Holger Weiss und Michael Wagmeister
Parlamentsrede von Dr. Gregor Gysi
Situationsinformation
In diesem Artikel wird eine Rede von Dr. Gregor Gysi analysiert, die dieser am 21. Juni 2006 während der 39. Parlamentssitzung des Deutschen Bundestages hielt. Anlass jener Rede ist der zum Haushaltsetat vorliegende Vorschlag der seit 2005 amtierenden großen Koalition (CDU/SPD). Geführt wird die Regierung durch die Bundeskanzlerin Frau Dr. Angela Merkel.
Der Redner – Dr. Gregor Gysi
Der am 16. Januar 1948 in Berlin geborene Gysi ist als promovierter Jurist und Rechtsanwalt gemeinsam mit Oskar Lafontaine Fraktionsvorsitzender der Linksfraktion im Bundestag. Die Linke stellt mit 53 der 612 zur Verfügung stehenden Sitze die zweitschwächste politische Kraft dar (8,7%). Lediglich das Bündnis 90/Die Grünen hat mit 51 Mandaten noch weniger.
Interessant erscheint am Rande, weniger für die Analyse des Redebeitrages als in Bezug auf die beiden zuvor genannten Persönlichkeiten, dass Gregor Gysi als ehemaliger DDR-Politiker und Parteimitglied bzw. Vorsitzender der SED-PDS (1989-1993) zumindest offiziell aufgefallen ist, z.B. durch sein Engagement im Neuen Forum oder auch, als einer der wenigen freien Anwälte der DDR, durch Vertretung von Ausreisewilligen und Regimekritikern. Schenkt man der Literatur Glauben, so galt hingegen die Familie der heutigen Bundeskanzlerin als nicht oppositionell. Die junge Kasner war nach ihrem Abitur als Studentin der Physik aktiv bei der FDJ (Freie Deutsche Jugend) sowie der Pionierorganisation Ernst Thälmann.
Einleitung und Überblick
Für die Analyse haben wir als Autoren uns für die aus unserer Sicht bewährte Dreiteilung nach Aristoteles entschieden. Es sollen die fließend ineinander übergehenden Überzeugungsmittel Ethos, Pathos und Logos dargestellt und mit passend erscheinenden Beispielen belegt werden. Inhaltlich lässt sich die Ausführung durch Gysi wie folgt gliedern:
- Begrüßung + Witz (Deutsche Fußballnationalmannschaft)
- Situation: Erwartete Information + Kurzübersicht: Innen- und Außenpolitik
- Außenpolitik
- Iran (Nutzung von Atomkraft, Waffenproblematik)
- Amerika (Aggressive Außenpolitik gegenüber Iran)
- EU (Verfassungsvorlage und Abstimmung)
- Innenpolitik
- Sanierungsfall (Kanzler Schröder)
- Konzerne + Kritik an SPD (Steuerkonkurrenz)
- Soziale Marktwirtschaft in Europa (Sozialabbau)
- Körperschaftssteuer
- Kritik an SPD (Ungerechtigkeit) + Mehrwertssteuererhöhung
- Umfragewerte bewusst durch SPD manipuliert
- ökonomische und politische Folgen
- Kaufkraftverlust, Insolvenzen von Klein- und Mittelbetrieben
- Deutschland als „Exportweltmeister“ vs. schwacher Binnenmarkt wegen Sozialabbau, Zustand der Verunsicherung innerhalb der Bevölkerung
- Kürzung der Pendlerpauschale, Sparerfreibetrag
- Hartz IV: zumutbare Arbeit, zu wenige offene Stellen
- Arbeitslosengeld (SPD Kritik, CDU überholt SPD in puncto Sozialgerechtigkeit), „Abgeordnete müssen sich an eigene Nase fassen“
- Ausbildungsplätze (Brief durch Altkanzler Kohl), typisch sozialdemokratisch: Output ≠ Outcomes
- Elterngeld (geringes Zugeständnis zu Teilen der Vorschläge, Kritik der Umverteilung)
- Privatisierung: öffentliche Altersdaseinsvorsorge und Bsp. Stromkonzerne
- Föderalismus: Bundeslandwechsel, Kinder, Bildungsstandard
- Deutsche Einheit: z.B. Landesminister vs. Marburger Bund (Klinikärzte), Gleichstellung West-Ost, öffentlich geförderter Beschäftigungssektor: Bund spart Arbeitslosengeld in Mecklenburg-Vorpommern
- Fazit: Nein zum Etat (der LINKEN)
Auf diese sich herauskristallisierte Inhaltsabfolge wird hinsichtlich einer auffindbaren Strukturierung noch unter dem Punkt Logos eingegangen.
Wie bereits dargestellt handelt es sich bei der Rede um die eines Politikers im Rahmen einer Debatte des 16. Deutschen Bundestages. Wie sich im späteren Verlauf zeigt, handelt es sich bei dieser, wie zu erwarten war, um eine Beratungsrede, die in einigen Fällen auch Charakteristika der Gerichtsrede annimmt. Dies geschieht zum einen durch das Auftreten des Redners (siehe Ethos) und seine implizite Forderung nach Gerechtigkeit, wobei er sich hauptsächlich mit der Vergangenheit – dem Tathergang – auseinandersetzt. Die Grundausrichtung der Rede zeigt jedoch in die Zukunft und orientiert sich mehr an Nutzen/Schaden als an der Gerechtigkeit, weshalb es sich um eine Beratungsrede handelt. Die politische Ausrichtung der Linksfraktion im Hinterkopf, sollte sich der Zuhörer nicht wundern, dass die vorgetragenen Inhalte eine mehr oder weniger harsche Kritik an den Regierungsparteien darstellen.
Ethos
Im Folgenden soll die Rednerrolle von Gregor Gysi analysiert werden. Dazu wird die Selbstpräsentation des Redners betrachtet, zum Beispiel, welchen grundlegenden Charakter eine Person in ihrem Beitrag einnimmt und mit welchen Mitteln dies geschieht. Gestik, Mimik, Ausdruck und andere nonverbale sowie paraverbale Eigenschaften werden ins Blickfeld gerückt, ebenso wie inhaltliche Aussagen. Dadurch wird untersucht, wie sich Gysi vor dem Publikum in Szene setzt.Gregor Gysi spricht bei dieser Rede im Deutschen Bundestag vor Parlamentskollegen. Er tritt in seiner Funktion als Oppositionspolitiker, als „Anwalt der 'kleinen Leute' und sozial Schwachen“ auf.
Gysi macht einen sehr gefestigten und soliden Eindruck auf den Hörer/Seher. Der gepflegte Auftritt im schwarzen Anzug mit geschlossenem Jackett, Krawatte und weißem Hemd wird durch Eloquenz und beschriebenem Wortwitz unterstrichen. Die Begrüßung der Präsidentin und der Bundeskanzlerin ist freundlich und von angemessener Höflichkeit. Allerdings währt die positive Grundhaltung nicht lange – durch eine humoristische Offerte nimmt Gysi Bezug auf die vorhergegangene Rede Merkels, in der diese (offensichtlich) die Leistung der Fußballnationalmannschaft aufgriff und scheinbar im verallgemeinerbaren positiven Leistungszusammenhang mit der Regierungsarbeit sah. In der restlichen Redezeit wirkt Gysi kämpferisch und orientiert sich klar am Dissens. Durch seine energische Stimmlage und regelmäßige Betonung seiner Gestik wirkt Gysi engagiert und glaubwürdig. Seine Stimme variiert wenig, sie ist meist kraftvoll und in einem aggressiven Ton gehalten, ebenso auf inhaltlicher Ebene, wo er eine Anschuldigung nach der anderen vorbringt. Dadurch wirkt er einerseits eben glaubwürdig und engagiert, anderseits ermüdet er damit auf Dauer die Zuseher. Er versucht nicht, Gemeinsamkeiten zu finden, sondern er sucht nach polarisierenden Gegensätzen. Dadurch positioniert er sich auch, aus seiner Sicht positiv, gegenüber den etablierten Regierungsparteien. Dabei führt er die Rolle des Anklägers, der sich gegen die Etablierten und Reichen wendet. Immer nimmt er bei seinen angesprochenen Themen den Bezug zu sozial Schwachen und stellt sie den „Vermögenden und Konzernen“ gegenüber.
Die direkte Anrede der „Schuldigen“ wird durch die Körperhaltung verstärkt. Zur Verdeutlichung: Beispielsweise wird der Umstand angesprochen und gleichzeitig kritisiert, dass die Kanzlerin den US-amerikanischen Präsidenten G.W. Bush zu Wahlkampfzwecken nach Deutschland eingeladen hat. Jetzt richtet sich Gysis Blick eindeutig zu der sich von ihm aus rechts befindlichen Sitzreihe der Regierung. Gleiches gilt im Falle Steinbrück: Auch der Finanzminister wird direkt angesprochen. Hierbei dreht sich der Sprecher abwechselnd zur sich rechts hinter ihm befindlichen Regierung und zu seiner eigenen Fraktion (traditionell) ganz links. Jedoch wird auch der Blickkontakt mit den übrigen Anwesenden gesucht. Dieses Wechselspiel der Blickrichtung macht sowohl dem neutralen Beobachter (Video) als auch den Betreffenden vor Ort deutlich, dass es dem Redner wichtig ist, dass seine Aussagen ihr Ziel treffen und ernstzunehmendes Engagement dahinter steht. Die Blicke Gysis wirken weder orientierungslos im Raum schweifend oder eine ungewisse Größe suchend, sondern passen stets zum Inhalt, den er vorträgt.
Durch oftmalig locker-lässiges Anlehnen am Pult (immer in Richtung der Regierungsbank) nimmt er der Bundestagsrede ihren förmlichen Charakter, zumindest scheint er die formale Haltung etwas aufzuweichen. Er nimmt dann immer direkt Bezug auf die Regierungsvertreter/innen, meist Bundeskanzlerin Merkel. („Frau Bundeskanzlerin, ich bitte Sie, wer George W. Bush für den Wahlkampf in Mecklenburg-Vorpommern braucht, der hat die Wahlen schon verloren…“). Dadurch kommuniziert er eine Art kollegiale Haltung gegenüber den Angesprochenen, was Gysi weniger formell wirken lässt. Ansonsten verhält er sich relativ statisch im Raum, wie es im Bundestag nicht anders zu erwarten ist. Dieser Umstand hängt u. a. mit der notgedrungenen Gebundenheit an das Rednerpult bzw. die Mikrofone zusammen.
Zur Rolle als Redner bleibt, sich aus der Analyse des Ethos ergebend, zu sagen, dass Gysi als Anwalt bzw. Chefankläger agiert. Die Mimik und Gestik sind durchwegs offensiv oder gar aggressiv, ebenso verhält es sich – wie bereits erwähnt – mit der Stimme. Ergänzend noch einige inhaltliche Ausschnitte, die dies widerspiegeln:
„Ich weiß noch, dass Herr Kohl damals sagte, es werde im Osten keine Massenarbeitslosigkeit geben und die Einheit koste kein Geld; es gebe keine Steuererhöhungen. Ebenso kann ich mich erinnern, dass Sie damals einen Spitzenkandidaten namens Oskar Lafontaine hatten, der sagte: Erstens wird es Massenarbeitslosigkeit geben und zweitens wird es zu Steuererhöhungen kommen.“ (Wichtig ist dabei das Wissen um den Umstand, dass Oskar Lafontaine heute ebenfalls zur Fraktion „Die LINKE“ gehört.) Gysi bezieht sich hier direkt auf die Aussagen der Gegenpartei und macht deutlich, dass damals bereits durch „seine Seite“ auf die negativen Folgen und Auswirkungen hingewiesen wurde. Hier ist die Parallele zu einem juristischen Gerichtsverfahren ganz offensichtlich. Durch Gegendarstellung des Sachverhaltes wird argumentativ der Vorteil gesucht. Hierbei wird auf die Leistung der eigenen Partei verwiesen und der Gegner in einer Form der Ignoranz dargestellt. Diesen Fehler der damaligen Regierung prangert Gysi nun an. Ebenfalls ein Beleg ist der Vorwurf gegenüber Merkel, sie verschweige bewusst Zahlen und Fakten. Auch diese Praxis lässt sich in Verhandlungen wieder finden. Ein Rechtsvertreter würde niemals dem Gericht Belege liefern, welche seinen Mandanten belasten, selbst wenn ihm diese unter Umständen bekannt sind. In der Rede lässt sich dieses wieder finden, wenn Gysi sagt: „Bestimmte Zahlen nennen Sie nicht. Ich will einmal die Steigerung einer Größe von 2004 zu 2005 nennen. Die Gewinne und Einkommen aus Vermögen sind im Vergleich von 2004 zu 2005 um 31 Milliarden Euro gewachsen. Im selben Zeitraum sind die Bruttolöhne und -gehälter der Bevölkerung um 5,7 Milliarden Euro gesunken.“ Solche Passagen, die von der Interessenvertretung sozial Schwacher zeugen, ziehen sich durch den gesamten Beitrag.
Pathos
Neben Ethos und Logos stellt der Pathos eines Redners ebenfalls einen Untersuchungsbereich bzw. ein weiteres Überzeugungsmittel dar. Die emotionale Beeinflussung des Publikums steht hierbei im Vordergrund. Eine mögliche Leitfrage ist beispielsweise: Welche Affekte und Gefühle werden im Publikum erzeugt? Hierbei liegt der Fokus sowohl auf sprachlichen Stilmitteln und rhetorischen Figuren als auch auf Geschichten.
Gysi spricht die Emotionen der Zuhörer auf mehreren Ebenen an, zum einen geht er – meist indirekt – auf verschiedene Werte ein, zum anderen nutzt er sprachliche Hilfsmittel, wie rhetorische Figuren, um gewisse Effekte zu erzeugen.Gysi spricht immer wieder verschiedene Werte an; allerdings tut er dies meist indirekt und verspricht auch weniger, gewisse Werte zu liefern. Stattdessen führt er aus, wie die gegnerischen Parteien diese Werte missachten. Dies passt auch zu dem Grundtyp des Anklägers: Es geht ihm hauptsächlich darum, den Gegner „schlecht darzustellen“.
Ein Beispiel hierfür ist der Verweis auf Sicherheit und Frieden/Krieg, als Gysi Merkel fragt: „Was machen wir denn nun, wenn George W. Bush wieder durchdreht [Sicherheit] und Krieg gegen den Iran führt? Erklären Sie hier doch einmal eindeutig und verbindlich [Sicherheit], dass Deutschland dann nicht zur Koalition der Willigen [Kriegseinsatz → Frieden/Krieg] gehören und daran teilnehmen wird.“
Gysi nutzt immer wieder Zahlen und Fakten, um indirekt Werte aufzugreifen oder seine Appelle zu unterstützen. Hierfür steht unter anderem konkret die Nennung des real existierenden Wachstums an Einkommen und Gewinnen aus Vermögen, womit Gysi den Wert der (sozialen) Gerechtigkeit anspricht. Dieses wird mit 31 Mrd. EUR beziffert. Der Appell an die Sozialdemokraten (09’20’’) macht diese Rolle deutlich. „Ich BITTE Sie, Es gibt mittlerweile Reiche, die sind linker als die Sozialdemokraten.“ Durch diese mutmaßliche Darstellung wird auf Seiten der Zuhörer eine Art der Scham erzeugt, welche den Links-vorsitzenden wiederum im rechten Licht erscheinen lässt. Wenn eine politische Partei quasi von der „naturgemäßen“ Anhängerschaft der eigentlichen Gegner überholt wird, in Punkten, die vom Grundsatz her eher die eigene Programmatik betreffen, muss dieses als Armutszeugnis gewertet werden.
Gysi greift sowohl die SPD als auch die CDU an, indem er ihre Grundwerte (sozial, konservativ, etc.) mit ihrer gemachten oder geplanten Politik in Widerspruch setzt. Er wirft ihnen somit Heuchelei bzw. Verrat ihrer Grundprinzipien vor. Dabei geht er geschickt vor, denn er nutzt konkrete Punkte ihrer Politik, die in seiner Darstellung falsch oder unzumutbar sind/waren; Allerdings bringt er diese Handlungen in Kontrast zu den Grundprinzipien der Parteien. Die Gegner sind somit „schuldig“ im konkreten Fall sowie auch im allgemeinen Fall vor ihren eigenen Prinzipien. Durch diese ganzheitlichen Angriffe spricht ihnen Gysi somit die komplette Legitimität ihrer Politik und damit ihre Glaubwürdigkeit ab. Er spricht dabei auf die Emotionen Zorn und Empörung an, welche durch den „Verrat“ der eigenen Werte bzw. Wählerschaft ausgelöst werden soll. Ein amüsantes Beispiel hierfür findet sich zum Beispiel im letzten Drittel der Rede, wo es zu einem kleinen relativ humorvollen Seitenhieb auf die angeblich „konservativen Werte“ der Union kommt: „Sie sagen Eltern mit zwei schulpflichtigen Kindern: Wenn ihr einen Arbeitsplatz wollt, müsst ihr auch bereit sein, das Bundesland zu wechseln. Das sei heute nun einmal so. Ich will jetzt einmal davon absehen, dass Ihre gesamte Ideologie in Bezug auf Kirchenchor und Schützenverein, denen man 40 Jahre lang angehören sollte, angesichts eines so flexiblen Arbeitsmarkts nicht mehr aufgeht; das geht alles ein bisschen durcheinander. Aber das macht ja nichts; das ist Ihr Problem.“ Ergänzt werden diese Angriffe durch ironische Bemerkungen („unser gemeinsamer Anteil an den Erfolgen der Fußballnationalmannschaft ist, glaube ich, gleich null…“) oder durch Unterstellungen bzw. Verallgemeinerungen lässt Gysi die Gegnerseite lächerlich und lügnerisch dastehen („Das war ja auch wieder typisch sozialdemokratisch, sie haben es zwar beschlossen, es aber dann nicht in Kraft treten lassen“).
Gysi nutzt generell wenige rhetorische Figuren, allerdings setzt er die Wiederholungsfigur Geminatio erfolgreich ein; Dabei handelt es sich um die Wiederholung von einem Wort oder einer Wortgruppe in einem Satz. Hier ein Beispiel:
„Deshalb haben wir keine gerechte Vermögensteuer [sic!], keine gerechte Veräußerungserlössteuer, keine gerechte Körperschaftssteuer, keine internationale Börsensteuer, nichts von dem, was wir benötigten, um Sozialabbau zu verhindern und mehr Gerechtigkeit in diesem Lande zu finanzieren. Wer soll das Ihrer Meinung nach alles bezahlen? Sie wollen das über die Mehrwertsteuer finanzieren.“
Die vierfache Wiederholung des Negativ-Begriffes „keine“ zeugt von einer nahezu katastrophalen Bilanz. Die reine Anhäufung lässt beim Hörer ein quantitatives Ungleichgewicht entstehen und hat zudem eine einhämmernede Wirkung, wodurch die Eingängigkeit der Aussage erhöht wird.
Ein weiteres sehr gutes Beispiel für den gezielten Einsatz von Stil und Ausdruck ist dieser Abschnitt:
„Was haben die Konzerne für die Steuergeschenke versprochen, Frau Bundeskanzlerin? Sie haben gesagt, wenn die Kosten gesenkt würden, könnten sie Arbeitsplätze schaffen. Dann haben sie Pressekonferenzen gemacht. Auf den Pressekonferenzen haben sie die Politik verhöhnt und gesagt: Das war sehr nett. Schönen Dank. Wir haben tolle Gewinne. Dafür bauen wir Arbeitsplätze ab.“
Entscheidend erscheint uns hier der Satzbau, genauer gesagt die Satzlänge. Durch die kurz gehaltene, aufzählungsartige Darstellung der Reaktion der Wirtschaft wird der unerwünschte Undank gegenüber vermeidlicher Sozialpolitik verstärkt. „Das war sehr nett.“ Einfacher Satz, 4 Wörter. „Schönen Dank.“ – Eine Floskel, die einen verhöhnenden Charakter innehat, 2 Wörter. „Wir haben tolle Gewinne.“ Die Industrie rückt (wieder sich selbst) in den Mittelpunkt (Frage der Relevanz), 4 Wörter. Konsequenz: „Dafür bauen wir Arbeitsplätze ab.“ 5 Worte wirken wie ein Schlussstrich unter der ganzen Rechnung. Maßnahmen zur Sicherung sozialer Gerechtigkeit greifen nicht, dagegen liegt nach Gysis Meinung eine bewusste Bevorteilung der Wirtschaft vor. Durch diese vier schnell hintereinander folgenden, sehr kurzen und dadurch höchst verdichteten und prägnanten Aussagen wirkt es wie eine Salve aus dem Gewehr. Die Abkanzelung und Verhöhnung der Politik durch die Konzerne, die auf inhaltlicher Basis ausformuliert wird, wird hier nochmals akustisch wiedergegeben.
Logos
In Bereich Logos werden die Redeinhalte, die Argumentation und die Strukturierung der Rede behandelt. Generell lässt sich feststellen, dass die Sprache Gysis sehr gut verständlich ist. Sein klares Hochdeutsch mit leichtem Berliner Akzent passt zur Sozialisation des Politikers. Nach einer kurzen ironisch aufzufassenden Bemerkung hinsichtlich der derzeit stattfinden Fußballweltmeisterschaft in Deutschland, die für sich genommen eine Art Eisbrecher-Funktion besitzt, bzw. die inhaltliche Verbindung zu vorausgegangenen Ausführungen darstellt, kommt der Redner schnell zum Thema seines Beitrages: Eine breite Abhandlung und Kritik der Bundesregierung.
Den Informationsgehalt der Rede sehen wir als hoch bis sehr hoch. Durchgehend werden genaue Fakten und Zahlen zu den jeweiligen Kritikpunkten genannt, welche den Redner kompetent und gut informiert wirken lassen. Alle Meinungen des Redners scheinen objektiv begründbar. Dieses Fazit muss selbstverständlich die jeweilige (partei-) politische Einstellung und Argumentationssicht berücksichtigen.
Auffällig ist vor allem die Fülle an Referenzen und Fakten, welche als Basis für Argumente genutzt werden: Verweis auf Geschichte (Wahlen), Aussagen von Personen zur Entwicklung der Kosten und sozialen Verhältnissen nach dem Mauerfall, internationale Gesetzesvorlage, Wirtschaftslage, Europäische Steuersituation, etc. Zur Verdeutlichung lediglich ein Beispiel Gysis:
„Die ganze Konkurrenzsituation, die Sie schildern, ist nicht gegeben. In der Europäischen Union der 25 liegen wir bei den Steuern auf Platz 24. Wir sind die Vorletzten. Nur die Slowakei hat geringere Steuern als Deutschland.“
Gysi hat ein klares Argumentationsschema, welchem er die meiste Zeit über treu bleibt. Zuerst wird ein Missstand mit seinen Fakten genannt, dann wird der Missstand kritisiert, oft auch mit anderen Situationen verglichen oder in Relation gebracht und abschließend vermeintliche Lösungsvorschläge aufgezeigt:
„Sie haben zu Recht über die fehlenden Ausbildungsplätze gesprochen. Es fehlen 50 000. Aber es fällt Ihnen nichts anderes ein, als das zu tun, was Helmut Kohl getan hat. … Ich muss Ihnen sagen: Diese Bittbriefe an die Unternehmen helfen gar nichts. Entweder muss der Staat dann ausbilden, das ist nicht das Ideale, das weiß ich; aber es wäre immerhin eine Ausbildung oder wir müssen endlich die Ausbildungsplatzabgabe wirklich einführen.“
Gysi führt an mehreren Stellen die (Fehl-)Entscheidungen der vorherigen Regierungen an. Zum Beispiel bei der Darlegung, dass der frühere Spitzensteuersatz bei 53% (unter Kohl, CDU) und jetzt um 11 Prozentpunkte verringert auf 42% liegt. Er setzt also heutige Verhältnisse in Relation zu vergangenen Ereignissen. Der Bezug auf die Vergangenheit wirkt dabei deutlich profunder als hypothetische Gedankenkonstrukte in Richtung ungewisser, da zu gestaltender Zukunft.
Bei seinen Argumenten lässt Gysi die Zuhörer meistens nicht zu eigenen Schlussfolgerungen kommen, sondern bietet mit seinem klaren, kommentierenden Stil bereits die ersichtliche Konsequenz, die gezogen werden soll. Aufbau und Argumentation der Rede wirken in sich logisch verknüpft.
Gysis größere Argumente bestehen meist aus einer Mischung aus natürlichen und kunstgemäßen Beweisen. Zuerst folgt eine Behauptung, die dann durch Fakten (natürlicher Beweis) widerlegt wird. Schließlich zieht Gysi eine Schlussfolgerung in Form eines kunstgemäßen Beweises, der die Behauptung nochmals unterstreicht und/oder in einen größeren Kontext setzt. Zur besseren Veranschaulichung hier ein konkretes Beispiel:
„Die ganze Konkurrenzsituation [Steuerkonkurrenz], die Sie schildern, ist nicht gegeben. In der Europäischen Union der 25 liegen wir bei den Steuern auf Platz 24. Wir sind die Vorletzten. Nur die Slowakei hat geringere Steuern als Deutschland. Dann sagen Sie immer, die Lohnnebenkosten, die Abgaben seien so hoch; das müsse man bei der Berechnung einbeziehen. Gut, rechne ich das mit ein. Wenn ich Steuern und Abgaben einbeziehe, sind wir in der Europäischen Union auf Platz 16. 15 Länder der Europäischen Union haben höhere Steuern und Abgaben als Deutschland, und zwar an ganz anderen Stellen (Beifall bei der LINKEN). Deshalb geht es dort auch etwas gerechter zu. Deshalb haben die auch nicht so den Sozialabbau, den Sie hier in Deutschland organisieren.
- Behauptung: Konkurrenzsituation ist nicht gegeben
- natürlicher Beweis: Deutschland in der EU auf Platz 24 von 25.
- natürlicher Beweis: Mit Lohnnebenkosten haben 15 Länder der EU höhere Steuern und Abgaben als Deutschland.
- Implizite Schlussfolgerung: Behauptung ist gegeben.
- Schlussfolgerung: Es geht in den anderen Ländern gerechter zu als in Deutschland. (Implizite Argumentation: höhere Steuern = gerechter)
- Schlussfolgerung: Es gibt einen geringeren („nicht so den“) Sozialabbau als in Deutschland. (Implizite Argumentation: höhere Steuern = verhindern den Sozialabbau)
Die Strukturierung der Rede ist zwar gegeben, jedoch ist sie vom Zuhörer schwer zu erfassen. Hinsichtlich der mangelnden Strukturierung bzw. dem schwer zu folgenden Verlauf können wir festhalten, dass die zwei Punkte Innen- und Außenpolitik zwar erwähnt werden und „erstens“, „zweitens“, „drittens“ alphanumerisch zur Gliederung verwendet werden; allerdings ist allgemein relativ wenig Struktur erkennbar. Es wirkt wie eine Kleinstruktur mit vielen Mini-Argumenten. Die Detailliertheit und Kleinlichkeit innerhalb der 25-minütigen Rede wirken sich „strukturschwächend“ aus. Besonders bei der Erwähnung der einzelnen Steuern und Zusätze (Pendlerpauschale, Mehrwertsteuererhöhung, Körperschaftssteuer, Einkommensteuer, Abgeltungssteuer, Sparerfreibetrag, Veräußerungserlössteuer, etc.) verliert man schnell den Überblick. Durch die Masse an Vorwürfen sowie die nahtlos erscheinenden Übergänge von Thema zu Thema (vgl. inhaltliche Gliederung) machen es dem Hörer schwer, eine explizite Strukturierung zu erkennen. Dieser Eindruck muss jedoch beim wiederholten Hören des Beitrages zu Gunsten eines besseren Verständnisses von Mal zu Mal revidiert werden. Kritisch muss jedoch angemerkt werden, dass hierzu im realweltlichen Normalfalle keine Möglichkeit gegeben ist. Eine Rede gehört zu den flüchtigen Kommunikationsakten, welche unfixiert bleiben.
Aufgrund der angerissenen Geschichte Gysis sowie der heutigen Fraktionszugehörigkeit wollen wir auch einen Blick auf die Wortwahl legen, welche an einigen Stellen sehr gut die Ideologie bzw. die Ideologiekritik gegenüber den Etablierten aufzeigt. Hierbei ist es relativ schwierig zu beurteilen, inwieweit ein „altes“ realsozialistisches Denken aufzuzeigen ist oder es sich um reine Interpretation handelt. Jedoch wäre es durchaus möglich, bei den Ausführungen zur Außenpolitik, die Atomnutzung betreffend, zu sagen, dass die „Logik“, welche von Gysi kritisiert wird, dass die Anschaffung von Atommacht durch Staaten zu einer Garantie der Sicherheit wird, eben dieser Begriff durch „System“ oder auch „Ideologie“ äquivalent ersetzt werden könnte. Auch die fast saloppe, umgangssprachliche Formulierung des möglichen „Durchdrehens“ des Amerikanischen Präsidenten birgt eine Verachtung bzw. generelle US-Kritik in sich. Eine Anlehnung an Zeiten des alten Klassenfeindbildes jenseits des „Eisernen Vorhangs“ scheint möglich.
Das Verhältnis von Ethos – Pathos – Logos zueinander
Nach unserer Meinung ist die Kombination der drei analysierten und dargestellten Überzeugungsmittel insgesamt stimmig und die jeweiligen Spezifika passen gut zueinander. Die Energie, mit der vorgetragen wird, scheint sehr passend, wirkungsvoll und homogen zu den eingebrachten Argumenten und politischen Zielen/Sachverhalten.
Wir meinen, dass sich im Einklang von Ethos und Pathos das Bild, das man im Vorfeld von Gregor Gysi hatte, widerspiegelt. Er ist nicht der Typ, bei dem der Hörer das Gefühl bekommt, er fühle sich auch nur eine Sekunde unwohl in seiner Rolle des Oppositionellen. Ganz im Gegenteil: Würde er versuchen, sein stereotypes Gesicht zu ändern und in eine vorübergehende etablierte Rolle zu schlüpfen, wäre dieses Vorhaben zum Scheitern verurteilt.
Alles in allem haben wir hiermit ein schönes Beispiel für eine politische Parlamentsrede. Besondere Erwähnung muss die wiederholte Spontaneität und schlagkräftige Reaktionen auf Zwischenrufe seitens des Publikums finden. Sowohl auf die Anmerkung, dass nicht alle Anwesenden Gysi hießen, als auch der Einschub der Fußballergebnisse zeugen von der nötigen Lockerheit und „Kaltschnäuzigkeit“, welche diese Rede eben frisch erscheinen lassen und von der sich andere Parlamentarier zu Gunsten des „Unterhaltungswertes“ ruhig eine Scheibe abschneiden könnten. Dieses persönliche Urteil soll nicht die eigentliche Funktion von Politikern und somit Debatten verdrängen.
Als nicht optimal empfinden wir, dass die Struktur beim erstmaligen Hören unterzugehen droht. Hier wäre evtl. ein kurzer Überriss am Anfang des Beitrages sachdienlich, der dem Publikum die folgenden Abschnitte kapitelartig kurz vorstellt, um so beim Zuhörer eine Art innere Landkarte zu erzeugen, anhand derer sich im Verlauf der Rede orientiert werden kann. Ob diese jedoch bei politischen Reden immer gewünscht ist, bleibt kritisch zu hinterfragen.
Zusammenfassung
Die Rede von Gregor Gysi behandelt ein großes Spektrum an Problemen in Deutschland im Jahre 2006. Insgesamt wirkt er bei dieser Rede sehr gut vorbereitet und verfügt auch über die sprachliche Kompetenz, sich gut ausdrücken zu können. Aufgrund der langen Redezeit und der Vielfalt der angesprochenen Themen verliert man beim erstmaligen Hören etwas den Überblick. Allerdings ist Gysi trotzdem gut zu folgen, wenn man sich auf die Rede konzentriert und nicht ablenken lässt. Eine etwas größere Variation der Stimmlage und eine bekannte Gliederung, wahrscheinlich einfach auch eine kürzere Rede, hätten die Rezeption noch prägnanter und leichter verdaulich gemacht. Da die Rede allerdings nur vor Parlamentskollegen gehalten wird und nicht vor dem schlussendlichen Zielpublikum (dem Wahlvolk) ist ihm dies allerdings nicht wirklich anzukreiden. Alles in allem also eine gute, teilweise sogar unterhaltsame Parlamentsrede, in der vieles richtig und nur wenig falsch gemacht wurde.
Die Rede ist unter folgender Adresse verfügbar: (realmedia player nötig) rtsp://194.50.58.32:554/btag/16/bt300_20060621.rm?start=00:47:34&end=01:13:26&title=39. Sitzung&cloakport=80,554,7070