Tomma Galonska
Das Bildwerk und seine Stimmen
Über die Vision des “sichtbaren Sprechens” in Dante Alighieris Commedia
Im Folgenden werden wir an Dante Alighieris Göttlicher Komödie sprachlich evozierte Bildwelten der Imagination erkunden.
Im Rahmen dieser Tagung hat Prof. Dr. Wolfgang Brassat in seinem Vortrag “Bildende Kunst und Konversationsrhetorik” bereits erörtert, wie sehr ein Kunstwerk ein Programm sein kann für zahllose Konversationen über das Kunstwerk. Das gilt für die Commedia mit Sicherheit. Wir blicken auf 700 Jahre Rezeptionsgeschichte, die sich weiter fortsetzt. Kulturwissenschaftler*Innen und Künstler*Innen aller Disziplinen weltweit haben es immer wieder unternommen, mit ihren eigenen Gedanken und Formensprachen auf die Commedia zu reagieren. Bei den bildenden Künstlern tauchen Namen auf, die man kaum vermuten würde: Robert Rauschenberg, George Grosz u.v.a. Dass die theoretische Rezeption nach wie vor lebendig ist, belegen zahlreiche Neuerscheinungen.
Die gesamte Danteforschung ist sich in einem Punkt einig: Dante ist der Schöpfer einer der bildhaftesten Sprachen, die wir kennen, die Commedia ist ein stupendes Beispiel menschlicher Imaginationskraft.
Die Frage, die mich beschäftigt und der ich mit Ihnen nachgehen möchte, heißt nun: Wie und in wie weit kann die Commedia ein Programm für unsere innere Bildproduktion sein? Mit diesem Ansatz sind wir im Kern von Dantes Kunstverständnis: Für Dante realisiert sich das Werk, wenn Sie das Geschilderte in Ihrem Erleben entstehen lassen. Aber wie gut gelingt uns das? Sind uns die alten Bildwelten allzu fremd? Oder doch noch nah? Lassen sie sich mit unseren heutigen Bildwelten verbinden? Welche Erfahrungen kann dieses 700 Jahre alte Programm für uns überhaupt noch bereithalten?
Wir werden das in zwei Experimenten untersuchen und dabei auch die Frage berühren, wie sich das sprachlich evozierte Bild vom visuell präsentierten unterscheidet.
Gleich dazu eine Anmerkung: Die Imaginationstätigkeit, an die Dante appelliert, ist nicht auf das rein Optische beschränkt. Räumliches Erleben, Leiberfahrungen im Sinne der Temperatur, auch akustische Vorstellungen werden aufgerufen. Sie hören das dann.
1
Zum Inhalt des Werkes möchte ich zunächst wenig sagen. Wie Sie vermutlich wissen, ist die Commedia ein Reisebericht, und zwar von einer Jenseitswanderung. Diese führt durch drei Reiche: Erst geht es tief hinein in die Hölle, dann hoch hinauf auf den Läuterungsberg und als Drittes gelangt der Wanderer in einem mysteriösen Flug ins himmlische Paradies, das wir heute aber nicht mehr anfliegen werden. Einladen möchte ich Sie, mit mir gemeinsam eine Höllenlandschaft aufzusuchen und eine Stufe des Läuterungsberges zu besteigen. Dort begegnen wir auch dem (im Titel meines Beitrags) angekündigten “sichtbaren Sprechen“, dem “visibile parlare“, dem wir uns in unserem zweiten Experiment widmen.
Zunächst begeben wir uns in die Hölle. (Wir halten uns an die Regeln: Man muss die Hölle durchschreiten, bevor man auf den Läuterungsberg darf…) Sie müssen sich vorstellen, die Hölle ist bei Dante als ein ins Erdinnere ragender Trichter gedacht, es gibt neun Höllenkreise, durch die der Wanderer nach unten geht, überall trifft er auf die verbannten Seelen und wird Zeuge der ihnen zugemessenen Strafen. Am tiefsten Punkt (noch unter dem neunten Kreis) sitzt Luzifer mit den schlimmsten Verbrechern. Wir gehen an den Ort kurz davor, in den neunten Höllenkreis, den Ort der Verräter. Es ist die Eishölle. Warum ist es dort nicht heiß, sondern eiskalt? Es ist der Ort der größten Entfernung von der Sonne, von der Wärme, von der Liebe, von Gott.
Wie berichtet Dante von der Eishölle? Bevor Dante überhaupt anfängt mit seiner Schilderung, sagt er, dass ein Bericht eigentlich unmöglich sei. Er sagt (ich gebe es paraphrasiert wieder): Wir haben hier auf der Erde eine Sprache, die zwar Papa und Mama lallen kann, mit der sich aber kein neunter Höllenkreis beschreiben lässt. Die Laute, die man dazu bräuchte, die haben wir gar nicht, es geht also nicht! (Inferno XXXII 1-9). Er wird wütend, er schimpft auf die Gestalten, die er schildern soll:
“Ach, unglückselige, vor allen anderen gemeinen Kreaturen, die ihr an diesem Ort seid, der hart zu schildern ist, besser wäret ihr doch Schaf- und Ziegenvieh geworden!” (Inferno XXXII, 13-15.[1])
Dante sagt auch, dass er Angst hat, dass er furchterfüllt ist, weil ihm die Worte fehlen.
Wilhelm G. Hertz übersetzt die entsprechende Stelle:
“Es ist wirklich keine leichte Sache,
Zu künden, was am Grund der Welt geschieht.” (Inf.XXXII, 7- 8.[2])
In der Übersetzung von Hermann Gmelin lesen wir:
“[…] weil sie [die Worte] mir fehlen,
Geh ich nicht furchtlos an die weitere Rede.” (Inf. XXXII, 6.[3])
Dann kommt dem Erzähler Dante der rettende Gedanke, er ruft die Musen an. Er bittet sie um Hilfe: “[…] damit das Sprechen hinter dem Geschehnis nicht zurückbleibt.” (Inf.XXXII, 11- 12.) Gmelin übersetzt: “[…] dass Sache sich und Wort nicht unterscheiden.”
Abgesehen davon, dass wir es hier (wie Sie natürlich registriert haben) mit einem rhetorischen Trick zu tun haben ̶ erst sagen, ich kann das eigentlich nicht, bevor es dann grandios losgeht ̶ wird in dieser Musenanrufung etwas Wesentliches deutlich: Es geht Dante um das Erleben, Sprechen soll Geschehnis sein.Damit benennt Dante den tiefsten Wunsch, den er für seine poetische Kraft hegt. Und ich meine, hier kommt noch ein weiterer zentraler Gedanke ins Spiel, auf den ich kurz eingehen möchte, denn er betrifft auch unser Zuhören.
(Im Folgenden beziehe ich mich auf Ausführungen von Erich Auerbach,Autor des seinerzeit (1929) bahnbrechenden Buches der Dantedeutung: Dante als Dichter der irdischen Welt.[4])
Die besondere Wanderung der Commedia verfolgt einen besonderen Sinn, nämlich den, ein Heilsweg zu sein. Was das theologisch und im Großen und Ganzen und für jeden Einzelnen bedeuten kann, wollen wir hier nicht erörtern. Es reicht wenn wir festhalten, weil das so konzipiert ist, ergibt sich eine besondere Situation: Der Wanderer will sich in jedem Moment jeglicher Begegnung stellen, und zwar mit allem was sich zeigt. Er sucht die Erfahrung, die sich aus dem, was er (in der Vision) sieht, gewinnen lässt, auch wenn dies, wie in der Hölle, Erschreckendes, oft Grauenvolles ist. Der Wanderer wehrt sich manchmal, aber er will den inneren Prozess, sonst würde das Ganze keinen Sinn ergeben. Um es drastisch zu sagen: Er will nicht Strecke zurücklegen, er will Erfahrung. Damit wird es für uns spannend. Im Sinne Dantes sollen natürlich die Zuhörenden die Position des Wanderers einnehmen. Ob das gelingen kann, ob wir uns einlassen können auf das, was sich zeigt, auf die sprachlich hervorgerufenen Bilder? Vielleicht teilweise, vielleicht nicht? Das werden wir jetzt ausprobieren.
Mein Textvortrag folgt im Wesentlichen der Prosaübersetzung von Hartmut Köhler, das ist die neueste, die wir im Deutschen haben. Ich habe diese für unser Vorhaben eingerichtet, im Sinne des allmählichen Entstehen Lassens der Bilder. Meine Bearbeitung erläutere ich später noch, jetzt hören wir erst einmal Auszüge aus Canto XXXII.
(Die Sprecherin leitet die Zuhörer*Innen sukzessive durch die einzelnen Momente der Wanderung, sie lässt immer wieder Zeit für das Erleben. Zeilenumbrüche und Zeilenabstände deuten in etwa den Rededuktus und die Pausenstruktur an.)
Inferno, Canto XXXII (Eishölle)
(Auszüge)
Ganz unten, im dunklen Brunnenschacht stehen.
Etliches tiefer noch, als die Füße des Giganten.[5]
Zu hohen Mauern aufsehen.
Achtgeben, wo du hintrittst.
So gehen, dass du nicht trittst mit deinen Füßen,
die Köpfe –
deiner müden, elenden Brüder.
Einen See erkennen, vor und unter den Füßen.
Wie Glas, nicht Wasser.
Ein so dickes Eis hat auch im Winter die Donau in Österreich noch nie über ihren Lauf bekommen, auch der Don, weit hinten unter dem kalten Himmel nicht. Und wenn der Tambura oder der Pietrapana[6] darauf stürzten, es gäbe nicht einmal am Rande ein Knirschen.
Und wie der Frosch, der im Sommer quakend das Maul aus dem Wasser streckt, wenn das Bauernmädchen noch im Schlaf beim Ährenlesen ist, so stecken sie, bleich, bis dorthin wo die Schamröte erscheint im Eis, die leidenden Schatten.
Sie üben mit den Zähnen den Klang der Storchenschnäbel.
Ein jeder hält den Kopf gesenkt.
Der Mund bezeugt die Kälte,
die Augen das Elend im Herzen.
Umherschauen. Eine Zeit lang.
Dich umdrehen.
Zu den Füßen zwei Gestalten sehen, so eng aneinander, dass sich ihr Haar vermischt.
Sie ansprechen: “Wer seid ihr?
Ihr, die ihr euch da so Brust an Brust drückt?”
Sie biegen die Hälse nach hinten,
zeigen ihre Gesichter.
Die Augen: Die zuvor (bei gesenktem Kopf) wohl innen feucht waren,
lassen Tränen auf die Lippen tropfen,
aber der Frost
lässt sie sogleich wieder in den Wimpern gefrieren
und vereist
die Augen
fest.
[…]
Tausend vor Kälte blau angelaufene Gesichter sehen.
Von Schauder überlaufen sein.
Der wird immer wiederkommen,
bei jeder gefrorenen Pfütze.
An dieser Stelle einige Bemerkungen zur Texteinrichtung: Ich habe insofern in den Text eingegriffen, als ich den Perspektiventräger heraus genommen habe. Wenn es in der Übersetzung Köhlers heißt: “Während wir unten im dunklen Brunnenschacht standen”, so transformiere ich das in: “Ganz unten im dunklen Brunnenschacht stehen.” Im Unterschied zur klassischen Werkrezitation verfolge ich hier, wie eingangs erläutert, den Ansatz, das Werk als Programm für Imaginationstätigkeit aufzuschlüsseln. Im Sinne unseres Experimentes übertrage ich den Text daher in ein instruktives Sprechen und arbeite mit den Infinitiven als sprachlicher Grundform des Erlebens und setze die Schilderungen ins Präsens: Alles geschieht jetzt. (In der Lektüre ist das anders, da identifiziert sich der Leser mit dem Ich-Erzähler, aber wenn ich hier stehe und sage: “Ich erlebte dies und das”, mache ich mich zum Perspektiventräger; ich will hier aber der Tonträger für Dantes Sprachbilder sein. Die Begleiter-Rolle Vergils geht in dieser Konstellation gleichsam auf den Sprechenden über, der den Zuhörenden als innerlich Wandernden begleitet.)
Bevor wir zum zweiten Abschnitt kommen, möchte ich Sie auf eine Besonderheit der dantischen Bildsprache hinweisen, sie lässt sich an einer eben vorgetragenen Stelle besonders gut aufzeigen:
“Ein jeder hält den Kopf gesenkt,
der Mund bezeugt die Kälte,
die Augen das Elend im Herzen.”
Es ist ein Spezifikum Dantes, sich in der Schilderung der Figuren auf eine wesentliche Geste zu beschränken, die Gestalten werden nicht in epischer Breite erläutert. Damit konfrontieren wir auch die Frage der Abbildbarkeit: Würde man es malen, wären viele Entscheidungen zu treffen: Wie viele Personen halten den Kopf gesenkt, wie genau tun sie das, was für Köpfe sind das, mit oder ohne Kopfbedeckung, Männer oder Frauen, wie ist das Licht usw. Über all das erfahren wir nichts und doch wird hier, im wahrsten Sinne des Wortes, ein suggestives Bild hervorgerufen. Wie sich das beim Hören visuell konkretisiert ist bei jedem Hörer, jeder Hörerin unterschiedlich.
2
Wir kommen zum Purgatorio. (Das eben bei Dante kein Feuer, sondern ein Läuterungsberg ist.) Es heißt, der Läuterungsberg habe “eine andere Konsistenz als die Hölle.”[7] Das sagt jedenfalls der Danteübersetzer Hermann Gmelin. Zumindest gibt es im Purgatorio Hoffnung. In der Hölle gibt es keine Hoffnung. Das Purgatorio “ist eine Welt des Übergangs. […] Dieser Ort des Übergangs ist der Ort der Kunst.”[8]
Kurz zum Inhalt: Während das ganze Höllenkapitel überwiegend auf Motive der Antike bezogen ist, folgt das Purgatorio der christlichen Ethik und der christlichen Vorstellung der sieben Todsünden. Die werden hier nicht mehr wie in der Hölle bestraft, vielmehr können die Seelen ihre Anlagen zur Sündhaftigkeit ablegen in dem sie büßen – und zwar freiwillig. Und: jeder in seinem Tempo. Ganz modern.
Die nach christlicher Vorstellung schwerste Todsünde ist die Überheblichkeit, die
superbia. Die muss als erste abgelegt werden. Und da, wo diese abgelegt werden soll, begegnet der Wanderer drei Reliefbildern, mit drei Beispielen der Demut, der humilitas, also der Tugend, die der superbia als positives Gegenstück entspricht.
Bemerkenswert ist, was Dante als Demutsbeweise wertet und in den Bildern aufscheinen lässt: Er wählt drei berühmte Geschichten, eine aus dem Neuen Testament, eine aus dem Alten Testament und eine historische. Dante konnte voraussetzen, dass der damalige Hörer sofort wusste, was gemeint ist, weshalb besonders die beiden biblischen Geschichten sehr verknappt geschildert sind. Diese Kenntnis des Kontextes kann man heute nur eingeschränkt erwarten. Nun sind die Bilder in sich so stark, dass ich meine sie erzeugen auch ohne Vorkenntnis eine Wirkung, trotzdem erläutere ich sie kurz: Die erste Szene ist die Verkündigungsszene, die Begegnung Marias mit dem Engel, ein häufig gemaltes Motiv. Für Dante ein Sinnbild der Demut. Lassen Sie sich überraschen, wie Dante es umschreibt. Die zweite Szene handelt von König David (bei Dante heißt er: der Psalmist). Es gibt die Geschichte im AT (2. Samuel 6), dass die Bundeslade, das höchste Heiligtum der Juden, geraubt wurde, dann haben die Juden es zurückgewonnen. König David ist so dankbar und so glücklich, dass er vor der Bundeslade mit geschürztem Rock tanzt. Das ist für einen König völlig unangemessen. Aber seiner Freude Ausdruck zu verleihen, ist ihm wichtiger als sein Status, auch wenn er sich dadurch lächerlich macht. Das ist für Dante Demut. Sehr interessant. Als Drittes folgt ein historisches Beispiel: Es geht um den römischen Kaiser Trajan. Das nehme ich jetzt nicht vorweg, diese Szene ist erstaunlich ausführlich geschildert, Sie werden hören, worin sich die Demut des Kaisers zeigt. Soweit zum Inhalt.
Dante sieht aber keine gewöhnlichen Reliefs. Die Reliefbilder scheinen zu sprechen, ja zu singen.Dante wird Zeuge des “sichtbaren Sprechens“, des “visibile parlare“.Damit wird ein Thema veranschaulicht, das sich durch die ganze Commedia zieht: Das Überschreiten von Grenzen. Im ersten Teil wird die Überschreitung von Grenzen vielfach als psychologischer Vorgang thematisiert, als Überschreitung des Verbotenen[9], hier geht es um das Überschreiten medialer Grenzen. Hier werden physikalische Gesetze visionär gesprengt. Die Bilder, die der Wanderer sieht, können nicht nur sprechen und singen, auch die olfaktorische Ebene kommt dazu, Statik wird in Bewegung verwandelt, der weiße Marmor kann Farben annehmen. Schließlich kann die Zeitlichkeit auch noch überwunden werden, denn ein einzelnes Bild ist hier imstande, die zeitliche Progression eines Geschehens wiederzugeben, was die Literatur seit jeher kann, aber ein einzelnes Bild nun einmal nicht. Auf Dantes Läuterungsberg ist es möglich. Die Danteforscherin Patricia Oster bringt es auf den Punkt, wenn sie sagt, es handele sich um die Idee eines Kunstwerkes, “das Zeit, Materie und mediale Grenzen überschreitet.”[10]
Mit dem “visibile parlare“ entwirft Dante die Vision eines synästhetischen Kunstwerks und ein herausforderndes Konstrukt für die Kunsttheorie. Man mag darüber streiten, ob es hier auch um Phantasien technischer Machbarkeit geht, ich meine: nein, denn es geht darum, dass der Marmor sprechen kann, nicht darum, dass man in den Marmor geschickt und unsichtbar einen Tonträger implantiert. Dante sagt dann auch, diese Reliefs seien das Werk des höchsten Schöpfers, der damit seine bisherige Natur beschämt (Purgatorio X, 32-33). Wie dem auch sei, mit Sicherheit ist die mediale Transgression nicht ästhetischer Selbstzweck, das wäre in der damaligen Zeit völlig undenkbar. Dante will einen “Stachel des Gedenkens”[11] kreieren und Dante meinte, dass die mediale Vermischung die mnemotechnische Wirkungsintensität vergrößere.[12] Die Bilder der humilitas sollen dem Wanderer helfen, sie sollen sich seiner Seele auf immer einprägen. Dante ersinnt die höchste künstlerische Vollkommenheit zur Veranschaulichung höchster Bescheidenheit.
Innerhalb der Commedia kommt dieser Passage eine Sonderstellungzu, insofern der Wanderer hier gestaltetes Bild sieht oder zu sehen vermeint. Es ist alles Fiktion, aber hier haben wir noch zusätzlich eine Metaebene, bzw. eine mehrfache Pendelbewegung: Die Vision eines gestalteten Bildes wird Sprache und wieder Bild durch die Bildbeschreibung.
Hören wir es uns an. Der Gesang beginnt – noch ganz im Sinne dessen, was wir schon kennen – mit der Schilderung eines mühsamen Aufstiegs, der Wanderer steigt durch eine Felsspalte, durch eine Klamm auf. Das ersparen wir uns heute. Wir beginnen da, wo der Wanderer einen Sims erreicht, noch weiß er von den Bildern nichts.
(Wieder führt die Sprecherin die Zuhörer*Innen sukzessive durch die Bild- und Erfahrungswelten und lässt zwischendurch Zeit für die Imagination der Zuhörenden.)
Purgatorio, Canto X
(Auszüge)
Ins Freie treten – oben.
Im Offenen sein,
dort, wo der Berg etwas zurückspringt.
Müde. Ungewiss.
Auf einer Fläche stehen, so einsam, wie in einer Wüste.
Von ihrem Rand, wo sie ins Leere fällt, bis an den Fuß der immer noch steilen
Felswand ist sie dreimal so breit, wie ein Menschenkörper lang ist;
und so weit das Auge vorauffliegen kann, von links nach rechts und wieder zurück, scheint dieser Sims immer gleich.
Doch da zeigt sich, dass die Felswand dort unten, dort, wo sie weniger steil ansteigt,
aus reinem Marmor ist: So schön, solch Bildwerk, das sie schmückt!
Gemeißelte Figur entgrenzt die Natur.
Der Engel, der den Beschied zur Erde brachte, es sei der über Jahre herbeigesehnte Friede nun da und der lang verschlossene Himmel wieder offen –
erscheint, mit seiner freundlichen Geste so lebensecht gemeißelt, dass er gar nicht wie ein stummes Bildnis wirkt.
Man möchte schwören, er sage: “Sei gegrüßt!”
Ist doch dort auch jene abgebildet, die den Schlüssel führt,
mit dem der Zugang zur hohen Liebe sich auftut,
und deren Gebärde ausdrückt:
“Sieh her, ich bin die Magd Gottes!”
Richte deinen Sinn nicht nur auf eine Stelle!
Du darfst nicht nur auf eine Stelle achten!
Neben Maria, eine andere Geschichte: Eingemeißelt in den Felsen,
der Ochsenkarren, der die heilige Lade zieht.
Davor eine Menge Leute, aufgeteilt in sieben Chöre.
Von den Sinnen sagt der eine: ‚Sie singen ja!‘ und der andere: ‚Ich höre aber nichts.‘
Ganz ähnlich beim Weihrauch, der dort auch abgebildet.
Ob ja? Ob nein? Nase und Auge können sich nicht einigen.
Hochgeschürzt tanzt, tanzt vor dem gesegneten Schrein,
der demütige Psalmist einher;
und ist aus diesem Anlass geringer als ein König und doch viel mehr.
Gegenüber am Fenster, Davids Frau Michal, man sieht, dass sie zornig und traurig ist.
Weiter gehen, ein weiteres weißes Bildnis sehen: Kaiser Trajan.
Dem greift eine arme Witwe, deren ganze Haltung Tränen und Schmerz ausdrückt, flehend nach dem Zügel.
Das ganze Umfeld: Dicht mit Reitern angefüllt und die Adler auf Goldgrund darüber scheinen sich wahrhaftig im Winde zu bewegen.
Das arme Wesen zwischen diesen allen scheint sie zu sagen:
“Hoher Herr, schafft mir Wiedergutmachung –
für meinen Sohn,
man hat ihn erschlagen,
mir ist das Herz so wund.”
Und Trajan scheint zu antworten:
“Ja, aber warte, bis ich zurückkomme.”
Und sie, als ob der Schmerz sie zur Eile dränge:
“Und was mein hoher Herr, wenn du nicht zurückkommst?”
Darauf er: “Mein Nachfolger wird dir zu deinem Recht verhelfen.”
Doch sie: “Aber was nützt es dir, dass ein anderer etwas Gutes tut,
wenn du selbst dich nicht darum kümmerst?”
Worauf er: “Also sei getrost! Ich will meine Pflicht tun, bevor ich weiterreite.
Die Gerechtigkeit verlangt es und außerdem lässt mich das Mitleid nicht fort.”
JENER, dem nichts je neu sein kann, schuf dieses sichtbare Sprechen;
neu ist es ja nur für uns, denn hier gibt es dergleichen nicht.
Demutsbilder betrachten.
Vertieft sein.
Sich erfreuen.
Unsere kleine Wanderung ist hier beendet.
Wir haben es gehört, Dante entwirft die Vision eines synästhetischen Kunstwerks, das es so nie geben kann, das aber als Motiv Gültigkeit hat, es ist sein utopischer ästhetischer Zielpunkt und zwar in der gesamten Commedia: Ein jedes Medium soll sich soweit als möglich auf das je andere zubewegen,die Sprache soll so bildhaft wie möglich sein, das Bild so hörbar wie möglich. Mögen sich in diesem Sinne Visuelles und Rhetorisches weiterhin in neuen Formen verbünden.
Herzlichen Dank.
Literaturverzeichnis
Auerbach, Erich: Dante als Dichter der irdischen Welt. [1929]. Berlin, New York 2001.
Flasch, Kurt: Einladung, Dante zu lesen. Frankfurt/M. 2015.
Gmelin, Hermann: Die Göttliche Komödie. [1949]. Stuttgart 2000.
Gmelin, Hermann: Dante Alighieri. Die Göttliche Komödie. Kommentar I. Teil. Stuttgart 1954.
Gmelin, Hermann: Dante Alighieri. Die Göttliche Komödie. Kommentar II. Teil. Stuttgart 1955.
Herzt, Wilhelm G.: Dante Alighieri – Die Göttliche Komödie. München 1978.
Köhler, Hartmut: Dante Alighieri ̶ La Commedia ̶ Die Göttliche Komödie. I – III. München 2010–2012.
Oster, Patricia: “Dove si puote ciò che si vuole”. Gottes Bildkunst im X. Canto des Purgatorio. In: Deutsches Dante-Jahrbuch 01/8/2016 (= Vol.91(1).
Stierle, Karlheinz: Dante Alighieri ̶ Dichter im Exil, Dichter der Welt. München 2014.
Stierle, Karlheinz: Das große Meer des Sinns. Hermeneutische Erkundungen in Dantes “Commedia”. München 2007.
Besonderer Dank gilt Dr. Pia-Elisabeth Leuschner.
Dr. Leuschner leitete von 2000–2006 die Lectura
Dantis in München. Sie hat mich nicht nur vielfältig beraten, sie hat mich
vor allem zu der hier vorgestellten und auf einen performativen Zugriff
ausgerichteten Form der Textbearbeitung ermutigt.
[1] Die hier wiedergegebene Übersetzung folgt, wenn nicht anders angegeben, der Prosaübersetzung von Köhler (München 2010–2012).
[2] Hertz (1978) 141.
[3] Gmelin (2000) 123.
[4] Auerbach (2001).
[5] Im Vorort des neunten Höllenkreises war Dante im Canto XXXI den Giganten, Riesen, etc. begegnet.
[6] Monte Tambura und Pietrapana (heute: Pania) sind Berge in den Apuanischen Alpen.
[7] Gmelin (1955) 12.
[8] Oster (2016) 80.
[9] Flasch (2015) Vergl. 32- 42 f.
[10] Oster (2016) Vergl. 85 f.
[11] Gmelin (1955) 180.
[12] Oster (2016) 92.