blick verfängt sich sofort darin. Die Farben, die Traurigkeit, der Titel – alles ist irgendwie geheimnisvoll. Warum ist von einer Stadt die Rede? Nichts in diesem Bild deutet auch nur annähernd darauf hin. Es gibt weit und breit nur Natur zu sehen – unberührt. Wo kommt der Mann her? Er sieht nicht glücklich aus, im Gegenteil: Er wirkt ernst, böse, verängstigt. Vielleicht läuft er vor etwas davon, vor einem drohenden Unheil, vor der Stadt, dem Lärm, den Menschen. Und wo genau ist die Stadt? Gibt es sie überhaupt? Der Titel des Bildes spricht von einer Stadt, blickt man aber auf das Bild, so ist kein Indiz dafür zu sehen. Somit widersprechen sich  Titel und Darstellung des Bildes, es herrscht eine Diskrepanz zwischen inventio und dispositio. Das Bild wirft viele Fragen auf. Es bleibt der Phantasie des Betrachters überlassen, diese zu beantworten.  

Barack Obama: „Yes, we can!“


 

Jürgen Seiwaldstätter und Christine Zehentmayr

Barack Obama: "Yes, we can!"

 

Einleitung

Dieser Artikel beinhaltet die Analyse der Wahlkampfrede „Yes, we can!“ von Senator Barack Obama, gehalten am 8. Jänner 2008 in New Hampshire, Amerika. Die Ergebnisse werden im folgenden Artikel im Hinblick auf die aristotelischen Elemente Ethos, Logos und Pathos und deren Zusammenspiel zusammengefasst.

 

Redegattung

Bei dieser Rede handelt es sich um eine Beratungsrede, welche zu Beginn auch einige Elemente einer Lobrede enthält, wie zum Beispiel den Verweis auf die Gegenwart und die Danksagungen an die Wähler. Jedoch wechselt der Fokus auf die Zukunft und Möglichkeiten.

 

Die Person – Barack Hussein Obama

Barack H. Obama jr. wurde 1961 in Hawaii als Kind von Stanley Ann Dunham und Barack Obama sen. geboren. Nachdem sich die Eltern scheiden ließen, zog die Mutter mit ihrem Sohn nach Indonesien. Hier verbrachte Obama seine frühe Jugend. 1971 kehrte er in die USA zurück, wo er von seiner Großmutter aufgezogen wurde und die private Punahou School besuchte. 1983 schloss er an der Columbia University in New York City  mit einem Bachelor in Politikwissenschaften ab, nach einigen Jahren in der Privatwirtschaft inskribierte er sich an der Harvard Law School und beendete diese mit „magna cum laude“.

Im Alter von 31 Jahren wurde er erstmals politisch aktiv, um die Wählerkampagne von Bill Clinton 1992 in der afroamerikanischen Gemeinschaft zu unterstützen. Im Jänner 2005 trat Barack Obama das Amt des Senators im US-Staates Illinois an. 2 Jahre später verkündete er in Springfield (Illinois) seine Präsidentschaftskandidatur und im Sommer 2008 wurde er, nachdem er sich gegen Hillary Clinton durchgesetzt hatte, von der Demokratischen Partei als offizieller Präsidentschaftskandidat präsentiert.

 

Ethos

Ethos behandelt die Selbstpräsentation des Redners; Hauptziel ist es, dass der Redner Glaubwürdigkeit vermittelt. Barack Obama verkörpert bei dieser Rede einen enthusiastischen Motivator. Dies äußert sich in mehrfacher Weise. Bevor die eigentliche Rede beginnt, versucht Sen. Obama schon, durch Blickkontakt sein Publikum zu erreichen: Blicke links, rechts, Umdrehen, zusätzliches Applaudieren und unzählige Danksagungen an das Publikum. Zu Beginn zeigt er mit dem erhobenen Zeigefinger in das Publikum und stellt fest: „I am still fired up and ready to go!”. Trotz der erlittenen Niederlage genießt er sichtlich das Bad in der Menge, lächelt und hält durchgehend Blickkontakt mit dem Publikum, zudem gibt er staatsmännisch und, ohne sich dabei zu schämen, seine Wahlniederlage zu und gratuliert Senatorin Hillary Clinton. Durch seine Mimik und das Umherblicken im Saal signalisiert er Selbstbewusstsein. Seinem Auftreten ist also die Niederlage nicht anzumerken.

Er steht, passend für den Anlass, im Anzug auf der Bühne. Die Bühne ist jedoch nicht leer, sondern hinter Obama stehen seine Anhänger mit Schildern. Diese tragen zwar Schilder und schließen sich manchmal den Sprechchören an, treten jedoch in normaler Straßenkleidung auf. Außerdem wirken sie wie „normale“ Bürger. Dadurch macht das Bühne-Setting einen egalitären Eindruck, der durch die „Normalität“ der Anhänger unterstützt wird. Dies wird auch inhaltlich immer wieder angesprochen, denn Obama führt an, dass er die verschiedensten Berufsgruppen, politischen Gruppen, etc. zusammenbringen will bzw. mehr Gemeinsamkeiten als Gegensätze vorliegen.

Obama spricht meist mit einer normalen Geschwindigkeit, macht jedoch viele kurze Pausen, wodurch die Rede eindringlicher wird. Die Stimmung in der Halle wird durch die kurzen rhetorischen Pausen noch angespannter. Bei den für ihn wichtigen Punkten beugt er sich über das Mikrofon, um die Lautstärke seiner Aussagen deutlich zu erhöhen.

Mimik und Gestik Obamas wirken sparsam eingesetzt und gezielt, ähnlich wie bei der Stimme, wo gewisse Punkte dadurch unterstrichen werden, dass die Lautstärke erhöht wird; auch bekräftigt Obama einige Aussagen mit einfachen Gesten. Seine Mimik wechselt zwischen Lächeln, entspanntem Blick und ernstem Gesichtsausdruck und wirkt dem Inhalt angepasst.

 

Pathos

Pathos beschäftigt sich mit der emotionalen Beeinflussung des Publikums. Zu Beginn der Rede ist noch ausklingende Musik zu hören, ebenso werden die Anhänger vermutlich durch Sprechchöre, die auch während der Rede wiederkehren, zusätzlich „angeheizt“. Aus diesem Grund kann Obama bereits auf einer guten Stimmung „aufbauen“. Obama erzeugt und verstärkt sowohl durch seine Inhalte als auch durch rhetorische Figuren verschiedene Emotionen im Publikum.

Auf inhaltlicher Seite greift Obama immer wieder Werte oder Themen auf, die die Menschen emotional betreffen. Obama weist die Zuhörer darauf hin, dass in Amerika etwas passiert:“[…] something happening in America […]”. Als brillanter Rhetoriker bindet er das Publikum zusätzlich in seine Rede ein:„[…] your voices and your votes […]“. Dabei erzeugt Obama ein Gemeinschaftsgefühl, welches auf das egalitäre Setting (siehe Ethos) aufbaut.  Diese Veränderung greift Obama immer wieder auf; er geht dann dazu über, dass die Menschen bereit sind, das Land in eine neue Richtung zu bringen. Lange bleibt unklar, worauf er genau hinaus will, er erweitert die Gruppe der Betroffenen immer mehr, von Regionen über ethnische Gruppen bis hin zu politischen Gruppen („Democrats, independents and Republicans[sic!]“). Dann erst offenbart er, was das allen gemeinsame Element ist: „who are tired of the division and distraction that has clouded Washington“. Er spricht zwar das Wort „Korruption“ nicht aus, doch „to challenge the money and influence“ ist eine klare Anspielung. Schließlich geht er von der allgemeinen Kritik zu den Zielen über, die hauptsächlich auf soziale Gerechtigkeit abzielen: Gesundheitsversorgung, Steuererleichterung für die Mittelklasse, Ausbau der Schulen, bessere Entlohnung der Lehrer, „weg vom Öl“ und Umweltschutz. Dabei richtet er sich gegen die großen Unternehmen und Industrien. Er spricht also die Werte des „kleinen Mannes“ und der Mittelklasse an und gibt gleichzeitig ein Feindbild, welches er jedoch nicht genauer ausführt. Diese Auflistung wird durch den Einsatz von rhetorischen Wiederholungsfiguren verstärkt, ebenso sind die Aussagen in kompakten Sätze ähnlicher Länge verpackt. Nachdem die Stimmung durch diese Ausführungen entsprechend angespannt ist, bringt Obama die Menge mit der Aussage: „And when I am president of the United States, we will end this war in Iraq and bring out troops home.“ zum Jubeln. Die Menge bricht schon beim ersten Teil des Satzes in Jubel aus, steht dieser Umstand doch im Gegensatz zur gerade erfahrenen Niederlage. Obama hat also die Thematik steigernd angeordnet, zu Beginn spricht er davon, was möglich ist und bleibt ungenau, geht dabei hauptsächlich auf die Gemeinsamkeiten ein; dann beginnt er mit Kritik und schließlich den Forderungen, die konkreter werden und beispielhaft ausgeführt sind. Schließlich geht er zu den emotionalsten Themen über, zuerst das Öl, welches gefolgt wird von seiner möglichen Präsidentschaft und dem daraus folgendem Rückzug der Truppen aus dem Irak. Nun geht Obama genauer auf den Irak-Krieg, Terrorismus, Amerikas „moral standing in the world“ und den 11. September ein. Dies ist der Höhepunkt der Rede. Danach geht Obama wieder mehr auf das Wir-Gefühl und seine Anhänger ein. Er greift das Thema der „falschen Hoffnung“ („false hope“) auf, welches ihm vorgeworfen wurde, woraufhin er auf die Geschichte und Werte Amerikas (Land der unbegrenzten Möglichkeiten) verweist: „But in the unlikely story that is America, there has never been anything false about hope.“ Die Menge reagiert wiederum mit Applaus und Obama setzt zu einem emotionalem Ende an, wo er auf schwierige Punkte in der amerikanischen Geschichte und Werte verweist, die die Amerikaner mit „Yes, we can“ beantwortet haben. Er verweist dabei auf die Verfassung, Sklaverei, Immigranten, Pioniere, Gewerkschaften, Frauenrechtlerinnen, Kennedy und Martin Luther King. Und schließlich die Grundwerte („opportunity and prosperity“) und das Selbstverständnis Amerikas als Weltmacht: „Yes, we can, to opportunity and prosperity. Yes, we can heal this nation. Yes, we can repair this world[sic!]. Yes, we can.“

Die Wahlkampfrede ist ein gutes Beispiel für den erfolgreichen Einsatz von rhetorischen Figuren. Durch deren Verwendung erzielt Obama emotionale Effekte im Publikum, die sich durch Rufe und andauernden Applaus äußern. Die rhetorischen Figuren sind über den ganzen Text verteilt und der Redner setzt verschiedene Varianten davon ein. Dominant sind Wortwiederholungen, welche eindringlich und dramatisierend wirken und dabei gewisse Inhalte in den Vordergrund rücken.

Anaphern, Hervorhebungen von Wörtern oder Wortgruppen am Satzanfang sind in dieser Rede vorherrschend – zum Beispiel „There is something happening …“, „It was…“. Dadurch erfährt das Gesagte eine Steigerung der Bedeutungs und hat eine einhämmernde Wirkung. Ebenso setzt Obama viele Antithesen ein, welche die Gegenüberstellung von Gegensätzen darstellt: „rich or poor“, „black or white“, „Latino or Asian“. Antithesen schaffen zum einen eine klare Abgrenzung, zum anderen erhöhen sie die Spannung durch das Gegenüberstellen zweier entgegensetzter Pole.

Die Rede bringt das Publikum in verschiedene emotionale Stimmungen, zuerst wird die Gemeinschaft beschworen, darauf folgt eine Mischung aus Hoffnung und Entrüstung, welche aufgegriffen wird und zu einer motivierenden Aufbruchsstimmung führt. Dies geschieht einerseits durch die oben genannten rhetorischen Figuren, andererseits auch durch das bewusste Heben und Senken der Stimmlage und den Einsatz von starken Emotionswörtern, wie „I love you back“, „hope“, „There is something happening in America“, „Americans can change it“, „Yes, we can“. Obama spricht die Menschen direkt an „You can be the new majority who can lead this nation“, er vermittelt ihnen den Glauben, aktiv an der Zukunft etwas ändern zu können und stellt sich selber auf eine Ebene mit dem Publikum: „We can do this“. Auffallend ist, dass er an populäre Werte wie Loyalität oder Zusammenhalt appelliert, welche vom Empfänger getragen werden und bei ruhigeren/einleitenden Parts eingesetzt werden. Ebenso schneidet er bewusst heikle und aufwühlende Themen an. Kein Amerikaner bleibt bei Themen wie Irak-Krieg, Terror oder Klimawandel ruhig.

 

Logos

Beim Logos werden sowohl der Redeinhalt wie auch die Strukturierung und vor allem die Argumentation betrachtet. Barack Obamas Rede enthält viele Referenzen und Fakten, welche er als Basis für seine Argumente einsetzt. Er verweist auf gerade stattfindende und erlebte Ereignisse, wie „men and women […] come out in the snows in January to wait in lines …“, die für die Zuseher direkt wahrnehmbar sind oder waren. Die Aussagen wirken durchgehend plausibel, sofern sie nicht seine direkten Wahlziele betreffen.

Er betont, den Krieg im Irak zu beenden und die Truppen abzuziehen, jedoch erwähnt er nicht, zu welchem Zeitpunkt er dies vorhat. Was ist aber mit den Truppen in Afghanistan zur Bekämpfung der Al-Qaida? Hier verspricht er, „den Job fertig zu machen“. Wie, lässt er jedoch offen. Auch spricht er davon, Amerika und die Welt gegen die Bedrohungen des 21. Jahrhunderts zu vereinigen, wiederum wird in keinem Satz erwähnt, wie dies geschehen soll oder was er genau bewerkstelligen wird. Doch ist es nicht das Ziel der Rede, sein Wahlprogramm darzustellen und zusätzlich wird sie vor seinen eigenen Anhängern gehalten, weshalb der Inhalt durchaus ausreichend für die Situation und das Publikum ist. Die Rede ist logisch, in sich geschlossen aufgebaut und dank des Verzichts auf Fachausdrücke für jeden klar und verständlich.

Die Kernaussagen werden offen und klar ausgedrückt – „There is no problem, we cannot solve …“. Alles ist machbar in Amerika, „change is happening“, dadurch, dass Menschen zur Wahl gehen und Obama als Präsident den Wandel positiv beeinflussen kann.

Die Struktur der Rede ist für uns klar erkennbar:

  • Einleitung 00:00 – 02:00
  • Hauptteil
    • Part I: „There is something happening […] “02:10 – 03:36
      Einstimmen auf das gemeinsame “Wir”
    • Part II: „You, all of you, you can be the new majority […] “04:02 – 05:25
      Ihr (the majority) macht das möglich
    • Part III: „We can […]“ 05:37 – 06:42
      Beginnend mit „wir können“; Höhepunkt: Ich bin – Überleitung zu: wir wollen
    • Part IV: „[…] ask what you can do for change […]" 08:08 – 09:54
      Zugehörigkeit zu einer Gruppe, der Kampf wird lange – Hoffnung
  • Abschluss 10:10 – 13:09
    • Part V: „Yes, we can“

      Zeigt, was alles geschafft wurde, weil Menschen an sich glaubten – Gemeinsam kann man das ebenso schaffen.

Die Argumentation der Rede basiert hauptsächlich auf natürlichen Beweisen, Obama führt wenige kunstgemäße Beweise durch. Im Folgenden betrachten wir einige der kunstgemäßen Beweise. Obama führt an, dass die Menschen mit ihrem Verhalten klar machen, dass „etwas passiert“ („there is something happening“). Die Prämisse ist, dass die Menschen ihre Stimme erheben und wählen, deshalb „passiert etwas“, folgend dem Argumentationsmuster von Ursache und Wirkung. Nachdem Obama nicht näher ausführt, was passiert, ist die Aussage sogar tautologisch.

Obama führt mehrmals an, dass alle Kandidaten gute Ziele und Ideen verfolgen, aus diesem Grund muss er sich von ihnen in anderer Form distanzieren. Er führt an, dass „our campaign has always been different“ mit folgender Argumentation:

  1. Was er als Präsident tun wird (Indirekt: „not just about what I will do as president“)
  2. Was die Bürger des Staates tun können, um Amerika zu ändern („It is also about what you, the people who love this country, the citizens of the United States of America, can do to change it.“)

Allerdings ist dies nicht schlüssig, weil dies weder von seiner Kampagne, noch von ihm abhängig ist. Außer, das „you“ bezöge sich nur auf seine Anhänger, dies wird jedoch durch die nähere Spezifizierung (people, citizens) ausgeschlossen. Geht man vom zweiten Fall aus, so ist die Begründung der Differenzierung folgende: Obama und die potentielle Beteiligung seiner Anhänger bei der Umgestaltung Amerikas machen die Kampagne Obamas andersartig als die der anderen Kandidaten.

 

Lerneffekt/Anmerkungen:

Diese Rede ist ein Musterbeispiel: Der Redner kann sein Publikum begeistern und schafft es durch den Einsatz von rhetorischen Figuren, Gestik, Mimik und Stimme die Stimmung des Saales in jede ihm beliebige Richtung zu lenken.

Das ist uns besonders aufgefallen:

  • Die Wichtigkeit eines durchgehenden roten Fadens, u. a. auch durch stimmiges Zusammenspiel von Ethos, Logos und Pathos
  • Die Möglichkeit zur Hervorhebung von bestimmten Inhalten durch den Einsatz verschiedenster rhetorischer Figuren
  • Eine Rede bekommt durch die Verwendung von Fakten eine gute Basis und wirkt so glaubwürdiger
  • Stimmvariation und die richtige Kombination von Gestik und Mimik haben eine große Relevanz.

Im Endeffekt ist es auch für „normale Menschen“ und Studierende leicht möglich, eine gut gelungene und aussagekräftige Rede zu halten. Man muss sich nur an bestimmten Regeln und Beispielen orientieren und üben, üben, üben. Also: Yes, we can …

Die Rede kann man unter folgender Adresse finden:

http://de.youtube.com/watch?v=Fe751kMBwms

 

Quellen:

FAZ: Die politische Theologie des Barack Obama: Online unter:

http://www.faz.net/s/RubCF3AEB154CE64960822FA5429A182360/Doc~E96DD2AE0DE184CFCB83BC1EB89BF8EE6~ATpl~Ecommon~Scontent.html

(Stand: 28.06.08)

Freitag26: Im Sog des „Wir“: Online unter:

http://www.freitag.de/2008/09/08090102.php (Stand: 28.06.08)

Süddeutsche Allgemeine: Obama in Versen, Hillary in Prosa: Online unter:

http://www.sueddeutsche.de/kultur/artikel/84/153689/ (Stand: 28.06.08)

Youtube: Jeremiah Wright/Trinity United Church of Christ: Online unter:

http://www.youtube.com/watch?v=hAYe7MT5BxM&feature=related (Stand: 28.06.08)

Martin Luther King: „I hava a dream“


 

Katharina Matthes und Katharina Starzinger

Martin Luther King: "I have a dream"

 

Situationsinformation

“Ich habe einen Traum”. Nahezu jedem sind diese Worte, die aus Martin Luther Kings Mund stammen, ein Begriff. Anlässlich der großen Protestkundgebung March on Washington for Jobs and Freedom am 28. August 1963 hielt Martin Luther King diese Ansprache in Washington D.C. Vor dem Lincoln Memorial lauschten mehr als 250.000 Menschen seinen Worten.

Der Titel der Kundgebung March on Washington for Jobs and Freedom macht bereits klar, worum es King geht. Er setzt sich für Arbeit und Freiheit ein, genauer gesagt geht es ihm um die Gleichstellung der in den USA lebenden Afroamerikaner in Bezug auf Gleichheit, Freiheit und Arbeitsplätze.

 

Die Person Martin Luther King Jr.

Martin Luther King Jr. war ein US-amerikanischer Bürgerrechtler und Baptistenpastor. Er setzte sich insbesondere für soziale Gerechtigkeit und die Gleichstellung der Afroamerikaner in den Vereinigten Staaten von Amerika ein. Schon während des Studiums entdeckte er seine Leidenschaft für das Reden und nahm erfolgreich an mehreren Studenten-Wettbewerben teil. [http://de.wikipedia.org/wiki/Martin_Luther_King]

 

Redegattung

Bei der Rede “I have a dream” handelt es sich um eine Mischung aus Gerichts- und Beratungsrede. Zum einen handelt der Inhalt von Recht bzw. Unrecht,  zum anderen geht King stark auf die Vergangenheit ein. Beides spricht für eine Gerichtsrede. Im Laufe der Rede geht King jedoch sowohl auf die Zukunft als auch den Nutzen bzw. Schaden ein, diese Punkte sprechen für die Beratungsrede.

 

Ethos

Martin Luther King war zum Zeitpunkt der Rede schon ein bekannter Führer der Schwarzenbewegung. Am Beginn der Rede wurde er vorgestellt als „Dr. Martin Luther King“. Zusätzlich ist er einer der Redner, die vor einer großen Menschenmenge sprechen (dürfen). Aus diesen Gründen ist eine große Autorität und Kompetenzvermutung gegeben. Aufgrund seiner Bekanntheit und Verdienste darf man darauf schließen, dass er auch die Sympathie des Publikums genießt.

Trotz seiner „erhöhten“ Position (physikalisch wie sozial) kreiert Martin Luther King ein „Wir-Gefühl“, indem er wiederholt Phrasen mit „us“, „we“, „our“, etc. einbaut und auch Erfahrungen persönlicher Diskriminierung einbringt. Mit seinen einfachen, aber sehr deutlichen Sätzen erhöht sich seine Authentizität und die Verbindung zum Publikum wird nochmals verstärkt. Durch seine Sprachwahl und das Verhältnis zur Umgebung zeigt Martin Luther King, dass er für diese Botschaft lebt und die Freiheit der Schwarzen sein Lebensziel darstellt.

Der schwarze Anzug mit Krawatte unterstreicht die hohe Stellung Kings, sie steht im Kontrast zu den weißen Anzügen und Kopfbedeckungen der Männer im Hintergrund. Diese stehen in unmittelbarer Nähe direkt hinter ihm und scheinen seine Rede zu verfolgen, ohne jedoch dabei in komplette Starrheit oder Andächtigkeit zu verfallen. Dadurch wirken die Männer im Hintergrund als ebenbürtig und geben der Szenerie eine egalitäre Wirkung.

King beginnt seine Rede sehr langsam mit Pausen, nahezu zelebrierend gesprochen, später steigert er graduell die Geschwindigkeit, bleibt jedoch im Großen und Ganzen langsam. Kings Stimme ist die ganze Rede hindurch rhythmisch, wodurch sie eindringlicher wirkt. Dies verleiht ihm auch eine erhabene Wirkung. Der seriöse und bestimmte Gesamteindruck wird noch durch die durchgehend aufrechte und gerade Körperhaltung ergänzt. Er verwendet vor allem am Anfang kaum Gestik oder Mimik und setzt nur am Höhepunkt seiner Ansprache Handbewegungen und Gesten ein. Seine Stimme setzt King entsprechend dem ein, welche Stimmung er beim Publikum erzeugen will. Wird der Inhalt emotionaler, wird schneller gesprochen; Dem Inhalt wird somit auch auf paraverbaler Ebene Ausdruck verliehen.

Während die Mimik kaum expressiver wird, so wird Kings Stimme im Laufe der Rede oftmals vehementer und eindringlicher. Dadurch erzielt King den Effekt, dass er zwar klar und bestimmt vorträgt, jedoch nicht feindselig wirkt. Auffällig ist das ständige Ablesen der Rede von der Vorlage, dadurch ist der Blickkontakt zum Publikum sehr eingeschränkt.

 

Pathos

Pathos behandelt die emotionale Beeinflussung des Publikums – dies umfasst das Auslösen von gewissen Emotionen im Publikum sowie den Einsatz von rhetorischen Figuren, die bei gezieltem Einsatz Inhalte hervorheben bzw. verschleiern können.

In Bezug auf Pathos lässt sich Folgendes bei „I have a dream“ feststellen: Martin Luther King spricht in seiner Rede viele Werte an, er spricht von Freiheit, Armut, Diskriminierung – große Themen, die bewegen. Diese Punkte stellt King in starken Kontrast, indem er Antithesen verwendet – dabei stellt die Kontrastsyntax die Vergangenheit, das Positive die Zukunft dar. Durch den Einsatz des Stilmittels wird die Wichtigkeit der von King geforderten Ziele besonders hervorgehoben, hier einige Beispiele:

Kontrast-Vergangenheit

  • „night of their captivity”
  • dark and desolate valley of segregation
  • quicksands of racial injustice”
  • oppression”

Ziel-Zukunft

  • joyous daybreak”
  • sunlit path of racial justice
  • solid rock of brotherhood
  • freedom and justice

Neben Antithesen verwendet Martin Luther King weitere rhetorische Figuren. Geminationes verleihen wiederholten Wörtern innerhalb einer Periode eine besondere Bestärkung, die Wörter “history“, “again and again“, “destiny“, “go back to…“, “sons of…“ in Wiederholung sorgen für eine Bekräftigung des ganzen Satzes, in dem sie vorkommen.

Auch Anaphern bewirken die Hervorhebung eines wichtigen Wortes, in diesem Fall durch eine Wiederholung am Satz(teil)anfang; die Bestimmtheit des Gesagten erhält eine Steigerung und erhöht die Eindringlichkeit. Beispiele in der Rede sind “One hundred years later“ (4-fache Wiederholung), “We refuse to believe“ (2-fache Wiederholung), “Now is the time to…” (4-fache Wiederholung), “We must“ (2-fache Wiederholung), “We can never be satisfied as long as…” (5-fache Wiederholung), “With this faith we will be able to…” (3-fache Wiederholung).

Martin Luther King hat auch einige Allusionen eingebaut, dabei handelt es sich um Andeutungen auf Inhalte bekannter Texte. Er verweist dabei sowohl auf die amerikanische Verfassung (“We hold these truths to be self-evident, that all men are creates equal.”), als auch auf die Gettysburg-Rede Lincolns (“Five score years ago…”) und des Öfteren auf die Bibel. [http://en.wikipedia.org/wiki/I_Have_a_Dream]

Um einen detaillierteren Einblick in Martin Luther Kings Wortwahl zu erreichen, wird  der Text im Folgenden genauer betrachtet. In Zeile 3 erwähnt King den Schatten eines großartigen Amerikaners (“shadow of a great American“), womit er Abraham Lincoln meint. Dabei ist – wie oben erwähnt – der Beginn des Satzes eine Allusion auf eine Lincoln-Rede. Abraham Lincoln gab den Schwarzen mit der Emanzipationserklärung eine großartige Perspektive (“great beacon of hope“ (Zeile 4 f.)). Dabei spricht King indirekt die Werte Freiheit und  Selbstbestimmung an. Metaphorisch führt er aus, dass diese Erklärung wirke wie „joyous daybreak to end the long night of their captivity“, um dann festzustellen, dass die Erklärung noch immer nicht erfüllt ist: „But 100 years later, …“. Wenig später greift er diesen Umstand nochmals metaphorisch auf, indem er von einem Scheck spricht, der nicht gedeckt ist. Dabei kommt es zu großem Gelächter im Publikum. Inzugedessen spielt er auch mit „bank of justice“ auf das Treuegelöbnis und auf die amerikanische Flagge (Pledge of Allegiance) „… with liberty and justice for all“ an. King verweist auf die Grundrechte und kollektive Kulturelemente (Hymnen, Lieder), ebenso wie auf die Grundwerte der Vereinigten Staaten von Amerika.

Durch Antithesen stellt King Kontrastpaare her, wie zum Beispiel durch die Metaphern “lonely island of poverty“ (Zeile 9) und „vast ocean of material prosperity“ (Zeile 10). Sie zeigen und betonen den enormen Unterschied im Leben von Schwarzen und Weißen. Außerdem ist eine “lonely island“ von einem “vast ocean“ umgeben, was verdeutlicht, dass die Mehrheit aus Reichen besteht.

Durch das mehrmalige Wiederholen von „go back“, gefolgt von verschiedenen Regionen, spricht er Menschen aus den verschiedenen Konfliktzonen an. An die Menschen aus “Mississippi“ wird genauso appelliert wie an diejenigen aus “Georgia“ und anderen Staaten.

Die Metapher “it is a dream deeply rooted in the American Dream“ (Zeile 68) erklärt, wie selbstverständlich das Erreichen des Zieles eigentlich ist. Denn es ist das Grundrecht eines jeden Staatsbürgers, den Amerikanischen Traum zu verfolgen. Dies wird auch in der Wiederholung  des mit “I have a dream“ begonnenen Statements (Zeile 69-86), welches die Forderungen Kings beinhaltet, deutlich.

Der Redner erwähnt auch die Kinder, “children“ (Zeile 92), mit Blick auf künftige Generationen. Mit dem wiederholten Aussprechen des Wortes “together“ (Zeile 90) macht er klar, dass die Menschen nicht allein sind. Im Folgenden adaptiert er einen Liedtext (Allusion): “Let freedom ring…“ (Zeile 98-102) In den letzten Zeilen beschreibt King verschiedene Gruppen von Menschen, u. a. “Jews“, “Gentiles“, “Protestants“, “Catholics“ (Zeile 106 f.), wodurch er die Gleichheit der unterschiedlichen Gruppen hervorhebt, nicht nur von schwarz und weiß, sondern auch von verschiedenen Religionen. Er bedient sich religiöser Sprache, die sein Ziel für die Zukunft unterstreicht.

 

Logos

Logos behandelt die Inhalte, deren Plausibilität und Strukturierung, sowie die Argumentation und Beweisführung. Zuerst werden die wesentlichen Redeinhalte und ihre Strukturierung betrachtet.

Die Rede “I have a dream“ folgt einer nachvollziehbaren Gliederung; Sie ist in sechs Paragraphen unterteilt. Der erste und gleichzeitig kürzeste Paragraph stellt die Einleitung dar, in welcher der Redner hervorhebt, dass er sich für Freiheitsrechte einsetzt (Zeile 1 f.). Im zweiten Abschnitt erwähnt King die in der afroamerikanischen Bevölkerung ruhende Hoffnung, die bereits seit Jahren besteht, allerdings nie in die Tat umgesetzt wurde (Zeile 3-12). Im dritten Paragraph (Zeile 13-17) bezieht sich der Redner auf die Unabhängigkeitserklärung und die Tatsache, dass Schwarze immer noch Opfer von Diskriminierung und Ausgrenzung sind. Im nächsten Teil spricht King davon, was zum einen getan, zum anderen vermieden werden muss, um eine Veränderung der gegenwärtigen Zustände hervorzurufen. (Zeile 17-29) Im folgenden fünften Abschnitt (Zeile 30-66) bringt King dem Publikum seinen Willen, etwas zu verändern, noch einmal näher. Jeder soll sich angesprochen fühlen und so liefert der Redner viele Beispiele, mit welchen er jeden Zuhörer integriert. Im sechsten und letzten Paragraphen (Zeile 67-108) betont King zum wiederholten Male, dass Hoffnung und Glaube sehr wichtig zur Erreichung des Ziels der Gleichstellung und Vereinigung der Menschen sind.

Die Formulierungen und Darstellungen Kings wirken plausibel. Allerdings müsste man die Rede im historischen Kontext betrachten, da sie einige Jahrzehnte zurückliegt und die damalige Situation der Schwarz- und Afroamerikaner in den Vereinigten Staaten als nicht allgemein bekannt vorausgesetzt werden kann. Jedoch finden sich keine wesentlichen Einwände gegen die Inhalte, weshalb man davon ausgehen kann, dass die vorgetragenen Fakten plausibel sind.

Bei der Betrachtung der Argumentation und Beweisführung der Rede fällt auf, dass King sehr wenig argumentiert. Die Rede ist – vom Logos-Aspekt her – eine Auflistung von Fakten. Zu Beginn führt der Redner aus, dass nach 100 Jahren noch immer eine Reihe von Missständen besteht; Er schließt diesen Paragraph mit „And so we've come here today to dramatize a shameful condition.“ Er begründet also kurz die Demonstration als Folge der bestehenden Ungerechtigkeiten, also mit einem Ursache-Wirkung-Argumentationsmuster.

King setzt auf wiederholte Auflistungen der Umstände, die durch rhetorische Mittel unterstützt werden und dadurch umso eindringlicher werden:„We can never be satisfied as long as the Negro is the victim of the unspeakable horrors of police brutality. We can never be satisfied as long as our bodies, heavy with the fatigue of travel, cannot gain lodging in the motels of the highways and the hotels of the cities.“

Die Argumentation ist einfach und klar gehalten: „weil x nicht erfüllt ist, können wir y nicht“. Die Umstände sind zum einen klar und deutlich, zum anderen durch ihre Alltäglichkeit umso treffender und nachvollziehbarer für das Publikum. King verwendet weitere ähnliche Argumentationen im Paragraphen und schließt diesen dann mit einer generellen Forderung nach „justice“ (Gerechtigkeit) ab. Er bringt also konkrete Beispiele, die die Situation veranschaulichen und Projektionsfläche für das Publikum schaffen, um dann die generelle (abstrakte) Forderung zu äußern.

Generell lässt sich also sagen, dass King auf komplexe Argumentationen verzichtet. Jedoch wird die Eindringlichkeit und Qualität der gesamten Argumentation durch rhetorische Mittel und Anschaulichkeit verstärkt, wodurch diese allgemein verständlich und durch ihre stilistische Qualität auch intellektuell ansprechend und somit für ein breites Publikum geeignet ist.

 

Verhältnis von Ethos, Pathos und Logos

Die Rede stellt ein Musterbeispiel des Zusammenwirkens von Ethos, Pathos und Logos dar. King tritt seriös, klar und bestimmt auf, jedoch in einem Maße, welches nicht feindselig wirkt. Dies entspricht auch seinem Redeinhalt, wo er klare Forderungen stellt und gleichzeitig dazu aufruft, diese Forderungen ohne Gewalt einzufordern. Auch bei den angesprochenen Gefühlen geht er auf positive Werte, wie Freiheit, Gleichheit und Prosperität ein, anstatt an Rache oder ähnliche negative Werte zu appellieren. Er gibt damit in seiner Rede den gewaltfreien bestimmten Weg vor, dem seine Anhänger folgen sollen und wird so seiner Führungs- und Vorbildrolle gerecht.

 

Kritikpunkte

Es gibt im Wesentlichen nur einen klaren Kritikpunkt bei der Rede, nämlich den Umstand, dass King einen Großteil seiner Rede direkt abgelesen hat bzw. immer wieder längere Zeit auf seine Redevorlage geblickt hat. Dadurch konnte King keinen wirklichen Blickkontakt zum Publikum herstellen.

Video der Rede bei Youtube:

George Dennis Carlin: „Religion is bullshit.“


 

Joachim Wald und Raoul-André Wortmann

George Dennis Carlin: Religion is bullshit

 

Einleitung

„Religion is bullshit“ ist ein Kabarettstück des US-Amerikaners George Dennis Carlin. Carlin wurde 1937 in New York geboren und verstarb erst kürzlich, am 22. Juni 2008, in Santa Monica. Er war in den Vereinigten Staaten von Amerika als Stand Up Comedian äußerst erfolgreich und besonders als Tabubrecher bekannt. Er war nicht nur als Komiker, sondern auch als Schauspieler und Autor tätig.Absolute Höhepunkte in Carlins Karriere stellten die zahlreichen Grammy Awards dar.

„Religion is bullshit“ fällt in das Genre Kabarett. George Dennis Carlin hat dieses Stück nicht nur unzählige Male eingeübt, sondern auch schon oft aufgeführt. Das stellt natürlich nicht den Standard für eine durchschnittlichen Rede dar, da eine Rede im Normalfall nur einmal gehalten und nicht so vehement eintrainiert wird wie ein Kabarettstück.

 

Redegattung

Bei dem Kabarettstück handelt es sich um eine Tadelrede. Die Hauptaufgabe einer Tadelrede besteht darin, zu belehren und zu unterhalten. Carlin kritisiert den (monotheistischen) Glauben der Menschen und tadelt dabei scheinbar Gott, doch bei genauerer Betrachtung wird klar, dass er vielmehr das von den Menschen erdachte Konzept von Gott kritisiert.

 

Situationsinformation

In seinen Programmen arbeitete der Komiker meist mit Sprache, Psychologie und insbesondere der Religion. In seinen späteren Auftritten nimmt er mit Vorliebe auch vermehrt die amerikanische Politik aufs Korn.

In seinen Comedy-Programmen arbeitete George Carlin meist mit aktuellen sowie mit kulturellen und anderen Themen. In den Stücken konnte er unter dem Schutzmantel von Sarkasmus und Ironie sehr gut seine eigenen Einstellungen und Meinungen vermitteln. In der hier analysierten Situation und dem hier behandelten Teil des Programms spricht Carlin über Religion und bezeichnet ihn als „Religion is bullshit“.

Die Aufführung, welche zum wiederholten Male aufgeführt wurde, findet auf der Bühne der Bass Performance Hall in Fort Worth, Texas, statt. Die Bass Performance Hall war ausverkauft, was die Vermutung nahe legt, dass das Publikum Carlin wohlgesonnen war und seine Fähigkeiten als „Unterhalter“ schätzte (Kompetenzvermutung).

 

Ethos

George Carlins Darstellung ist sehr expressiv gehalten. Sein Energielevel ist während des gesamten Kabarettstücks sehr hoch. Er wirkt sehr impulsiv und aufgeweckt und setzt seine Mimik, Gestik, Körpersprache und Stimme mit großer Variation und überzeichnet ein. Dabei untermalt und unterstreicht Carlin die textlichen Inhalte. Er verändert zum Beispiel seine Körperhaltung und  -bewegungen, um sie dem Inhalt anzupassen. Wenn Carlin positiv über Gott spricht, dann steht er relativ gerade und spricht in einem normalen Ton. Geht es jedoch um negative Eigenschaften Gottes, dann bückt er sich weiter nach unten und spricht auch in einem wesentlich tieferen Ton. Ebenso reißt er seine Augen weit auf, wenn er über Gott spricht. Das wirkt so, also wolle er über etwas sehr Wichtiges und Großes reden. Gleichzeitig macht er sich jedoch auf inhaltlicher Ebene darüber lustig.

Das Auftreten Carlins in schwarzer Kleidung mit seinen grauen, nach hinten gelegten Haaren und ebenfalls grauem Vollbart gibt ihm einen intellektuellen und existentialistischen Touch. Er erfüllt genau "das Klischeebild des melancholischen, meist schwarz gekleideten jungen Existentialisten, der zwischen Jazzkeller, Cafe und Universität" (http://de.wikipedia.org/wiki/Existentialismus) verkehrt.

Der Ton macht die Musik und Carlins Tonspektrum ist sehr vielseitig. Er verfügt über eine hohe Stimmvariation, welche er mit nonverbalen Elementen noch unterstreicht. Hingegen greift er auf der anderen Seite auf einen sehr einfachen Wortschatz zurück. Die Sprache ist leicht verständlich und beinhaltet kaum Fremdwörter. Schimpfwörter dagegen kommen zahlreich vor. Generell wirkt Carlin trotz der bewusst eingesetzten Darstellung sehr authentisch.

 

Pathos

„Religion is bullshit“ setzt sich mit Religion, Glauben und Gott auseinander; dabei handelt es sich um sehr emotionale Themen, da diese Themen eng mit Werten und Glaubensüberzeugungen der Menschen  verwoben sind. Kritik oder gar ein Angriff auf persönliche Werte oder Glaubensvorstellungen löst üblicherweise starke emotionale Reaktionen der betreffenden Person aus. Carlin nähert sich dieser schwierigen Thematik auf humorvolle Art und Weise. Gott an sich wird als Person betrachtet, wodurch er auf eine Stufe mit dem Menschen gestellt wird. Carlin spricht beispielsweise von Gott teilweise einfach als „guy“. Folgende Passage ist ein gutes Beispiel für die Personifizierung von Gott: “And by the way, I say 'this guy' because I firmly believe, looking at these results, that if there is a God, it has to be a man. No woman could or would ever fuck things up like this.” In dieser Äußerung macht sich Carlin nebenbei auch noch über die “männliche Spezies” lustig.

Carlins einfacher und mit Schimpfwörtern durchsetzter Wortschatz steht im Gegensatz zum hohen inhaltlichen Niveau des Themas. Diese Diskrepanz sorgt für eine emotionale „Grundspannung“, die mit entsprechendem Humor schnell in Gelächter verwandelt wird. Als Beispiel sei die Aussage „Holy Shit!“ genannt, die in diesem Kontext einen Wortwitz darstellt und auch den oben genannten Gegensatz illustriert. Des Weiteren spricht Carlin immer wieder alltägliche Umstände an, wodurch ein persönlicher Bezug für das Publikum hergestellt wird.

Carlin erzeugt großes Gelächter im Publikum – zum einen durch seine übertriebene non- und paraverbale Darstellung, zum anderen durch seine Angriffe auf althergebrachte Glaubensvorstellungen und Angewohnheiten. Diese Vorstellungen und Gewohnheiten werden überzeichnet und in einfachen Sachverhalten dargestellt, dadurch nimmt Alltägliches geradezu groteske und lächerliche Formen an, wie zum Beispiel: „Religion has actually convinced people that there's an invisible man living in the sky who watches everything you do, every minute of every day.“ Durch den Vergleich der Bibel mit populären Geschichten und Kindererzählungen erzeugt Carlin nicht nur einen Wiedererkennungseffekt, sondern erntet durch dieses kuriose Gegenüberstellen der Bücher auch viel Gelächter. Im Publikum löst folgende Passage ungemein großen Beifall aus: „And for those of you who look to The Bible for moral lessons and literary qualities, I might suggest a couple of other stories for you. You might want to look at the Three Little Pigs, that's a good one. Has a nice happy ending, I'm sure you'll like that.“

George Carlin verwendet als weiteres Stilmittel Zynismus. Zynismus wird oft fälschlicher Weise mit Sarkasmus verwechselt. Zynismus beschreibt die Herabsetzung von Wertvorstellungen anderer Menschen, aber auch die grundsätzliche Infragestellung moralischer Werten. Ein Beispiel hierfür in „Religion is Bullshit“ ist: „But people do pray, and they pray for a lot of different things, you know, your sister needs an operation on her crotch, your brother was arrested for defecating in a mall. But most of all, you'd really like to fuck that hot little redhead down at the convenience store. You know, the one with the eyepatch and the clubfoot? Can you pray for that?…“. In diesem Beispiel zieht Carlin nicht nur das Beten an sich ins Lächerliche. Er leitet vom Beten sogar über auf ein – in der Öffentlichkeit/Fernsehen – wenig angesprochenes Thema, nämlich Sex. Durch diese extreme Gegenüberstellung zweier Dinge, die sich in moralisch gesehen an zwei entgegensetzten Polen befinden, spielt Carlin den Zynismus-Trumpf voll aus. Dies führt im Publikum zu lautem Beifall und Gelächter.

 

Logos

Carlins Rede enthält eine Vielzahl von Argumenten, welche sich hauptsächlich auf kunstgemäße/technische Beweise stützen. Seine Beweisführung stützt sich auf eine Vielzahl von allgemeinen Aussagen über das tägliche Leben und der populären Vorstellung des monotheistischen/christlichen Glaubens. Diese Aussagen setzt er meist so in den Kontext, dass sie einen Widerspruch (Kontradiktion) ergeben.

 

In den meisten Fällen sind die Argumente logisch und plausibel. Jedoch zieht Carlin keine klare Trennlinie zwischen Religion, Kirche und Gott. So kritisiert er Religion allgemein, obwohl er sich inhaltlich nur im monotheistischen „Bereich“ bewegt. Oder wenn er behauptet, dass Gott immer mehr Geld braucht, spricht er eigentlich nur die jeweiligen Kirchen an. Abgesehen von diese Ungenauigkeiten macht Carlin keine größeren Fehler in seiner Argumentation und der inhaltlichen Darstellung.

 

Wie schon erwähnt bedient sich Carlin hauptsächlich des Widerspruchbeweises, wobei er oft nur die Prämissen anführt und die Konklusion dem Publikum überlässt, wie zum Beispiel zu Beginn
  1. Bei Verstoß gegen die Gebote schickt Gott dich/den Sünder für immer in die Hölle.
  2. Gott liebt dich/alle.

Carlin kommentiert diesen Widerspruch nicht weiter; stattdessen beschreibt er in seiner Präsentation zunächst die Hölle und fügt dann lakonisch an: „But he loves you!“.

Manchmal führt Carlin die Konklusion auch aus, wie im Folgenden beim klassischen Problem der Theodizee:

  1. Gott ist allmächtig, allgütig und allwissend.
  2. Es gibt Krieg, Elend, etc. auf der Welt.
    Carlin präsentiert dieses Argument in Form einer Personifikation Gottes, indem er anmerkt, dass diese Ergebnisse nichts auf dem Lebenslauf eines höheren Wesens verloren haben. Deshalb zieht er den Schluss, dass Gott
  3. mindestens inkompetent und vielleicht gleichgültig gegenüber der Situation ist.

Im Bereich der Topik zieht Carlin hier die Fundorte für die Beweise aus der Person und der Sache. Da wären die Herkunft (natura), Taten (facta) und Gewohnheiten (habitus): Gott, Inkompetenz und Gleichgültigkeit. Bei der Sache sei die Wirkung (eventus) in Form von Krieg etc. genannt.

Seine Kritik an Gott fasst Carlin in einem Satz zusammen, indem er eine klare, harte und eindeutige Aussage trifft, die er – in ihrer Präsentation – nur dadurch abschwächt, dass er sie auf sich selbst bezieht:

"So rather than be just another mindless religious robot, mindlessly and aimlessly and blindly believing that all of this is in the hands of some spooky incompetent father figure who doesn't give a shit, I decided to look around for something else to worship.
Die implizite Argumentation ist klar:

  1. Wenn man an (diesen) Gott glaubt,
  2. dann ist man „ just another mindless religious robot…“

Inhaltlich bedient sich Carlin nicht nur direkter, sondern auch indirekter Angriffe. Im Mittelteil seines Stücks geht Carlin (scheinbar) darauf ein, warum er die Sonne verehrt. Dabei zählt er jedoch alle die Punkte auf, die im Licht der üblichen religiösen Praxis lächerlich wirken bzw. von ihm als lächerlich dargestellt werden: „Sun worship is fairly simple. There's no mystery, no miracles, no pageantry, no one asks for money, there are no songs to learn, and we don't have a special building where we all gather once a week to compare clothing. And the best thing about the sun, it never tells me I'm unworthy.“

Dies hat mehrere Vorteile: Durch die kontrastreiche Darstellung ist es leichter, alltägliche übernommene Verhaltensweisen bloßzustellen. Außerdem werden die teilweise sehr harten Feststellungen abgeschwächt, da sie in umgekehrter Form angebracht werden. Schließlich hat die indirekte Formulierung einen eigenen humoristischen Effekt.

Gegen Ende des Stücks äußert sich Carlin noch gegen die Praxis des Betens. Er führt dabei einen Widerspruchsbeweis, wobei er die Effektivität des Betens und den göttlichen Plan gegeneinander antreten lässt: Wäre Beten erfolgreich, dann könnte es den göttlichen Plan beeinträchtigen. Also muss entweder Beten sinnlos sein oder der göttliche Plan kann durch Beten beeinträchtigt werden.

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass George Carlin sehr viele Argumente aufzählt, welche die Sinnlosigkeit von Religion deutlich machen sollen. Somit überzeugt er das Publikum und zieht es auf seine Seite. Carlin beschreibt viele religiöse Gewohnheiten und Gegebenheiten und stellt diese als sinnlos und lächerlich dar. Die einzelnen inhaltlichen Teile des Kabaretts werden nicht ein- oder übergeleitet, was den Eindruck erweckt, als würde Carlin von einem Thema zum nächsten springen. Das gesamte Kabarett-Stück wirkt inhaltlich logisch und ist leicht verständlich. Die zentrale Aussage findet sich kurz und prägnant in der dem Titel des Stücks wieder: „Religion is bullshit“.

 

Verhältnis Ethos-Pathos-Logos

Das Verhältnis von Ethos, Pathos und Logos ist bei diesem Kabarett unserer Meinung nach sehr gut abgestimmt. Auch wenn es so scheinen könnte, dass Carlin seine Gags spontan bringt, so ist dieses Stück sicherlich dutzende Male geprobt und einstudiert worden. Carlin setzt zum richtigen Zeitpunkt Pausen, um dem Publikum „Zeit zum Lachen“ zu geben. Er wartet auch das Gelächter ab, um im richtigen Zeitpunkt wieder zu starten. Ein gutes Beispiel für das Zusammenspiel von Ethos-Pathos-Logos ist die kurze, folgende Passage: „And I say, fine. Pray for anything you want. Pray for anything, …” Während dieses Satzes geht Carlin locker kleine Schritte umher, bewegt die Hand gleichmäßig locker von einer Seite auf die andere. Er hält die Augen eher geschlossen, so als würde er „ein Auge zudrücken“. Dabei spricht er langsam mit angenehmer Stimme. Dann folgt der Satz: „… but what about the Divine Plan?” Das “but” wird begleitet, in dem er den Zeigefinger zur Warnung anhebt. Das „but“ wird kurz und laut ausgesprochen. Und Carlin reißt wieder die Augen auf, da er wieder von „dieser wichtigen Sache“ spricht. Das Beispiel macht schön deutlich, wie Carlin Ethos, Pathos und Logos einsetzt, um dem Publikum mit emotionaler, rationaler und darstellerischer Prägnanz eindringlich Inhalte zu vermitteln.

 

Anmerkungen/Lernfaktor

„Religion is bullshit“ ist ein gutes Beispiel für perfekt eingesetzte Gestik und Mimik. Das Zusammenspiel mit dem Gesagten ist optimal. Es scheint fast so, also wäre jedes Detail geplant und bewusst ausgeführt, trotzdem wirkt alles spontan und authentisch. Das macht Professionalität aus. Somit ist es uns nicht möglich, Verbesserungsvorschläge zu diesem Kabarettstück zu machen. Hingegen kann man gerade in Bezug auf Körpersprache viel von Carlin lernen, da jede Gestik/Mimik/Körperhaltung zu gesprochenem Wort und Inhalt passt.

Das Video zur Rede kann unter folgender Adresse gefunden werden:

 

Erfahrungsbericht


Bernhard Kast

Moderne rhetorische Rollenmodelle – Erfahrungsbericht

Die Idee für die Lehrveranstaltung „Moderne rhetorische Rollenmodelle” war, dass eine Redeanalyse und somit indirekt eine Modellierung von vorbildlichen Reden auf der Basis von Videomaterial durchgeführt wird. In Büchern und auch Kursen war es lange Zeit üblich, Beispielreden nur in schriftlicher Form zu bearbeiten. Diese Praxis war durchaus sinnvoll, doch durch die mittlerweile hohe Verfügbarkeit von Onlinevideos, DVDs und anderen multimedialen Quellen steht ein breites Spektrum an vorbildlichen Reden in guter Ton- und Bildqualität zur Verfügung, was die Verwendung von entsprechenden „multimedialen Inhalten“ zur logischen Folge hat.

Ein weiterer Aspekt war, die Theorie anhand von Beispielen direkt zu veranschaulichen, also den Studierenden mehr zu „zeigen“, als zu „erklären“. Aus diesem Grund wurde die Lehrveranstaltung von mir auch so konzipiert, dass der Vortrag des Lehrenden nur einen kleinen Teil ausmachen sollte; die offene Diskussion und Teamarbeit dagegen sollten im Vordergrund stehen. Ebenso sollten die Studierenden selbst die Möglichkeit erhalten, in den „Genuss“ von gruppendynamischen Prozessen (=Vortrag mit anschließender Diskussion und Moderation durch die Studenten selbst) zu kommen.

Die konkreten Inhalte orientierten sich an den drei aristotelischen Überzeugungsmitteln Ethos (Person des Redners), Pathos (emotionale Beeinflussung des Publikums) und Logos (Argumentation). Meine Absicht war, für diese Trias ein bewusstes Grundverständnis zu schaffen, welches durch wiederholte Analysen zu einem (unbewussten) „Grundgespür“ führen sollte. Um die erlernten Inhalte nochmal zusammenfassend anzuwenden, sollten in Zweiergruppen Kurzartikel in Form einer Redeanalyse für die Plattform „Rheton“ der Universität Salzburg erstellt werden. Soviel zu den Überlegungen, dem Rahmen und der Theorie. Im Folgenden möchte ich konkret ausführen, was funktioniert und was nicht funktioniert hat und welche Erfahrungen ich aus meiner Lehre gezogen habe.

Die Einbindung der Studierenden durch Vorträge mit selbstmoderierter Diskussion und Informationssammlung ist sehr gut gelungen. Für manche Studierende war es kein Problem, die Gruppen so zu leiten, dass die Diskussion und Informierung erfolgreich verlief. Andere Studenten wiederum scheiterten daran kläglich und lernten dadurch, welche Fehler man vermeiden sollte.

Eine Herausforderung, die ich leider zu spät als solche erkannte, war, den Studierenden Sinn und Zweck des Kurzartikels nahezubringen. Dies hatte zwei Gründe: Zum einen war ich selbst vom generellen Nutzen sehr wohl überzeugt; bestand doch meine Diplomarbeit zum Großteil aus einer Redeanalyse. Zum anderen aber betrachtete ich die Verfassung des Artikels nicht als grundlegend für den Kurs. Dementsprechend stiefmütterlich behandelte ich die Promotion des Lerneffekts.

Aufgrund der Tatsache, dass die bisherigen analysierten Reden meist in geschriebener Form vorlagen, legte ich einen Schwerpunkt auf die nonverbalen und paraverbalen Inhalte. Deshalb wurde der eigentliche Redeinhalt teilweise vernachlässigt, der bei Textanalysen im Vordergrund stand. Infolgedessen verzichtete ich auch auf eine generelle Behandlung von Argumentationstheorie und -analyse, die für gewöhnlich Inhalt eines eigenen Kurses sind. Bei der Vorbereitung einen zukünftigen Kurses ist es daher nötig, wohl mindestens zwei bis vier Einheiten für Argumentationsanalyse einzuplanen und entsprechende Literatur bereitzustellen.

Das Hauptziel, nämlich den Studierenden ein Grundverständnis und „Grundgespür“ für Ethos, Pathos und Logos zu vermitteln, wurde erreicht. Bei der Feedbackrunde in der letzten Einheit erzählte eine Studentin, dass sie inzwischen selbst bei Referaten und Gesprächen „automatisch“ und nebenbei die drei Überzeugungsmittel zu analysieren begänne, woraufhin andere Studierende Ähnliches berichteten. Dies stellt eine enorme Steigerung zu unseren ersten im Unterricht durchgeführten Analysen dar, wo die Studierenden noch erhebliche  Schwierigkeiten hatten, einige wenige Punkte zu erkennen.

Bei der Korrektur und redaktionellen Nachbearbeitung der Artikel wurde mir klar, dass sich bei manchen Studierenden einige Ungenauigkeiten und auch Fehler eingeschlichen hatten, wohingegen andere Studierende genau und korrekt vorgingen. Eine Ursache dafür dürfte sein, dass die gemeinsamen Diskussionen über die Reden für manche Studierenden zu wenig hinreichend bzw. meine Darstellungen nicht immer ausführlich genug waren. Aus diesem Grund scheint es mir sinnvoll, in Zukunft während des Semesters ein bis zwei schriftliche Überprüfungen durchzuführen, die als fachliches Feedback für den Lehrenden dienen sollten. D.h. jene Aspekte, die von den Studierenden nicht oder falsch beantwortet werden, sollten richtig gestellt werden bzw. neuerlich erklärt werden. Äußerst interessant war der Umstand, dass die praktischen rhetorischen Fähigkeiten indirekt proportional zu der Qualität der Artikel waren, d.h. jene Studierende, die sich als sehr gute Vortragende erwiesen haben, haben bei der Analyse meist essentielle Punkte nicht ausreichend beschrieben (oder beschreiben können?).

Die Stimmung war den ganzen Kurs über locker, die Inhalte und Diskussionen haben darunter keineswegs gelitten. Ganz im Gegenteil, eine explizite Aufforderung zur Mitarbeit war sehr selten nötig, ebenso hielten sich die Störungen durch Gespräche sehr in Grenzen. Böse Zungen mögen behaupten, dass dies daran lag, dass einer der üblichen Störenfriede nicht mehr als Student, sondern als Lehrveranstaltungsleiter anwesend war.   

Wahlkampfabschlussrede von Wilhelm Molterer


 

Katrin Erschbaumer, Barbara Schnitzer

Rede zum Wahlkampfabschluss von Wilhelm Molterer

Situation

Diese Rede von Wilhelm Molterer klassifizieren wir als Lobrede auf Erwin Pröll. Sie wurde am 6.03.2008 in Niederösterreich gehalten. Molterer geht es in erster Linie darum, den „Irrtum der Wähler“ von 2006 (dass ein roter Bundeskanzler gewählt wurde) zu korrigieren.

Ethos

Anzumerken ist, dass diese Rede etwas geschnitten ist, was die Spannung gleich am Anfang steigert. Der Schnitt hat allerdings den negativen Effekt, dass der Übergang von einer „Szene“ in die nächste nicht fließend ist. Schnitteffekte sind oft Hilfsmittel, eine Rede dynamischer erschienen zu lassen. In Molterers Rede wurde dieser Effekt nur am Anfang angewandt. Die Rede dauert zusammengeschnitten zirka zehn Minuten.

Wilhelm Molterer steht auf einer Bühne hinter einem Rednerpult und spricht zu einem großen Publikum. In der ersten Reihe sitzt Erwin Pröll, auf welchen sich die Rede zum Teil bezieht. Das Publikum trägt größtenteils Schals und schwingt Fahnen in den Farben der Niederösterreichischen Volkspartei. Das gesamte Publikum ist also auf der Seite von Molterer. Dies ist natürlich ein großer Vorteil, weil Molterer sich anders darstellen und andere Worte benutzen kann, als vor einem Publikum, das sowohl aus Befürwortern, als auch aus Gegnern besteht. Auf einer neutralen Wahlkampfrede würde er sicher niemals den „roten Bundeskanzler“ als „Fehler“ bezeichnen. Das Publikum wird außerdem oft von der Kamera gefilmt, die die Rede aufzeichnet. Vor allem beim Jubeln wird das Publikum oft gefilmt. Dies hat den Effekt, dass die Stimmung immer besser wird bzw. dass der Zuseher von den Emotionen, die das „unmittelbare“ Publikum vermittelt, ebenso beeinflusst wird.

Molterer gibt sich sehr selbstbewusst und sicher. Er nimmt im Laufe seiner Rede mehrere Rollen ein. Zum einen die des Lehrers: Molterer gestikuliert vor allem mit seinen Händen. Da er hinter einem Rednerpult steht, hat er nur die Möglichkeit, den oberen Teil seines Körpers einzusetzen. Die Lehrerrolle ist vor allem am Heben des Zeigefingers erkennbar. Der Lehrer will seine Schüler belehren, ihnen vielleicht sogar unbewusst drohen, wenn sie ihm nicht gehorchen. Eines ist jedoch ganz klar, er vermittelt:„Ich weiß Bescheid“ – nicht nur äußert er dies praktisch 1:1 auf inhaltlicher Ebene, sondern auch auf paraverbaler Ebene mit lauter und energischer Stimme. Die Rolle des Lehrers wird durch die eines Verkäufers ergänzt. Er will die Partei gut verkaufen und von ihrer besten Seite  darstellen. Die Zuhörer sollen ihm seine Rede bzw. seine Partei und Erwin Pröll „abkaufen“.

Durch seine Kleidung wirkt Molterer sehr seriös und glaubwürdig. Er trägt einen dunklen Anzug und eine hellblaue Krawatte. Seine Kleidung ist in dieser Hinsicht nichts Besonderes, weil jeder, der die Rede verfolgt, auch nur dies von einem guten Politiker erwartet. Würde Molterer in Jeans und Bermudahemd auftreten, hätte er von Anfang an schlechte Karten, als Politiker überhaupt ernst genommen zu werden.

Molterers Gestik und Mimik stimmen mit seinem Redeinhalt überein. Er unterstützt ihn außerdem mit gezielten Handbewegungen und Gesichtsausdrücken. Auffällig ist, dass er häufig den Mundwinkel nach oben zieht. Hierbei gewinnt man den Eindruck, dass er dies unbewusst macht, da es wie ein „Tick“ aussieht. Es wirkt allerdings authentisch und daher sympathisch.

Seine Körperhaltung wirkt standhaft und solide. Molterer hält stets Blickkontakt mit dem Publikum und mit Erwin Pröll, wenn er in seiner Rede von ihm spricht. Blickkontakt ist bei der Persuasion sehr wichtig. Würde sich Molterer ständig an Notizen festklammern oder diese herunterlesen, könnte er niemals so große Überzeugungsarbeit leisten oder diese Stimmung hervorrufen. Mit seinem ständigem Blickkontakt hält Molterer den „Draht“ zu seinem Publikum.

Molterers Auftreten beinhaltet autoritäre und auch „volksnahe“ Elemente. Durch sein sicheres Auftreten, seinen ständigen Blickkontakt und seine gezielten und ruhigen, aber starken Gesten, wirkt Molterer sehr autoritär. In seiner Rede bezieht er sich immer wieder auf sich selbst, was den Anschein erweckt, er würde alles wissen und sich überall auskennen. Im Hintergrund stehen außerdem Leute in Anzügen in einer Reihe. Es wirkt fast ein bisschen so, als wären diese sein Gefolge, seine „Diener“, und er der „König“.

Durch den Einsatz seines Dialektes, zum Beispiel „des sog i“, „kloar“, „bei di Leit is“ etc. schafft Molterer eine Verbindung zum „einfachen Menschen“. Dies ergänzt seine autoritäre Selbstdarstellung, da er sich nicht als „gebildeter Besserwisser“ (Intellektueller, Akademiker) präsentiert.  Er weiß, dass sein Publikum größtenteils im Dialekt spricht und so kann er sich geschickt als „einer von ihnen“ positionieren. Er benutzt ebenfalls keine Fachausdrücke und eine einfache Sprache. Da er weiß, dass das große Publikum, das er zu überzeugen hat, nicht nur aus Akademikern besteht, kann er durch diese einfache Sprache eine breite Masse erreichen und wirkt nicht hochnäsig. Molterer gelingt die Kombination und Integration der beiden Rollen „Autoritätsperson“ und „ich bin einer von euch“, dadurch wirkt er weder zu ernst oder zu „flapsig“.

Molterers Stimme ist allgemein sehr kräftig und an bedeutenden Stellen wird er lauter. An anderen Stellen spricht er verhältnismäßig leise und langsam, um gewisse Passagen in seiner Rede sanft und gutmütig erklingen zu lassen. Beispielsweise in diesem Abschnitt:

[Leise] „Um deine österreichische Volkspartei, lieber Erwin, und mir ist dein Wahlkampfauftakt dieses Spiels, das durch die österreichischen Zeitungen gegangen ist, diese tiefe Erinnerung, wo du mit diesem Kind redest. Und wissen Sie, was verantwortungsvolle Politik ist? Heute die Politik so zu gestalten, dass man morgen den Kindern in die Augen sehen kann.“ [Laut] „In Niederösterreich herrschen klare Verhältnisse, in Niederösterreich gibt’s klare Mehrheiten und in Niederösterreich gibt’s klare Positionen. Das ist die Grundlage des Erfolges in diesem Land, liebe Freunde, und das hat Niederösterreich stark gemacht.“

Pathos

Molterer tritt sehr energisch auf. Das Publikum wird unter anderem durch emotionale Äußerungen beeinflusst. Ebenso spricht Molterer wiederholt verschiedene Werte an, diese reichen von generellen politischen Konzepten wie „Sicherheit“ zu persönlichen Qualitäten wie „Handschlagqualität“. Dabei nutzt Molterer wiederholt private Erzählungen, um Betroffenheit und Authentizität zu erzeugen:

„Um deine österreichische Volkspartei, lieber Erwin, und mir ist dein Wahlkampfauftakt dieses Spiels, das durch die österreichischen Zeitungen gegangen ist, diese tiefe Erinnerung, wo du mit diesem Kind redest. Und wissen Sie, was verantwortungsvolle Politik ist? Heute die Politik so zu gestalten, dass man morgen den Kindern in die Augen sehen kann.“

Beim folgenden Beispiel fallen besonders die häufigen Wortwiederholungen auf, Molterer nutzt hier die rhetorischen Figuren Anapher, Epipher und Geminatio. Durch die ständige Wiederholung wird die Urteilsfähigkeit des Publikums eingeschränkt und der geringe Informationsgehalt überspielt. Molterer setzt an mehreren Stellen rhetorische Figuren ein, insbesondere dann, wenn es um Positionen, Angriffe oder Lob geht. Die Figuren erhöhen die Eingängigkeit dieser Punkte und lenken von der – meist schwachen – Argumentation ab, wie unter Logos genauer ausgeführt wird. Wie zum Beispiel:

„Und ich schätze, ich schätze an dir lieber Erwin, eine Fähigkeit, die besonderen Charakter hat und besonderen Charakter zeigt. Du liebst die Menschen. Du suchst die Menschen. Du suchst den Kontakt. Und wenn du den Kontakt suchst, und weil du bei den Menschen bist, weißt du, wo sie der Schuh drückt“.

Molterer setzt noch andere rhetorische Figuren wie Metaphern und Vergleiche. Metaphern haben eine veranschaulichende Wirkung und überzeugen oft mehr als bloße Daten und Fakten. Metaphern können sowohl Dinge ausdrücken, die in anderer Form nicht passend ausgedrückt werden können, als auch abstrakte Sachverhalte vereinfacht darstellen. Ein Beispiel für eine einfache Metapher:

„Sie schlagen in Ihrem Land, liebe Niederösterreicherinnen und Niederösterreicher, am Sonntag ein neues Kapitel in dieser Erfolgsgeschichte dieses Landes auf.“

Anhand der Analyse der Rede kann man feststellen, dass sich diese rhetorischen Figuren konstant durch die ganze Rede ziehen. Sowohl am Anfang, als auch in der Mitte und am Ende der Rede befinden sich Stilmittel, die die Rede lebendig erscheinen lassen und gewisse Inhalte hervorheben.

Häufig greift Molterer Feindbilder auf. Er erwähnt „gebrochene Wahlversprechen“, den „roten Kanzler“ bezeichnet er als Fehler. Als Gegensatz, und um sich und seine Partei aufzuwerten, geht er immer wieder auf „populistische“ Themen ein. Beispiele: Sicherheit, klare Verhältnisse…

Um das Publikum emotional zu beeinflussen, nutzt Molterer auch seine Stimme, seine Körpersprache und den Blickkontakt. Er wird lauter, wenn das Thema brisant wird, und leiser, wenn es um Kinder und die Heimat geht. Die Inhalte sind so gewählt, dass die Werte der (niederösterreichischen) ÖVP abgedeckt werden  (Erfolgsmodell, Sicherheitspolitik, klare Verhältnisse, keinen Kompromiss, etc.). Dadurch bringt er sein Publikum immer wieder zum Jubeln und Fahnenschwingen.  Allgemein benutzt Molterer eine sehr floskelhafte Sprache mit vielen gängigen Phrasen:

„Eure Volkspartei, eine Partei nicht nur der klaren Positionen ist in der Frage Sicherheit, Arbeit oder soziale Gerechtigkeit, sondern auch eine Partei ist, die auf einer Wertebasis, auf einer klaren Wertebasis Politik macht.“ „Bei dir ist ein A ein A und ein B ein B und ein Ja ein Ja und ein Nein ein Nein.“ „Sie schlagen in Ihrem Land, liebe Niederösterreicherinnen und Niederösterreicher, am Sonntag ein neues Kapitel in dieser Erfolgsgeschichte dieses Landes auf.“

Logos

Beim Logos geht es um Redeinhalt, die Beweisführung und die Strukturierung der Rede. Dabei werden auch Punkte wie inhaltliche Korrektheit und Plausibilität betrachtet.

Molterer macht einen inhaltlichen Fehler: Laut dem Lebenslauf seiner Homepage  (http://www.wilhelmmolterer.at/) ist er 1955 geboren, allerdings spricht er in seiner Rede davon, mehrere Regierungsformen[sic!] genossen“ zu haben, womit er allerdings nur Regierungskonstellationen oder Mehrheitsverhältnisse gemeint haben kann, sofern er sich auf die österreichische Geschichte bezieht.

Generell kommen wenige konkrete Aussagen vor. Molterer bleibt – von den Erzählungen abgesehen – auf einer sehr abstrakten Ebene. Er spricht dabei von „klaren Verhältnissen“, „klaren Positionen“, „Sicherheit“, „Vollbeschäftigung“, „sozialer Gerechtigkeit“, „Wertebasis“, „Erfolgsmodell“ und anderen Begriffen, die nicht näher ausgeführt oder bestimmt werden. Dementsprechend ist der Informationsgehalt sehr gering. Molterer bringt sehr wenige Argumente vor. Er zitiert sich ständig selbst, worunter die Plausibilität leidet.

Die Argumentation ist einfach gehalten – zwar ist sie nicht widersprüchlich, jedoch auch meist nicht wirklich schlüssig. Wie im folgenden Beispiel:

„In NÖ herrschen klare Verhältnisse, in NÖ gibt’s klare Mehrheiten und in NÖ gibt’s klare Positionen. Das ist die Grundlage des Erfolges in diesem Land liebe Freunde und das hat NÖ stark gemacht.„

  1. Es herrschen klare Verhältnisse, Mehrheiten und Positionen in NÖ.
  2. Deshalb ist NÖ erfolgreich und stark.

Ob hier Ursache („Klarheit“) und Wirkung (Erfolg) wirklich zusammenhängen, ist nicht klar. Molterer führt zwar noch ergänzend seine Erfahrung auf Bundesebene an, was vielleicht seine Partei zu überzeugen vermag, aber von einem allgemeinen Standpunkt aus betrachtet unzureichend ist. Ebenso führt Molterer aus, dass Erwin Pröll Handschlagqualität besitzt und begründet dies damit, dass er weiß, wovon er selbst spricht. Würde er dabei nicht auf sich selbst, sondern zumindest Kollegen verweisen, würde dies der allgemeinen Glaubwürdigkeit sicherlich zuträglich sein. Die Rede besteht hauptsächlich aus Aussagen und Behauptungen, die manchmal mit einer dürftigen Argumentation verbunden sind. Die Rede wirkt zwar verständlich und im Kontext überzeugend; Sie ist jedoch außerhalb einer Veranstaltung der niederösterreichischen Volkspartei keineswegs plausibel.

Eine Struktur ist in Molterers Rede nicht explizit erkennbar; Jedoch weißt sie eine gewisse Grobstruktur auf. Am Anfang geht Molterer auf die Volkspartei in Niederösterreich allgemein ein, dann auf konkrete politische Maßnahmen (Sicherheitsfrage, Bundesheereinsatz), darauf erwähnt er Lob für Erwin Pröll und zum Schluss sendet er einen Appell an die Wähler:

„Sie haben es in der Hand. Und ich rufe den Niederösterreicherinnen und den Niederösterreichern zu: Schafft Klarheit und wählt Erwin Pröll! Dann geht’s dem Land auch in Zukunft gut.“

Verhältnis von Ethos, Pathos und Logos

Unserer Meinung nach sind Ethos, Pathos und Logos gut aufeinander abgestimmt, wenn man davon absieht, dass nicht wirklich eine logische Struktur erkennbar ist. Molterer gelang es immer wieder, authentisch zu wirken. Das, was er sagte, stimmte meist mit seinen Gesten und seiner Mimik überein. Das Gesagte wird durch die paraverbalen und nonverbalen Elemente unterstützt.

Dass in seiner Rede nur wenige Fakten und Informationen auftauchen, wird dem Zuhörer nicht schnell bewusst. Es ging Molterer in erster Linie darum, sein Publikum zu begeistern und emotional zu berühren. Die Wortwahl der Rede ist ebenfalls geschickt, da viele Begriffe mehrmals auftauchen und daher große Wirkung besitzen. So zum Beispiel:

„liebe Freunde“, „Sicherheit“, „klare Verhältnisse“, „Verantwortung“, „eure Volkspartei“…

Kritik

Molterer gelang es, durch seine Rede das Publikum mitzureißen und zu motivieren, was am Jubel des Publikums ersichtlich war. Die Zuhörer fühlten sich angesprochen und emotional berührt, was vor allem daran lag, dass sie Anhänger der Niederösterreichischen Volkspartei sind. Die Rede war der Situation somit angepasst. Der größte Fehler Molterers war, dass er sich ständig selbst zitierte und nicht in der Lage war, gute und überzeugende Argumente vorzubringen:

Und ich weiß, wovon ich rede.“, „Ich hab mehrere Regierungsformen genossen…“, „Und ich sage Euch, das ist in der Politik gerade in bewegten Zeiten essentiell wichtig. Jemand als Partner zu haben, der Handschlagqualität hat, und auch hier weiß ich, wovon ich rede, meine Damen und Herren.“

Fazit

Die Rede klassifizieren wir allgemein als sehr gut. Sehr gut in dem Sinne, dass sie ihren Zweck, nämlich die Begeisterung, Überzeugung und Unterhaltung des anwesenden Publikums, voll erfüllt hat. Sieht man jedoch vom Kernpublikum ab, so muss man vor allem beim Logos mehr als ein Auge zu drücken, um von einem befriedigend sprechen zu können. Molterer merkt man an, dass er ein Profi ist, wenn es um politische Reden geht. Es ist nämlich nicht so einfach, das Publikum zufrieden zu stellen, zu überzeugen und mitzureißen. Man muss jedoch auch erwähnen, dass Molterer primär zu einem Publikum spricht, das seiner Partei folgt und damit seine Überzeugungen und Werte teilt.

Die Rede ist zu finden auf der Internetseite: http://de.youtube.com/watch?v=8BdFYdhb47A

Parlamentsrede von Dr. Gregor Gysi


 

Holger Weiss und Michael Wagmeister

Parlamentsrede von Dr. Gregor Gysi

 

Situationsinformation

In diesem Artikel wird eine Rede von Dr. Gregor Gysi analysiert, die dieser am 21. Juni 2006 während der 39. Parlamentssitzung des Deutschen Bundestages hielt. Anlass jener Rede ist der zum Haushaltsetat vorliegende Vorschlag der seit 2005 amtierenden großen Koalition (CDU/SPD). Geführt wird die Regierung durch die Bundeskanzlerin Frau Dr. Angela Merkel.

 

Der Redner – Dr. Gregor Gysi

Der am 16. Januar 1948 in Berlin geborene Gysi ist als promovierter Jurist und Rechtsanwalt gemeinsam mit Oskar Lafontaine Fraktionsvorsitzender der Linksfraktion im Bundestag. Die Linke stellt mit 53 der 612 zur Verfügung stehenden Sitze die zweitschwächste politische Kraft dar (8,7%). Lediglich das Bündnis 90/Die Grünen hat mit 51 Mandaten noch weniger.

 

Interessant erscheint am Rande, weniger für die Analyse des Redebeitrages als in Bezug auf die beiden zuvor genannten Persönlichkeiten, dass Gregor Gysi als ehemaliger DDR-Politiker und Parteimitglied bzw. Vorsitzender der SED-PDS (1989-1993) zumindest offiziell aufgefallen ist, z.B. durch sein Engagement im Neuen Forum oder auch, als einer der wenigen freien Anwälte der DDR, durch Vertretung von Ausreisewilligen und Regimekritikern. Schenkt man der Literatur Glauben, so galt hingegen die Familie der heutigen Bundeskanzlerin als nicht oppositionell. Die junge Kasner war nach ihrem Abitur als Studentin der Physik aktiv bei der FDJ (Freie Deutsche Jugend) sowie der Pionierorganisation Ernst Thälmann.

 

Einleitung und Überblick

Für die Analyse haben wir als Autoren uns für die aus unserer Sicht bewährte Dreiteilung nach Aristoteles entschieden. Es sollen die fließend ineinander übergehenden Überzeugungsmittel Ethos, Pathos und Logos dargestellt und mit passend erscheinenden Beispielen belegt werden. Inhaltlich lässt sich die Ausführung durch Gysi wie folgt gliedern:

  • Begrüßung + Witz (Deutsche Fußballnationalmannschaft)
  • Situation: Erwartete Information + Kurzübersicht: Innen- und Außenpolitik
  • Außenpolitik
    • Iran (Nutzung von Atomkraft, Waffenproblematik)
    • Amerika (Aggressive Außenpolitik gegenüber Iran)
    • EU (Verfassungsvorlage und Abstimmung)
  • Innenpolitik
    • Sanierungsfall (Kanzler Schröder)
    • Konzerne + Kritik an SPD (Steuerkonkurrenz)
    • Soziale Marktwirtschaft in Europa (Sozialabbau)
    • Körperschaftssteuer
    • Kritik an SPD (Ungerechtigkeit) + Mehrwertssteuererhöhung
    • Umfragewerte bewusst durch SPD manipuliert
    • ökonomische und politische Folgen
      • Kaufkraftverlust, Insolvenzen von Klein- und Mittelbetrieben
      • Deutschland als „Exportweltmeister“ vs. schwacher Binnenmarkt wegen Sozialabbau, Zustand der Verunsicherung innerhalb der Bevölkerung
      • Kürzung der Pendlerpauschale, Sparerfreibetrag
      • Hartz IV: zumutbare Arbeit, zu wenige offene Stellen
      • Arbeitslosengeld (SPD Kritik, CDU überholt SPD in puncto Sozialgerechtigkeit), „Abgeordnete müssen sich an eigene Nase fassen“
      • Ausbildungsplätze (Brief durch Altkanzler Kohl), typisch sozialdemokratisch: Output ≠ Outcomes
      • Elterngeld (geringes Zugeständnis zu Teilen der Vorschläge, Kritik der Umverteilung)
      • Privatisierung: öffentliche Altersdaseinsvorsorge und Bsp. Stromkonzerne
      • Föderalismus: Bundeslandwechsel, Kinder, Bildungsstandard
      • Deutsche Einheit: z.B. Landesminister vs. Marburger Bund (Klinikärzte), Gleichstellung West-Ost, öffentlich geförderter Beschäftigungssektor: Bund spart Arbeitslosengeld in Mecklenburg-Vorpommern
      • Fazit: Nein zum Etat (der LINKEN)

Auf diese sich herauskristallisierte Inhaltsabfolge wird hinsichtlich einer auffindbaren Strukturierung noch unter dem Punkt Logos eingegangen.

Wie bereits dargestellt handelt es sich bei der Rede um die eines Politikers im Rahmen einer Debatte des 16. Deutschen Bundestages. Wie sich im späteren Verlauf zeigt, handelt es sich bei dieser, wie zu erwarten war, um eine Beratungsrede, die in einigen Fällen auch Charakteristika der Gerichtsrede annimmt. Dies geschieht zum einen durch das Auftreten des Redners (siehe Ethos) und seine implizite Forderung nach Gerechtigkeit, wobei er sich hauptsächlich mit der Vergangenheit – dem Tathergang – auseinandersetzt. Die Grundausrichtung der Rede zeigt jedoch in die Zukunft und orientiert sich mehr an Nutzen/Schaden als an der Gerechtigkeit, weshalb es sich um eine Beratungsrede handelt. Die politische Ausrichtung der Linksfraktion im Hinterkopf, sollte sich der Zuhörer nicht wundern, dass die vorgetragenen Inhalte eine mehr oder weniger harsche Kritik an den Regierungsparteien darstellen.

 

Ethos

Im Folgenden soll die Rednerrolle von Gregor Gysi analysiert werden. Dazu wird die Selbstpräsentation des Redners betrachtet, zum Beispiel, welchen grundlegenden Charakter  eine Person in ihrem Beitrag einnimmt und mit welchen Mitteln dies geschieht. Gestik, Mimik, Ausdruck und andere nonverbale sowie paraverbale Eigenschaften werden ins Blickfeld gerückt, ebenso wie inhaltliche Aussagen. Dadurch wird untersucht, wie sich Gysi vor dem Publikum in Szene setzt.Gregor Gysi spricht bei dieser Rede im Deutschen Bundestag vor Parlamentskollegen.  Er tritt in seiner Funktion als Oppositionspolitiker, als „Anwalt der 'kleinen Leute' und sozial Schwachen“ auf.

Gysi macht einen sehr gefestigten und soliden Eindruck auf den Hörer/Seher. Der gepflegte Auftritt im schwarzen Anzug mit geschlossenem Jackett, Krawatte und weißem Hemd wird durch Eloquenz und beschriebenem Wortwitz unterstrichen. Die Begrüßung der Präsidentin und der Bundeskanzlerin ist freundlich und von angemessener Höflichkeit. Allerdings währt die positive Grundhaltung nicht lange – durch eine humoristische Offerte nimmt Gysi Bezug auf die vorhergegangene Rede Merkels, in der diese (offensichtlich) die Leistung der Fußballnationalmannschaft aufgriff und scheinbar im verallgemeinerbaren positiven Leistungszusammenhang mit der Regierungsarbeit  sah. In der restlichen Redezeit wirkt Gysi kämpferisch und orientiert sich klar am Dissens. Durch seine energische Stimmlage und regelmäßige Betonung seiner Gestik wirkt Gysi engagiert und glaubwürdig. Seine Stimme variiert wenig, sie ist meist kraftvoll und in einem aggressiven Ton gehalten, ebenso auf inhaltlicher Ebene, wo er eine Anschuldigung nach der anderen vorbringt. Dadurch wirkt er einerseits eben glaubwürdig und engagiert, anderseits ermüdet er damit auf Dauer die Zuseher. Er versucht nicht, Gemeinsamkeiten zu finden, sondern er sucht nach polarisierenden Gegensätzen. Dadurch positioniert er sich auch, aus seiner Sicht positiv, gegenüber den etablierten Regierungsparteien. Dabei führt er die Rolle des Anklägers, der sich gegen die Etablierten und Reichen wendet. Immer nimmt er bei seinen angesprochenen Themen den Bezug zu sozial Schwachen und stellt sie den „Vermögenden und Konzernen“ gegenüber.

Die direkte Anrede der „Schuldigen“ wird durch die Körperhaltung verstärkt. Zur Verdeutlichung: Beispielsweise wird der Umstand angesprochen und gleichzeitig kritisiert, dass die Kanzlerin den US-amerikanischen Präsidenten G.W. Bush zu Wahlkampfzwecken nach Deutschland eingeladen hat. Jetzt richtet sich Gysis Blick eindeutig zu der sich von ihm aus rechts befindlichen Sitzreihe der Regierung. Gleiches gilt im Falle Steinbrück: Auch der Finanzminister wird direkt angesprochen. Hierbei dreht sich der Sprecher abwechselnd zur sich rechts hinter ihm befindlichen Regierung und zu seiner eigenen Fraktion (traditionell) ganz links. Jedoch wird auch der Blickkontakt mit den übrigen Anwesenden gesucht. Dieses Wechselspiel der Blickrichtung macht sowohl dem neutralen Beobachter (Video) als auch den Betreffenden vor Ort deutlich, dass es dem Redner wichtig ist, dass seine Aussagen ihr Ziel treffen und ernstzunehmendes Engagement dahinter steht. Die Blicke Gysis wirken weder orientierungslos im Raum schweifend oder eine ungewisse Größe suchend, sondern passen stets zum Inhalt, den er vorträgt.

Durch oftmalig locker-lässiges Anlehnen am Pult (immer in Richtung der Regierungsbank) nimmt er der Bundestagsrede ihren förmlichen Charakter, zumindest scheint er die formale Haltung etwas aufzuweichen. Er nimmt dann immer direkt Bezug auf die Regierungsvertreter/innen, meist Bundeskanzlerin Merkel. („Frau Bundeskanzlerin, ich bitte Sie, wer George W. Bush für den Wahlkampf in Mecklenburg-Vorpommern braucht, der hat die Wahlen schon verloren…“). Dadurch kommuniziert er eine Art kollegiale Haltung gegenüber den Angesprochenen, was Gysi weniger formell wirken lässt. Ansonsten verhält er sich relativ statisch im Raum, wie es im Bundestag nicht anders zu erwarten ist. Dieser Umstand hängt u. a. mit der notgedrungenen Gebundenheit an das Rednerpult bzw. die Mikrofone zusammen.

Zur Rolle als Redner bleibt, sich aus der Analyse des Ethos ergebend, zu sagen, dass Gysi als Anwalt bzw. Chefankläger agiert. Die Mimik und Gestik sind durchwegs offensiv oder gar aggressiv, ebenso verhält es sich – wie bereits erwähnt – mit der Stimme. Ergänzend noch einige inhaltliche Ausschnitte, die dies widerspiegeln:

„Ich weiß noch, dass Herr Kohl damals sagte, es werde im Osten keine Massenarbeitslosigkeit geben und die Einheit koste kein Geld; es gebe keine Steuererhöhungen. Ebenso kann ich mich erinnern, dass Sie damals einen Spitzenkandidaten namens Oskar Lafontaine hatten, der sagte: Erstens wird es Massenarbeitslosigkeit geben und zweitens wird es zu Steuererhöhungen kommen.“ (Wichtig ist dabei das Wissen um den Umstand, dass Oskar Lafontaine heute ebenfalls zur Fraktion „Die LINKE“ gehört.) Gysi bezieht sich hier direkt auf die Aussagen der Gegenpartei und macht deutlich, dass damals bereits durch „seine Seite“ auf die negativen Folgen und Auswirkungen hingewiesen wurde. Hier ist die Parallele zu einem juristischen Gerichtsverfahren ganz offensichtlich. Durch Gegendarstellung des Sachverhaltes wird argumentativ der Vorteil gesucht. Hierbei wird auf die Leistung der eigenen Partei verwiesen und der Gegner in einer Form der Ignoranz dargestellt. Diesen Fehler der damaligen Regierung prangert Gysi nun an. Ebenfalls ein Beleg ist der Vorwurf gegenüber Merkel, sie verschweige bewusst Zahlen und Fakten. Auch diese Praxis lässt sich in Verhandlungen wieder finden. Ein Rechtsvertreter würde niemals dem Gericht Belege liefern, welche seinen Mandanten belasten, selbst wenn ihm diese unter Umständen bekannt sind. In der Rede lässt sich dieses wieder finden, wenn Gysi sagt: „Bestimmte Zahlen nennen Sie nicht. Ich will einmal die Steigerung einer Größe von 2004 zu 2005 nennen. Die Gewinne und Einkommen aus Vermögen sind im Vergleich von 2004 zu 2005 um 31 Milliarden Euro gewachsen. Im selben Zeitraum sind die Bruttolöhne und -gehälter der Bevölkerung um 5,7 Milliarden Euro gesunken.“ Solche Passagen, die von der Interessenvertretung sozial Schwacher zeugen, ziehen sich durch den gesamten Beitrag.

 

Pathos

Neben Ethos und Logos stellt der Pathos eines Redners ebenfalls einen Untersuchungsbereich bzw. ein weiteres Überzeugungsmittel dar. Die emotionale Beeinflussung des Publikums steht hierbei im Vordergrund. Eine mögliche Leitfrage ist beispielsweise: Welche Affekte und Gefühle werden im Publikum erzeugt?  Hierbei liegt der Fokus sowohl auf sprachlichen Stilmitteln und rhetorischen Figuren als auch auf Geschichten.

Gysi spricht die Emotionen der Zuhörer auf mehreren Ebenen an, zum einen geht er – meist indirekt – auf verschiedene Werte ein, zum anderen nutzt er sprachliche Hilfsmittel, wie rhetorische Figuren, um gewisse Effekte zu erzeugen.Gysi spricht immer wieder verschiedene Werte an; allerdings tut er dies meist indirekt und verspricht auch weniger, gewisse Werte zu liefern. Stattdessen führt er aus, wie die gegnerischen Parteien diese Werte missachten. Dies passt auch zu dem Grundtyp des Anklägers: Es geht ihm hauptsächlich darum, den Gegner „schlecht darzustellen“.

Ein Beispiel hierfür ist der Verweis auf Sicherheit und Frieden/Krieg, als Gysi Merkel fragt: „Was machen wir denn nun, wenn George W. Bush wieder durchdreht [Sicherheit] und Krieg gegen den Iran führt? Erklären Sie hier doch einmal eindeutig und verbindlich [Sicherheit], dass Deutschland dann nicht zur Koalition der Willigen [Kriegseinsatz → Frieden/Krieg] gehören und daran teilnehmen wird.“

Gysi nutzt immer wieder Zahlen und Fakten, um indirekt Werte aufzugreifen oder seine Appelle zu unterstützen. Hierfür steht unter anderem konkret die Nennung des real existierenden Wachstums an Einkommen und Gewinnen aus Vermögen, womit Gysi den Wert der (sozialen) Gerechtigkeit anspricht. Dieses wird mit 31 Mrd. EUR beziffert.  Der Appell an die Sozialdemokraten (09’20’’) macht diese Rolle deutlich. „Ich BITTE Sie, Es gibt mittlerweile Reiche, die sind linker als die Sozialdemokraten.“ Durch diese mutmaßliche Darstellung wird auf Seiten der Zuhörer eine Art der Scham erzeugt, welche den Links-vorsitzenden wiederum im rechten Licht erscheinen lässt. Wenn eine politische Partei quasi von der „naturgemäßen“ Anhängerschaft der eigentlichen Gegner überholt wird, in Punkten, die vom Grundsatz her eher die eigene Programmatik betreffen, muss dieses als Armutszeugnis gewertet werden.

Gysi greift sowohl die SPD als auch die CDU an, indem er ihre Grundwerte (sozial, konservativ, etc.) mit ihrer gemachten oder geplanten Politik in Widerspruch setzt. Er wirft ihnen somit Heuchelei bzw. Verrat ihrer Grundprinzipien vor. Dabei geht er geschickt vor, denn er nutzt konkrete Punkte ihrer Politik, die in seiner Darstellung falsch oder unzumutbar sind/waren; Allerdings bringt er diese Handlungen in Kontrast zu den Grundprinzipien der Parteien. Die Gegner sind somit „schuldig“ im konkreten Fall sowie auch im allgemeinen Fall vor ihren eigenen Prinzipien. Durch diese ganzheitlichen Angriffe spricht ihnen Gysi somit die komplette Legitimität ihrer Politik und damit ihre Glaubwürdigkeit ab. Er spricht dabei auf die Emotionen Zorn und Empörung an, welche durch den „Verrat“ der eigenen Werte bzw. Wählerschaft ausgelöst werden soll. Ein amüsantes Beispiel hierfür findet sich zum Beispiel im letzten Drittel der Rede, wo es zu einem kleinen relativ humorvollen Seitenhieb auf die angeblich „konservativen Werte“ der Union kommt: „Sie sagen Eltern mit zwei schulpflichtigen Kindern: Wenn ihr einen Arbeitsplatz wollt, müsst ihr auch bereit sein, das Bundesland zu wechseln. Das sei heute nun einmal so. Ich will jetzt einmal davon absehen, dass Ihre gesamte Ideologie in Bezug auf Kirchenchor und Schützenverein, denen man 40 Jahre lang angehören sollte, angesichts eines so flexiblen Arbeitsmarkts nicht mehr aufgeht; das geht alles ein bisschen durcheinander. Aber das macht ja nichts; das ist Ihr Problem.“ Ergänzt werden diese Angriffe durch ironische Bemerkungen („unser gemeinsamer Anteil an den Erfolgen der Fußballnationalmannschaft ist, glaube ich, gleich null…“) oder durch Unterstellungen bzw. Verallgemeinerungen lässt Gysi die Gegnerseite lächerlich und lügnerisch dastehen („Das war ja auch wieder typisch sozialdemokratisch, sie haben es zwar beschlossen, es aber dann nicht in Kraft treten lassen“).

Gysi nutzt generell wenige rhetorische Figuren, allerdings setzt er die Wiederholungsfigur Geminatio erfolgreich ein; Dabei handelt es sich um die Wiederholung von einem Wort oder einer Wortgruppe in einem Satz. Hier ein Beispiel:

„Deshalb haben wir keine gerechte Vermögensteuer [sic!], keine gerechte Veräußerungserlössteuer, keine gerechte Körperschaftssteuer, keine internationale Börsensteuer, nichts von dem, was wir benötigten, um Sozialabbau zu verhindern und mehr Gerechtigkeit in diesem Lande zu finanzieren. Wer soll das Ihrer Meinung nach alles bezahlen? Sie wollen das über die Mehrwertsteuer finanzieren.“

Die vierfache Wiederholung des Negativ-Begriffes „keine“ zeugt von einer nahezu katastrophalen Bilanz. Die reine Anhäufung lässt beim Hörer ein quantitatives Ungleichgewicht entstehen und hat zudem eine einhämmernede Wirkung, wodurch die Eingängigkeit der Aussage erhöht wird.

Ein weiteres sehr gutes Beispiel für den gezielten Einsatz von Stil und Ausdruck ist dieser Abschnitt:

„Was haben die Konzerne für die Steuergeschenke versprochen, Frau Bundeskanzlerin? Sie haben gesagt, wenn die Kosten gesenkt würden, könnten sie Arbeitsplätze schaffen. Dann haben sie Pressekonferenzen gemacht. Auf den Pressekonferenzen haben sie die Politik verhöhnt und gesagt: Das war sehr nett. Schönen Dank. Wir haben tolle Gewinne. Dafür bauen wir Arbeitsplätze ab.“

Entscheidend erscheint uns hier der Satzbau, genauer gesagt die Satzlänge. Durch die kurz gehaltene, aufzählungsartige Darstellung der Reaktion der Wirtschaft wird der unerwünschte Undank gegenüber vermeidlicher Sozialpolitik verstärkt. „Das war sehr nett.“ Einfacher Satz, 4 Wörter. „Schönen Dank.“ – Eine Floskel, die einen verhöhnenden Charakter innehat, 2 Wörter. „Wir haben tolle Gewinne.“ Die Industrie rückt (wieder sich selbst) in den Mittelpunkt (Frage der Relevanz), 4 Wörter. Konsequenz: „Dafür bauen wir Arbeitsplätze ab.“ 5 Worte wirken wie ein Schlussstrich unter der ganzen Rechnung. Maßnahmen zur Sicherung sozialer Gerechtigkeit greifen nicht, dagegen liegt nach Gysis Meinung eine bewusste Bevorteilung der Wirtschaft vor. Durch diese vier schnell hintereinander folgenden, sehr kurzen und dadurch höchst verdichteten und prägnanten Aussagen wirkt es wie eine Salve aus dem Gewehr. Die Abkanzelung und Verhöhnung der Politik durch die Konzerne, die auf inhaltlicher Basis ausformuliert wird, wird hier nochmals akustisch wiedergegeben.

 

Logos

In Bereich Logos werden die Redeinhalte, die Argumentation und die Strukturierung der Rede behandelt. Generell lässt sich feststellen, dass die Sprache Gysis sehr gut verständlich ist. Sein klares Hochdeutsch mit leichtem Berliner Akzent passt zur Sozialisation des Politikers. Nach einer kurzen ironisch aufzufassenden Bemerkung hinsichtlich der derzeit stattfinden Fußballweltmeisterschaft in Deutschland, die für sich genommen eine Art Eisbrecher-Funktion besitzt, bzw. die inhaltliche Verbindung zu vorausgegangenen Ausführungen darstellt, kommt der Redner schnell zum Thema seines Beitrages: Eine breite Abhandlung und Kritik der Bundesregierung.

Den Informationsgehalt der Rede sehen wir als hoch bis sehr hoch. Durchgehend werden genaue Fakten und Zahlen zu den jeweiligen Kritikpunkten genannt, welche den Redner kompetent und gut informiert wirken lassen. Alle Meinungen des Redners scheinen objektiv begründbar. Dieses Fazit muss selbstverständlich die jeweilige (partei-) politische Einstellung und Argumentationssicht berücksichtigen.

Auffällig ist vor allem die Fülle an Referenzen und Fakten, welche als Basis für Argumente genutzt werden: Verweis auf Geschichte (Wahlen), Aussagen von Personen zur Entwicklung der Kosten und sozialen Verhältnissen nach dem Mauerfall, internationale Gesetzesvorlage, Wirtschaftslage, Europäische Steuersituation, etc. Zur Verdeutlichung lediglich ein Beispiel Gysis:

„Die ganze Konkurrenzsituation, die Sie schildern, ist nicht gegeben. In der Europäischen Union der 25 liegen wir bei den Steuern auf Platz 24. Wir sind die Vorletzten. Nur die Slowakei hat geringere Steuern als Deutschland.“

Gysi hat ein klares Argumentationsschema, welchem er die meiste Zeit über treu bleibt.  Zuerst wird ein Missstand mit seinen Fakten genannt, dann wird der Missstand kritisiert, oft auch mit anderen Situationen verglichen oder in Relation gebracht und abschließend vermeintliche Lösungsvorschläge aufgezeigt:

„Sie haben zu Recht über die fehlenden Ausbildungsplätze gesprochen. Es fehlen 50 000. Aber es fällt Ihnen nichts anderes ein, als das zu tun, was Helmut Kohl getan hat. … Ich muss Ihnen sagen: Diese Bittbriefe an die Unternehmen helfen gar nichts. Entweder muss der Staat dann ausbilden, das ist nicht das Ideale, das weiß ich; aber es wäre immerhin eine Ausbildung oder wir müssen endlich die Ausbildungsplatzabgabe wirklich einführen.“

Gysi führt an mehreren Stellen die  (Fehl-)Entscheidungen der vorherigen Regierungen an. Zum Beispiel bei der Darlegung, dass der frühere Spitzensteuersatz bei 53% (unter Kohl, CDU) und jetzt um 11 Prozentpunkte verringert auf 42% liegt. Er setzt also heutige Verhältnisse in Relation zu vergangenen Ereignissen. Der Bezug auf die Vergangenheit wirkt dabei deutlich profunder als hypothetische Gedankenkonstrukte in Richtung ungewisser, da zu gestaltender Zukunft.

Bei seinen Argumenten lässt Gysi die Zuhörer meistens nicht zu eigenen Schlussfolgerungen kommen, sondern bietet mit seinem klaren, kommentierenden Stil bereits die ersichtliche Konsequenz, die gezogen werden soll. Aufbau und Argumentation der Rede wirken in sich logisch verknüpft.

Gysis größere Argumente bestehen meist aus einer Mischung aus natürlichen und kunstgemäßen Beweisen. Zuerst folgt eine Behauptung, die dann durch Fakten (natürlicher Beweis) widerlegt wird. Schließlich zieht Gysi eine Schlussfolgerung in Form eines kunstgemäßen Beweises, der die Behauptung nochmals unterstreicht und/oder in einen größeren Kontext setzt. Zur besseren Veranschaulichung hier ein konkretes Beispiel:

„Die ganze Konkurrenzsituation [Steuerkonkurrenz], die Sie schildern, ist nicht gegeben. In der Europäischen Union der 25 liegen wir bei den Steuern auf Platz 24. Wir sind die Vorletzten. Nur die Slowakei hat geringere Steuern als Deutschland. Dann sagen Sie immer, die Lohnnebenkosten, die Abgaben seien so hoch; das müsse man bei der Berechnung einbeziehen. Gut, rechne ich das mit ein. Wenn ich Steuern und Abgaben einbeziehe, sind wir in der Europäischen Union auf Platz 16. 15 Länder der Europäischen Union haben höhere Steuern und Abgaben als Deutschland, und zwar an ganz anderen Stellen (Beifall bei der LINKEN). Deshalb geht es dort auch etwas gerechter zu. Deshalb haben die auch nicht so den Sozialabbau, den Sie hier in Deutschland organisieren.

  1. Behauptung: Konkurrenzsituation ist nicht gegeben
  2. natürlicher Beweis: Deutschland in der EU auf Platz 24 von 25.
  3. natürlicher Beweis: Mit Lohnnebenkosten haben 15 Länder der EU höhere Steuern und Abgaben als Deutschland.
  4. Implizite Schlussfolgerung: Behauptung ist gegeben.
  5. Schlussfolgerung: Es geht in den anderen Ländern gerechter zu als in Deutschland. (Implizite Argumentation: höhere Steuern = gerechter)
  6. Schlussfolgerung: Es gibt einen geringeren („nicht so den“) Sozialabbau als in Deutschland. (Implizite Argumentation: höhere Steuern = verhindern den Sozialabbau)

Die Strukturierung der Rede ist zwar gegeben, jedoch ist sie vom Zuhörer schwer zu erfassen. Hinsichtlich der mangelnden Strukturierung bzw. dem schwer zu folgenden Verlauf können wir festhalten, dass die zwei Punkte Innen- und Außenpolitik zwar erwähnt werden und „erstens“, „zweitens“, „drittens“ alphanumerisch zur Gliederung verwendet werden; allerdings ist allgemein relativ wenig Struktur erkennbar.  Es wirkt wie eine Kleinstruktur mit vielen Mini-Argumenten. Die Detailliertheit und Kleinlichkeit innerhalb der 25-minütigen Rede wirken sich „strukturschwächend“ aus. Besonders bei der Erwähnung der einzelnen Steuern und Zusätze (Pendlerpauschale, Mehrwertsteuererhöhung, Körperschaftssteuer, Einkommensteuer, Abgeltungssteuer, Sparerfreibetrag, Veräußerungserlössteuer, etc.) verliert man schnell den Überblick.  Durch die Masse an Vorwürfen sowie die nahtlos erscheinenden Übergänge von Thema zu Thema (vgl. inhaltliche Gliederung) machen es dem Hörer schwer, eine explizite Strukturierung zu erkennen. Dieser Eindruck muss jedoch beim wiederholten Hören des Beitrages zu Gunsten eines besseren Verständnisses von Mal zu Mal revidiert werden. Kritisch muss jedoch angemerkt werden, dass hierzu im realweltlichen Normalfalle keine Möglichkeit gegeben ist. Eine Rede gehört zu den flüchtigen Kommunikationsakten, welche unfixiert bleiben.

Aufgrund der angerissenen Geschichte Gysis sowie der heutigen Fraktionszugehörigkeit wollen wir auch einen Blick auf die Wortwahl legen, welche an einigen Stellen sehr gut die Ideologie bzw. die Ideologiekritik gegenüber den Etablierten aufzeigt. Hierbei ist es relativ schwierig zu beurteilen, inwieweit ein „altes“ realsozialistisches Denken aufzuzeigen ist oder es sich um reine Interpretation handelt. Jedoch wäre es durchaus möglich, bei den Ausführungen zur Außenpolitik, die Atomnutzung betreffend, zu sagen, dass die „Logik“, welche von Gysi kritisiert wird, dass die Anschaffung von Atommacht durch Staaten zu einer Garantie der Sicherheit wird, eben dieser Begriff durch „System“ oder auch „Ideologie“ äquivalent ersetzt werden könnte. Auch die fast saloppe, umgangssprachliche Formulierung des möglichen „Durchdrehens“ des Amerikanischen Präsidenten birgt eine Verachtung bzw. generelle US-Kritik in sich. Eine Anlehnung an Zeiten des alten Klassenfeindbildes jenseits des „Eisernen Vorhangs“ scheint möglich.

 

Das Verhältnis von Ethos – Pathos – Logos zueinander

Nach unserer Meinung ist die Kombination der drei analysierten und dargestellten Überzeugungsmittel insgesamt stimmig und die jeweiligen Spezifika passen gut zueinander. Die Energie, mit der vorgetragen wird, scheint sehr passend, wirkungsvoll und homogen zu den eingebrachten Argumenten und politischen Zielen/Sachverhalten.

Wir meinen, dass sich im Einklang von Ethos und Pathos das Bild, das man im Vorfeld von Gregor Gysi hatte, widerspiegelt. Er ist nicht der Typ, bei dem der Hörer das Gefühl bekommt, er fühle sich auch nur eine Sekunde unwohl in seiner Rolle des Oppositionellen. Ganz im Gegenteil: Würde er versuchen, sein stereotypes Gesicht zu ändern und in eine vorübergehende etablierte Rolle zu schlüpfen, wäre dieses Vorhaben zum Scheitern verurteilt.

Alles in allem haben wir hiermit ein schönes Beispiel für eine politische Parlamentsrede. Besondere Erwähnung muss die wiederholte Spontaneität und schlagkräftige Reaktionen auf Zwischenrufe seitens des Publikums finden. Sowohl auf die Anmerkung, dass nicht alle Anwesenden Gysi hießen, als auch der Einschub der Fußballergebnisse zeugen von der nötigen Lockerheit und „Kaltschnäuzigkeit“, welche diese Rede eben frisch erscheinen lassen und von der sich andere Parlamentarier zu Gunsten des „Unterhaltungswertes“ ruhig eine Scheibe abschneiden könnten. Dieses persönliche Urteil soll nicht die eigentliche Funktion von Politikern und somit Debatten verdrängen.

Als nicht optimal empfinden wir, dass die Struktur beim erstmaligen Hören unterzugehen droht. Hier wäre evtl. ein kurzer Überriss am Anfang des Beitrages sachdienlich, der dem Publikum die folgenden Abschnitte kapitelartig kurz vorstellt, um so beim Zuhörer eine Art innere Landkarte zu erzeugen, anhand derer sich im Verlauf der Rede orientiert werden kann. Ob diese jedoch bei politischen Reden immer gewünscht ist, bleibt kritisch zu hinterfragen.

 

Zusammenfassung

Die Rede von Gregor Gysi behandelt ein großes Spektrum an Problemen in Deutschland im Jahre 2006. Insgesamt wirkt er bei dieser Rede sehr gut vorbereitet und verfügt auch über die sprachliche Kompetenz, sich gut ausdrücken zu können. Aufgrund der langen Redezeit und der Vielfalt der angesprochenen Themen verliert man beim erstmaligen Hören etwas den Überblick. Allerdings ist Gysi trotzdem gut zu folgen, wenn man sich auf die Rede konzentriert und nicht ablenken lässt. Eine etwas größere Variation der Stimmlage und eine bekannte Gliederung, wahrscheinlich einfach auch eine kürzere Rede, hätten die Rezeption noch prägnanter und leichter verdaulich gemacht. Da die Rede allerdings nur vor Parlamentskollegen gehalten wird und nicht vor dem schlussendlichen Zielpublikum (dem Wahlvolk) ist ihm dies allerdings nicht wirklich anzukreiden. Alles in allem also eine gute, teilweise sogar unterhaltsame Parlamentsrede, in der vieles richtig und nur wenig falsch gemacht wurde.

Die Rede ist unter folgender Adresse verfügbar: (realmedia player nötig) rtsp://194.50.58.32:554/btag/16/bt300_20060621.rm?start=00:47:34&end=01:13:26&title=39. Sitzung&cloakport=80,554,7070

Daniel Todd Gilbert: „Why are we happy? Why aren’t we happy?“


 

Margot Dum und Christiana Leitner

Daniel Todd Gilbert:

"Why are we happy? Why aren’t we happy?"

 

1. Zur Person Daniel Todd Gilbert

Daniel Todd Gilbert ist Professor an der Harvard Universität. Dort hat er sich als Sozialpsychologe, speziell im Bereich der Emotionsprognosenforschung, einen Namen gemacht. Dort entstand auch die Rede „Why are we happy? Why aren’t we happy?”.

 

2. Redegattung

Bei der im Folgenden betrachteten Rede handelt es sich um eine Beratungsrede. Bei dieser Redegattung beabsichtigt der Redner, sein Publikum durch zielgerichtete Argumentation von seiner Darstellung zu überzeugen. Das vorrangige Ziel ist also die Überzeugung des Publikums, wohingegen das „Informieren“ bloß zweitrangig ist.

 

3. Situationsinformation

Gilberts Rede wurde im Rahmen von TED (Abkürzung für Technology Entertainment Design) gehalten. TED ist eine Konferenz, bei der jährlich rund 1000 Fachleute Ideen über unterschiedlichste Themen austauschen. Neben Daniel Gilbert standen auch andere namhafte Persönlichkeiten wie beispielsweise Al Gore, Tony Robbins oder Daniel Goleman auf der TED-Bühne. Seit 2006 werden die zumeist 20-minütigen Vorträge der Konferenzen online unter http://www.ted.com/ veröffentlicht.

 

4. Die drei aristotelischen Elemente

Die Rede „Why are we happy? Why aren’t we happy? ist ein großartiges Beispiel für das Zusammenspiel aller drei aristotelischen Elemente Ethos, Pathos und Logos. Sie baut auf Studien auf, die beweisen, dass nicht nur das „natürliche“ Glück, sondern auch das „konstruierte“ Glück positive Effekte für Menschen hat. Weiters erklärt Gilbert, dass der Mensch eine Art psychisches Immunsystem besitzt, das ihm helfen kann, sich in der Welt, in der er lebt, besser zu fühlen. Damit kann der Mensch „synthetisches“ Glück wahrnehmen oder selbst konstruieren. „Synthetisches“ ist keinesfalls schlechter als „natürliches“ Glück: „Natürliches“ Glück ist der Effekt, der entsteht, wenn Menschen bekommen, was sie wollen. „Synthetisches“ Glück ist das, was sie empfinden, wenn sie nicht das bekommen, was sie wollen.

 

4.1 Ethos

Das Ethos beschreibt die Person des Redners/der Rednerin, d.h. primär wird die Selbstpräsentation betrachtet. Ziel des Redners/der Rednerin ist es, glaubwürdig zu erscheinen. Der/die RednerIn soll nach Aristoteles integer sein, d.h. er/sie soll zu moralischen Prinzipien stehen und diese einhalten. Des Weiteren wird der Begriff des Wohlwollens – das Kriterium des sittlichen Handelns schlechthin – großgeschrieben. Hinter der Person des Redners/der Rednerin verbirgt sich weiters die Kompetenzvermutung. Gelingt dem Redner/der Rednerin eine geschickte Selbstdarstellung, so ist die persönliche Glaubwürdigkeit gegeben.

Daniel Gilbert nimmt in dieser Rede den Charaktertyp eines enthusiastischen, witzigen Lehrers ein, um dem Publikum näher zu sein. Auffällig ist, dass Gilbert sich während seiner Rede nicht mit den ZuhörerInnen identifiziert (keine Kreierung eines Wir-Gefühls) – frei nach dem Motto „Ich lehre euch etwas“. Die Argumente wählt er so, dass sie für das Publikum verständlich sind. Partikel wie „you know…“ lassen die Argumente leicht verständlich und glaubwürdig erscheinen.

Es hat den Anschein, als sei er selbst von der Thematik und seinen Forschungsergebnissen äußerst begeistert. Diese Begeisterung kommt unter anderem durch die Mimik zum Vorschein. Manchmal drückt er seine Thema-Affinität auch wörtlich aus. Beispielsweise sagt er bereits im ersten Drittel der Rede „Human beings have this marvellous adaptation that they can …” oder „A recent study – that almost floors me – …“).

Die lockere Kleidung sowie das selbstsichere, energetische Auftreten unterstützen den Charaktertyp. Außerdem verwendet der Redner eine kollegiale, witzige und informelle Wortwahl, um das Publikum einzubinden. Um der Rede den wissenschaftlichen Charakter zu verleihen (Professor an der Harvard Universität), fügt er klarerweise Fachausdrücke (z.B.: „frontal lobe“) hinzu. Zudem setzt Gilbert ausdrucksstarke Mittel ein, indem er beispielsweise ironische Antworten auf rhetorische Fragen vorgibt (z.B.: „Yeah, right.“). Rhetorische Fragen lassen RednerInnen glaubhafter wirken. Wer in Fragen spricht, wirkt glaubhafter als jemand, der alle Antworten kennt.

Auffällig ist, dass Daniel Gilbert während der Rede ziemlich viel Raum in Anspruch nimmt. Er läuft stets auf der Bühne hin und her, was einerseits den Vorteil mit sich bringt, dass er Blickkontakt zum ganzen Publikum hat. Andererseits wirkt sein immer gleich bleibender  Bewegungsablauf teilweise etwas monoton.

Mithilfe seines Körpers ahmt er Reaktionen des Publikums scherzhaft nach (z.B.: „Yeah, right.“). Weiters ist die starke Gestik auffällig, die aber immer wieder durch den „Clicker“ (die Fernbedienung zum Umschalten der Folien) eingeschränkt bzw. irritiert wirkt. Wenn er auf das Publikum eingeht und narrative Elemente einfügt, variiert er mit seiner Stimme, was eine willkommene Abwechslung darstellt.  Daniel Gilbert nutzt seinen Körper und seine Stimme, um der Rede zusätzlich einen witzigen Charakter zu verleihen. Bei „off“ beispielsweise verstärkt er die Wirkung des Wortes, indem er bewusst auf die Zehenspitzen steigt.

Anzumerken ist, dass die stimmliche Abwechslung nur bei narrativen Elementen eintritt. Ansonsten wirkt seine Stimme etwas monoton, denn aufgrund seines schnellen Sprechtempos legt er nahezu keine Denkpausen ein.

Zusammenfassend ist zu verzeichnen, dass das Hauptziel des Ethos – die Glaubwürdigkeit – völlig gegeben ist, da man den Eindruck hat, dass Gilbert persönlich hinter dem Thema steht. Dadurch hinterlässt er beim Publikum auch den Eindruck eines integren und tugendhaften Menschen mit wohlwollender Absicht. Die Kompetenzvermutung ist schon allein auf Grund seiner beruflichen Ausübung – Professor an der Harvard Universität – gegeben.

 

4.2 Pathos

Das Pathos ist der Faktor der emotionalen Einbindung der ZuhörerInnen durch den/die RednerIn. Beim Pathos geht es daum, Emotionen, Leidenschaft und Gemütsbewegungen zu erregen. Bei der Emotionsbeeinflussung spielen der Redestil, rhetorische Figuren, Körpersprache sowie die Auswahl und Darstellung der Argumente, aber auch die Psychologie (z.B.: Schaffung eines Wir-Gefühls) eine wichtige Rolle.

 

Gilbert stellt sich locker-lässig dar, was beim Publikum vermehrt Zustimmung hervorruft. Trotz des hohen Informationsgehalts seiner Rede lässt er auch narrative Elemente in keinster Weise zu kurz kommen. Er sorgt für  witzige und ironische Momente beim Publikum, wodurch die Rede erfrischend, interessant und auf keinen Fall ermüdend oder „oberlehrerhaft“ wirkt.

 

Insgesamt spricht er ausdrucksstark und laut, was sich zum Ende hin steigert. Durch die exakte Betonung und die vielen Beispiele gelingt es dem Redner, Spannung aufzubauen, die er anschließend mit einem Überraschungseffekt „bricht“. Als Beispiele sind „sounds like a one question IQ test“ oder „which of these groups are happier“ anzuführen. Auffällig ist, dass die Beispiele anfangs alltäglich erscheinen, d.h. die ZuhörerInnen glauben zu wissen, wie das Beispiel endet; Gilbert bringt jedoch stets unerwartete Ergebnisse.

 

Wenn er zur Veranschaulichung von bekannten Persönlichkeiten (z.B.: Jim Wright, Moreese Bickham, Harry S. Langerman) spricht, fällt auf, dass er stets nach einer Verbindung zwischen dieser Persönlichkeit und dem Publikum sucht. So sagt er zum Beispiel „…, the first one is Jim Wright, some of you are old enough to remember,…“ oder „… some of you recognize this young photo of Pete Best,…”. Dadurch entsteht beim Publikum ein persönlicher Bezuge zum Inhalt der Rede. Die ZuhörerInnen sollen das Gefühl haben, dass der Inhalt für sie relevant ist.

 

Daniel Gilbert verwendet viele Witze bzw. witzige Darstellungen; Dadurch wird die Aufmerksamkeit des Publikums über 20 Minuten hinweg stets aufrechterhalten. Die humorvollen Einwürfe haben eine auflockernde Wirkung. Das Publikum hat die Möglichkeit, die Rede mit Spaß und Interesse zu verfolgen. Weiters wird das Publikum durch  die oft gestellten rhetorischen Fragen (z.B.: „What is it about a big brain that nature was so eager for everyone of us to have one?“) bzw. aufgrund der Denkanregungen (z.B.: „… and you can try to simulate them and tell me which one you think you might prefer.“) wiederholt direkt angesprochen und somit aktiv eingebunden. Da rhetorische Fragen stets eine Antwort implizieren, erzielen sie eine intensivierende Wirkung. Rhetorische Fragen baut Gilbert auch mit einem anderen Hintergedanken ein: Er verwendet sie (z.B.: „Which of these groups are happier?“), um Spannung bzw. Erwartungshaltungen aufzubauen und diese dann zu „brechen“. Der dadurch entstehende Überraschungseffekt erhöht die Eingängigkeit der Mitteilung und regt zum Mitdenken an, da die naheliegenden Antworten als falsch entlarvt werden.

 

Um das Publikum emotional einzubinden, setzt Gilbert gezielt mehrere Mittel ein: Er spricht das Publikum direkt an, er verwendet eine offene Körpersprache und ausdrucksvolle Stimme und außerdem streift er emotionale Themen: Er vergleicht z.B. einen Lotteriegewinner mit einem Querschnittsgelähmten, er spricht von Happiness und bringt berühmte Persönlichkeiten, die „Schicksalsschläge“ erlitten haben,  als Beispiele ein.

 

Durch die direkte Ansprache fühlt sich das Publikum vom Inhalt persönlich berührt. Ein Beispiel wäre: „Now what does a prefrontal cortex do for you?“. Dadurch wird der Bezug des Publikums zum Thema hergestellt, jede/r ZuhöherIn fühlt sich betroffen.

 

4.3 Logos

Der Begriff Logos behandelt den Redeinhalt und die Argumentation. Es geht um Fragen der  Plausibilität, der Logik, der Beweisführung, der Inhalte und ihrer Strukturierung.

Durch die Verwendung von wissenschaftlichen Fachbegriffen (z.B.: „frontal lobe“) sowie durch den Rückgriff auf wissenschaftliche Studien erscheinen die Argumente Gilberts plausibel. Zwar hat die Rede einen hohen Informationsgehalt, aber dennoch schafft es Gilbert durch den Einsatz von Geschichten und kurzen Erklärungen, die Rede in eine einfache und verständliche Form zu bringen. Dadurch ist die Rede auf den ersten Blick in sich logisch.

 Gilbert verwendet viele Fakten und Referenzen, welche er grafisch veranschaulicht. Er baut viele Beispiele aus seiner Forschung ein, die er mit Zitaten untermauert, um die Fakten dem Publikum näher zu bringen. Als ein Beispiel für „Synthetic Happiness“ führt er Moreese Bickham an, der 37 Jahre unschuldig in einem Gefängnis verbrachte. Er zitiert ihn folgendermaßen: „I don't have one minute's regret. It was a glorious experience". Zitate wie das von Moreese Bickham erhöhen die Glaubwürdigkeit des Inhalts, denn Zitate entstammen der Realität. Dabei handelt es sich um sogenannte natürliche Beweise. Sie stellen den Großteil der Basis für die Argumentation in Gilberts Vortrag dar. Dies liegt vor allem daran, dass Gilbert seine empirischen Forschungsergebnisse „lediglich“ präsentiert. Es besteht keine Notwendigkeit, diese durch Argumentation zu begründen, deshalb werden kaum kunstgemäße/technische Beweise eingesetzt. Gilbert ist sich dieses Umstandes durchaus bewusst: „Now, I'm a scientist, so I'm going do this not [sic!] with rhetoric, but by marinating you in a little bit of data.“Die wenigen technischen Beweise sind einfach gehalten; Sie bestehen meist aus einer Behauptung und einer einfachen Begründung. Ein Beispiel hierfür ist die Frage, warum „natürliches“ Glück in unserer Gesellschaft mehr gilt als „konstruiertes“ Glück. Die Begründung Gilberts folgt in Form einer weiteren Frage: “Well, it's very simple. What kind of economic engine would keep churning, if we believed that not getting what we want could make us just as happy as getting it? Die natürlichen Beweise folgen meist dem Schema, dass eine Behauptung aufgestellt wird und diese dann anhand von Forschungsergebnissen belegt werden. Die Ergebnisse werden meist mit Beispielen illustriert und durch Statistiken ergänzt. Diese Behauptungen stellen gleichzeitig auch die Kerninhalte der Rede dar.

Die wesentlichen Aussagen des Vortrages sind wie folgt

  • Das menschliche Gehirn kann zukünftige Erfahrungen simulieren.
  • Das menschliche Gehirn ist jedoch sehr fehleranfällig bei der Vorhersage des Ausmaßes gewisser Ereignisse auf „Freude/Glück“ (happiness). (Impact Bias)
  • Freude/Glück kann konstruiert werden
  • Die Qualität von“konstruiertem“ Glück ist gleich dem von „natürlichem“ Glück
  • Die Konstruktion von Glück (durch das „psychological immune system“) funktioniert in gewissen Situationen besser bzw. schlechter.
  • Die Möglichkeit, frei zu wählen, erschwert die Konstruktion von Glück., wohingegen Situationen, die keine andere Möglichkeit bieten, die Synthetisierung von Glück erleichtern.

Wenn es auf Freude/Glück im Leben ankommt, sind die meisten Ereignisse und Umstände überbewertet.

Im Falle Gilberts ist die Struktur schwer erkennbar. Trotzdem tut das dem generellen Verständnis der Rede keinen Abbruch. Für die ZuhöherInnen ist es jedoch schwer, einen roten Faden zu erkennen, da Gilbert versucht, in den ihm zur Verfügung stehenden zwanzig Minuten möglichst viele Bereiche seiner für ihn faszinierenden Arbeit zu erklären. Dadurch kommt es zu einer wahren Informationsexplosion. Der Kern der Rede ist nicht klar erkennbar, denn Gilbert spricht viele unterschiedliche Themen an. Er schafft es aber nicht, all diese Punkte zu einer Kernaussage zusammenzufassen.

Erst bei genauerer Betrachtung wird klar, dass die Rede um die oben angeführten Kerninhalte herum aufgebaut ist, die durch die Präsentation der Forschungsergebnisse untermauert werden. Die Hauptaussage ist, dass die meisten Umstände sehr begrenzt in ihrer Auswirkung auf die Freude im Leben (happiness) sind. Diese Aussage wird mehrmals in verschiedenen Formen wiederholt. Jedoch bringt Gilbert die klaren, einfachen Aussagen nur in der Rede selbst, wohingegen er für den Schluss anstatt einer einfachen Aussage ein kompliziertes Zitat (Adam Smith) wählt. Diesem folgt eine Zusammenfassung mit Relativierungen und Erläuterungen, welche, im Vergleich zum Rest der Rede, eine hohe Komplexität aufweist. Aus diesem Grund wirkt das Ende des Vortrages  umso verwirrender, da der vorhergehende Vortrag klar und eingängig war.

 

5. Verhältnis von Ethos, Pathos und Logos

Wie oben bereits erwähnt, ist eine klare Struktur kaum ersichtlich. Dennoch ist der Inhalt der Rede verständlich, da die Informationen klar, verständlich und ansprechend präsentiert werden. Die Beispiele, die Gilbert einbaut, sind leicht nachvollziehbar. Er spricht das Publikum auch emotional an, indem er sie beispielsweise fragt, ob sie einen Lottogewinn oder den Rollstuhl bevorzugen würden. Diese beinahe absurden Äußerungen gewinnen durch den Bezug auf seine Studien an Logik und durch ihre Ungewöhnlichkeit und Prägnanz an Eingänglichkeit.

Gilbert jongliert mit den Gefühlen und Einstellungen des Publikums. So schafft er es, seine ZuhörerInnen stets zu überraschen und somit als kompetenter und unterhaltsamer Redner aufzutreten. Der Professor erzeugt ein Zusammenspiel der drei aristotelischen Elemente Ethos, Pathos und Logos. Genau das macht die Stärke seiner Rede aus.

 

6. Doch es gibt auch einige Kritikpunkte…

Zu bemängeln ist, dass Gilbert zu schnell vorträgt. Auch fehlt es der Rede an Pausen, um die wichtigen Punkte zu unterstreichen. Er scheint vergessen zu haben, dass seine Inhalte für die meisten seiner ZuhörerInnen neu sind. Die Chance, seine verblüffenden Aussagen kurz zu reflektieren, ist für das Publikum somit nicht gegeben.

Ein Musterbeispiel dafür ist das Zitat von Adam Smith am Ende seiner Rede. Hier soll noch einmal die Quintessenz seines Vortrags hervorgehoben werden. Es handelt sich dabei aber um ein verhältnismäßig sehr langes Zitat. Zwar wird dem Publikum das Mitlesen ermöglicht, weil es auf der Leinwand gezeigt wird. Doch es bleibt keine Zeit, darüber nachzudenken, denn kaum hat Gilbert es vorgelesen, leitet er daraus schon seine Schlussfolgerungen ab. Es hat den Anschein, als würde er mit der übrigen Zeit einen Wettlauf eingehen.

Die Rede ist sehr komplex aufgebaut. Dies gilt vor allem für den Schluss. Gerade dadurch geht auch ein wenig Energie/Aussage verloren, die er sich zuvor aufgebaut hat. Ab dem Zeitpunkt, an dem er dem Publikum für das Zitat von Adam Smith zu wenig Zeit zum Nachdenken einräumt, ist es äußerst schwierig, dem Inhalt noch zu folgen.

Ein weiteres Problem ist das nahezu ununterbrochene Herumlaufen auf der Bühne. Zu Beginn wirkt es abwechslungsreich, doch mit der Zeit wird es monoton. Besonders lenkt es ab, wenn etwas auf der Leinwand gezeigt wird. Der monotone Eindruck wird durch eine äußerst geringe Variation der Stimme unterstützt. Dadurch hat die Rede den Anschein, als hätte Gilbert sie nur auswendig gelernt und als würde sie ihn selbst ein wenig langweilen. Durch seine  konkrete und exakte Wortwahl sowie durch seine Mimik und durch die ausladende Gestik wird dieses Manko jedoch kompensiert.

Gilbert baut durch Witze, Anschauungsmaterial und viele narrative Elemente Spannung auf und zieht somit das Publikum in den Bann. Leider geht die zentrale Aussage ein wenig unter, da Gilbert den entscheidenden Aussagen zu wenig Zeit zu wirken gibt.

 

7. Fazit

Alles in allem ist diese Rede trotz der Kritikpunkte eine Informationsrede, die Vorbildcharakter hat, denn Daniel Gilbert schafft es sehr viele interessante Inhalte nahezu spielend an das Publikum zu bringen. Nach der Rede haben die ZuseherInnen das Gefühl, tatsächlich einiges dazugelernt zu haben. Seine lockere Art lässt vermuten, dass er ein erfahrener Vortragender ist. Das wiederum lässt ihn als äußerst kompetenten Redner erscheinen.

Auf jeden Fall ist die Rede empfehlenswert, denn so ganz nebenbei kann man daraus eine wichtige Lehre für sein Leben ziehen: Jeder ist seines Glückes eigener Schmied.

 

Link zur Rede: