2018 Satuer Visuelle Rhetorik – 01 (Knape)

Joachim Knape

Gibt es eine phänomenologische Bildtheorie?

Es gibt Sprachen wie das Englische, das etwa mit picture und image immerhin zwei differenzierende Begriffe für jenes Phänomen hat, welches wir im Deutschen allein mit dem Wort ‛Bild’ benennen können. Doch die Welt der Visualität ist ungeheuer vielfältig, und darum kann ‛Bild’ bei uns umgangssprachlich ziemlich viel bedeuten, z.B. auch innermentale Phantasien, die wir dann innere Bilder nennen. Davon soll mein Vortrag nicht handeln, sondern nur von einem ganz spezifischen visuellen Phänomen. Es geht um etwas Visuelles, das als ‛still’ eine Tragfläche in Form von zweidimensionalen flächigen Objekten braucht, die wir Medien nennen und die sich empirisch außerhalb von menschlichen Körpern nachweisen lassen (‛still pictures’).

Ich gehe also von einem strenger definierten Terminus technicus ‛Bild’ aus, der sich vom vielbedeutenden, umgangssprachlichen deutschen Wort ‛Bild’ unterscheidet, theoretisch abstrahiert allein auf semiotischer Ebene angesiedelt ist und den Bedingungen des erweiterten Textbegriffs gehorcht.[i] Die differentia specifica gegenüber den anderen Textarten der Welt besteht darin, dass Bildtexte aus Bildzeichen, nicht aus Sprachzeichen bestehen, auch wenn es manchmal einen Codemix gibt. Wenn es sich also um Bilder in diesem Sinn handelt, dann erfüllen sie die Bedingungen der Textdefinition. Wir sagen daher: Ein Bild ist ein begrenzter, semantisch geordneter Zeichenkomplex aus Bildzeichen auf zweidimensionaler Fläche für kommunikative Zwecke. Solche Objekte lassen sich empirisch in vielen rhetorischen Szenen als Beweismittel nachweisen. Bilder werden nicht zuletzt deswegen rhetorisch eingesetzt, weil sie einen Effekt mit sich führen, den ich den ‚unkontrollierten Evidenz-Reflex des Bildes‘ nennen möchte. Um das besser zu verstehen, müssen wir uns auf die theoretische Ebene der mentalen Verarbeitung von Bildinformationen begeben und festhalten: Bei der mentalen Verarbeitung entsteht automatisch eine ‛analoge Objekt-Präsenz-Illusion’. Das ist ein Gedanke, der sich auch schon bei Edmund Husserl findet, allerdings nur wenn man ihn einer Relektüre unterzieht.

Husserl

Damit beziehen wir den Gründungsvater der Phänomenologie in unsere Überlegungen ein. Auch für ihn knüpft sich die Frage des Bildes keineswegs so klar an die Referenzfrage bzw. die empirische Objekt-Existenz, wie manche Husserl-Interpreten meinen. Husserl trennt im platonischen Sinn den Schein von der Existenz. Ihm war zweifellos klar, dass Bilder eine Art Objekt-Illusion evozieren, bei der uns die Wahrnehmungsintensität des vor Augen Gestellten für einen Moment vollkommen fesseln und irritieren kann. In diesem Fall schwindet im Apperzeptionsprozess das distanzierte Screen-Bewusstsein und wir tauchen ganz in den kognitiv-emotionalen Flow der illusionären Objekt-Präsenz ein. Das Als-ob des Bildes verschwimmt zu einer bestimmten Art der Erlebnispräsenz, die in der heutigen Theorie unter dem Begriff der Immersion verhandelt wird.[ii] Was wir die Objekt-Illusion angesichts von Bildtexturen nennen, andere sprechen von Imagination,[iii] das knüpft sich bei Husserl in platonischer Tradition an den Begriff der Phantasie. Vor dem Hintergrund des Husserl‘schen Ansatzes können wir zwei Referenz-Status des Bildes unterscheiden:[iv]

  1. Abbild als Simulacrum, als Dokument mit äußerer Objektreferenz, d.h. mit Verweis auf etwas physikalisch Sichtbares, das sich jenseits des Bildes befindet (Faktizität). Ein Bild kann die hier in Frage stehende kommunikative Funktion eines Simulacrums bekommen (etwa als Porträt),[v] wenn die Textur so gestaltet wird, dass sie in der Summe homolog zu den Gestalten realer, außertextlicher Gegenstände wird. Auf jeden Fall erfüllt ein Simulacrum ebenfalls den Sachverhalt der Virtualität, denn die identifizierbaren Dinge des simulacrischen Bildes sind virtuell, seien sie körperextern repräsentiert oder auf dem inneren Screen. Jedes Abbild erfüllt damit die Bedingungen der ‛Zweitheit’ einer Ding-‛Inszenierung’.[vi] Mit der Zuweisung des kommunikativen Status ‛Simulacrum oder Abbild’ an ein Bild wird es hinsichtlich seiner Funktion als Dokument spezifiziert.[vii]
  2. Autonombild als bloßes Verisimile, als bloß Wahrähnliches ohne bildexterne Objektreferenz. Das verisimilische Bild ist eine für sich stehende Bildtextur, die keinen äußeren Referenten und den Status eines künstlichen Phantasmas hat. Die Bilddinge der Verisimiles sind natürlich auch virtuell, seien sie körperextern repräsentiert oder auf dem inneren Screen, doch sie sind darüber hinaus fiktiv. Wir können hier von Objekt-Präsenz-Illusion ohne medienexternen Referenten (folglich ohne Dokumentarcharakter) und vom Bild als Fiktion sprechen. Damit eröffnet erst das Autonombild wirklich das Reich der Bildfreiheit, weil nur hier unter Rückgriff auf das erlernte Bildwissen neue virtuelle Bildwelten ohne Außenreferenten erschaffen werden können. Dies ist nur möglich, weil wir Menschen über Bildwissen in Gestalt eines Bild-Codes analog zu lautsprachlichen Codes verfügen, der in fiktiven Bildtexten aktualisiert wird.

‛Bilderlebnis’

Die vom Bild in unserem Bewusstsein immer erzeugte Objekt-Präsenz-Illusion führt dazu, so können wir Husserl heute verstehen, dass wir uns einbilden – wie wir im Deutschen so schön sagen können – im Bilde ‛die Sache’ tatsächlich anzuschauen. Wir vergessen gewissermaßen unter dem Eindruck des Bildes seinen Artefaktcharakter und den Zeichencharakter: „Jeder der phantasiert, hat ein Bilderlebnis. Ihm erscheint ein Gegenständliches. Aber niemand hält diese Erscheinung für eine Selbsterscheinung des Gegenstandes. Diese schwankende, flüchtig bald auftauchende, bald verschwindende, dabei sich inhaltlich so vielfältig ändernde, so matte Erscheinung hält doch niemand für die Erscheinung des Gegenstandes, z. B. des Schlosses selbst, aber wohl für die ‛Vorstellung’ desselben, für eine Vergegenwärtigung, für eine Verbildlichung. Aber wohlgemerkt, die Erscheinung, so, wie sie wirklich gegeben ist, meint man dabei nicht; man sieht sie sich nicht etwa an, wie sie ist und erscheint, und sagt sich: Das ist ein Bild. Vielmehr lebt man ganz und gar in dem auf die Erscheinung sich gründenden neuen Auffassen: im  B i l d e  schaut man die  S a c h e  an. Das Bildbewusstsein hat eine Tinktion [Einfärbung], die ihm eine über seinen primären Gegenstand hinausweisende Bedeutung verleiht: den Charakter der Repräsentation nach Ähnlichkeit.“[viii] Dieses Husserl’sche Wort vom ‛Bilderlebnis’ auf der analytischen Ebene der mentalen Verarbeitung wollen wir uns für später merken, weil es auf den Begriff bringt, worum es den Phänomenologen eigentlich geht: Nicht ums empirische Bild, das Husserl – anders als seine Epigonen – in seinem semiotischen Charakter ganz klar erkennt und benennt, sondern um ein Erlebnis, eben ums ‛Bilderlebnis’.

Heutige Phänomenologen reduzieren die ganze Bilderfrage genau auf dieses mentale Verarbeitungsphänomen und geben das dann in merkwürdig kämpferischer Positionierung gegen die moderne Semiotiktheorie des Bildes als Bildtheorie aus. Leider stiftet das theoretische Verwirrung, wie sich an Hand von Formulierungen des Phänomenologen Lambert Wiesing zeigt. Wiesing verwirft die Semiotiktheorie des Bildes erfreulicherweise inzwischen nicht mehr in Bausch und Bogen, kommt aber in seinem Buch zur Bilderfrage nach wie vor zu einem sehr schwer nachzuvollziehenden Befund, bei dem er sich auf den ‛phänomenologischen Grundgedanken’ in einer Formulierung Jean Paul Sartres bezieht: „Wer ein Bild von einem Haus malt, der malt kein Zeichen, sondern baut ein eigenwilliges Haus, nämlich ein imaginäres Haus, das ein Haus ist, welches man nur sehen, aber nicht riechen und tasten kann.“[ix]

Hier wird von Problemen der mentalen Bildverarbeitung gesprochen (Stichwort: Objekt-Illusion). Dennoch möchte Wiesing auch produktionstheoretisch verstanden werden, allerdings eine Produktion von Bildern, bei denen angeblich keine „Zeichen“ auf die Leinwand oder das Foto kommen, sondern echte Häuser. Im Fortgang holt Wiesing zu einem Hieb gegen den semiotischen Ansatz aus, der weitere Verwirrung stiftet: „Dieser Ansatz [der zeichentheoretische, JK] verbaut sich durch eine normative Einschränkung den Zugang zu asemantischen Bildformen, was allerdings aus einem verständlichen Eigeninteresse geschieht: Wie sollte man asemantische Phänomene mit semantischen Kategorien beschreiben können? Gerade hier liegt die Stärke des phänomenologischen Ansatzes. Für diesen ist die Sichtbarkeit des Bildes grundlegender als seine Lesbarkeit und deshalb der Gedanke möglich, wenn nicht sogar naheliegend, ein Bild ohne jegliche semiotische Funktion zu verwenden.“[x]

‛Asemiotische Kommunikation’?

Der Erlanger phänomenologische Soziologe Juri Srubar geht noch weiter und spricht in diesem Sinn sogar von „asemiotischer Kommunikation“.[xi] Was heißt das? Verhelfen uns Wiesings rätselhafte Äußerungen zum Bild tatsächlich zu produktionstheoretisch tragfähigen Einsichten? Könnte der Direktor einer Werbeagentur seinem Zeichner die Anweisung geben „Bitte schaffen Sie Bilder für unsere Plakate, die ‛asemantische’, also bedeutungslose ‛Bildformen’ aufweisen, auf jeden Fall aber auch ‛asemiotisch’ (also nicht-zeichenhaft) sind, damit das Publikum auf keinen Fall auf sein erlerntes Bildwissen beim Anschauen rekurrieren kann“? Jeder Grafiker würde bei so einer Ansage wahrscheinlich in Verzweiflung geraten. Wie könnte er etwas Bedeutungsloses auf Zeichenpapier bringen, außer Gekritzel? Vielleicht sollte ich an dieser Stelle darauf hinweisen, dass es in der Kunst natürlich asemiotische Malerei gibt, etwa bei der dripping-Kunst eines Jackson Pollock. Pollock will aber seinen Kompositionen aus Farbtropfen gerade keine Bilder mehr schaffen.[xii]

Wer im rhetorischen Kommunikationszusammenhang Bilder einsetzt, dem geht es aber gerade um die Verarbeitung von Bild-Bedeutungsangeboten, um Bedeutungsgenerierung bei der mentalen Prozessierung im Sinne der Verarbeitung von zeichenhaften Bildinformationen. Asemantisches lässt sich nicht als Fotobeweis heranziehen. In solch einem Kommunikationsfall geht es ums gezielte Produzieren und Interpretieren von Bildern, d.h.:

  1. ums Enkodieren oder Dekodieren von Einzelzeichen oder Zeichengruppen, die wir wiedererkennen (Texturangebot und Rekognition von Einzeldingen, Dingkonfigurationen);
  2. ums Bedeutung-Komponieren oder -Inferieren mit und aus dem Syntagma der Zeichen und Zeichengruppen zu Bedeutungen höherer Ordnung (Konstruieren oder Erkennen und Interpretieren von Szenen).

Husserls Bildtheorie

Wenn nicht in rhetorischen Bildbeweis-Szenen, wo sonst finden wir dann aber in der empirischen kommunikativen Welt, die ja auf Verständigung aus ist, überhaupt Wiesings rätselhafte ‛asemantische (bedeutungslose) Bildformen’?  Wenden wir uns zunächst noch einmal Edmund Husserl mit seinen ‚Hauptstücken aus der Phänomenologie und Theorie der Erkenntnis‘ von 1904/05 zu. Was da zum Bild gesagt wird, ist zwar nach heutigen Maßstäben terminologisch noch ziemlich tastend, um nicht zu sagen unterentwickelt, doch müssen wir bedenken, dass wir uns hier noch im Zeitalter vor Saussure befinden. Aber immerhin.

Husserls inhaltlich durchaus bemerkenswertes bildtheoretisches Konzept findet sich in nuce in folgendem Abschnitt seiner genannten Vorlesungen vom Wintersemester 1904/05 kondensiert. Es lohnt sich, diese Überlegungen bei der Entwicklung bildtheoretischer Begriffe produktiv einzubeziehen. Husserl schreibt:

„1) Das Bild als physisches Ding, als diese bemalte und eingerahmte Leinwand, als dieses bedruckte Papier usw. In diesem Sinn sagen wir, das Bild ist verbogen, zerrissen, oder das Bild hängt an der Wand usw.

2) Das Bild als das durch die bestimmte Farben oder Formgebung so und so erscheinende Bildobjekt. Darunter verstehen wir nicht das abgebildete Objekt, das Bildsujet, sondern das genaue Analogon des Phantasiebildes, nämlich das erscheinende Objekt, das für das  Bildsujet Repräsentant ist. Angenommen eine Photographie liege vor uns, ein Kind darstellend. Wie tut es das? Nun dadurch, dass es primär ein Bild entwirft, das dem Kinde zwar im Ganzen gleicht, aber in Ansehung der scheinenden Größe, Färbung und dergleichen sehr merklich von ihm abweicht. Dieses hier erscheinende Miniatur-Kind in widerwärtig grauvioletter Färbung ist natürlich nicht das gemeinte, das dargestellte Kind. Es ist nicht das Kind selbst, sondern sein photographisches Bild. Wenn wir so von Bild sprechen, und wenn wir beurteilend sagen, das Bild sei misslungen, es gleiche dem Original nur in dem oder jenem oder gleiche ihm vollkommen, so meinen wir natürlich nicht das physische Bild, das Ding, das da auf dem Tisch liegt oder an der Wand hängt. Die Photographie als Ding ist ein wirkliches Objekt und wird als solches in der Wahrnehmung angenommen. Jenes Bild aber ist ein Erscheinendes, das nie existiert hat und nie existieren wird, das uns natürlich auch keinen Augenblick als Wirklichkeit gilt. Vom physischen Bild unterscheiden wir also das repräsentierende Bild, das erscheinende Objekt, das die abbildende Funktion hat, und durch dasselbe wird abgebildet das Bildsujet.“[xiii] Und Husserl weiter: „Drei Objekte haben wir: 1) Das physische Bild, das Ding aus Leinwand, aus Marmor usw. 2) das repräsentierende oder abbildende Objekt, und 3) das repräsentierte oder abgebildete Objekt. Für das letztere wollen wir am liebsten einfach Bildsujet sagen. Für das erste das physische Bild, für das zweite das repräsentierende Bild oder Bildobjekt. Natürlich ist dieses nun, das repräsentierende Bild, nicht etwa ein Teil oder eine Seite des physischen Bilddinges. Das gilt wohl von den Farbpigmenten, die auf der Leinwand verteilt sind, von den Strichen oder Zeichnungen, die auf das Papier aufgetragen sind. Aber diese Farben, diese Striche usw. sind nicht das repräsentierende Bild, das eigentliche Bild der Imagination, das Scheinding, das aufgrund der Farben-, Gestaltempfindungen usw. uns zur Erscheinung kommt.“[xiv]

Analysieren wir diesen Schlüsseltextes der Husserl’schen Bildtheorie genauer. Husserl kämpft 1904/05 mit dem bis heute landläufig unterminologischen ‛Bild-Wort’, dessen Vielfalt als Wort in neuerer Zeit Mitchell untersucht hat.[xv] Für eine konsistente und elegante Theorie bedarf es aber eines wohldefinierten echten Terminus technicus, der mit Hilfe des Ockham’schen Rasiermessers modelliert ist. Husserl markiert in diesem Sinne das von ihm eingangs verwendete Wort ‛Bild’, wenn er schreibt: „Das Bild als physisches Ding, als diese bemalte und eingerahmte Leinwand, als dieses bedruckte Papier usw. In diesem Sinn sagen wir, das Bild ist verbogen, zerrissen, oder das Bild hängt an der Wand usw.“ Was ist da mit ‛Bild’ gemeint? Ganz offensichtlich ist der Bildträger gemeint, den wir ‛Medium’ nennen. Dabei handelt es sich zunächst einmal um den physischen Träger des Bildes (Holz, Papier, Leinwand, Bildschirm),[xvi] der über eine Grenze verfügt, die das Bild von seiner Umgebung trennt und im Handlungszusammenhang als Einheit des Bildes erfahrbar werden lässt.[xvii] Abstrakt formuliert kann man sagen: Ein Medium ist eine Einrichtung zum Speichern und Senden von Text, wie immer auch der rein technische Teil dieser Einrichtung und die technischen Bedingungen des Speicherns und Sendens beschaffen sein mögen.[xviii] Wichtig ist hier die kategorische Scheidung von Bildtextur und Bildträger. Es geht um eine theoretisch bedingte analytisch-systematische Trennung der abstrakten Begriffe ‛Bildtext’ und ‛Medium’, denn beiden Kategorien sind unterschiedliche Charakteristiken, Funktionen und Leistungen zuzuschreiben, die wir abstrakt nur gut differenzieren und diskutieren können, wenn wir die systematischen Begriffe nicht verwirren.

Auf die theoretisch-abstrahierte Größe Bild (die systematisch gesehen zunächst einmal nichts mit ihren Medialisierungsweisen zu tun hat, was nicht heißt, dass in den praktischen Produktionsprozessen wechselseitige Abhängigkeiten bestehen) kommt Husserl in seinem nächsten Satz zu sprechen: „Das Bild als das durch die bestimmte Farben- oder Formgebung so und so erscheinende Bildobjekt. Darunter verstehen wir nicht das abgebildete Objekt, das Bildsujet, sondern das genaue Analogon des Phantasiebildes, nämlich das erscheinende Objekt, das für das  Bildsujet Repräsentant ist.“ Wenn wir diese Bemerkung genauer untersuchen, stellen wir zunächst fest, dass Husserl das ‛Bild’ an dieser Stelle nicht als Komposition von Einzelelementen, als Textus (Gewebe, Netzwerk o.ä.) verhandelt, sondern offenbar als Bild eines Einzelelements, das wir oben Zeichen (Gestalt, die inhaltsseitig mit einer ganz bestimmten Bedeutung untrennbar verbunden ist) genannt haben. Natürlich finden sich auf Leinwänden oder Fotos bisweilen Einzelelemente, die wir als im Bild ‛erscheinende Bildobjekte’ identifizieren können. Doch sind Bilder mit visuellen Einzelelementen ein Grenzfall, wie etwa in der Lautsprache Einwortsätze oder gar Einworttexte, die es dort ebenfalls als Sonderfälle gibt (etwa Interjektionen). Mit Textus bezeichnet man aber sinnvollerweise nur Zeichenkombinationen, die sich nicht mehr nur als lexikalisierte Einzelausdrücke verstehen lassen.[xix] Wir treffen hier also noch einmal die Festlegung: Das Bildzeichen (als visuelles Einzelelement) ist nicht mit dem Bildtextus als Kompositum mit höher organisierter Bedeutung identisch. Um sich besser zu verständigen, sind solche Festlegungen in der Wissenschaft unumgänglich.

Verknüpfung Husserls mit der semiotischen Theorie

Theoretisch geht es hier immer um die Fragen nach dem Erkennen von kodierten Zeichen (deren Signifikanten als Gestalten ausschließlich von natürlichen Objekten der optisch erkennbaren physikalischen Welt als Types determiniert sind) einerseits und möglicherweise referenzialistierten konkreten Objekten der physikalischen Welt. Diese Grundproblematik von Kodierung und Referenzialisierung in Verbindung mit Wahrnehmungserlebnissen stellt sich nicht nur in der Welt des Sehens. Daniel Schmicking etwa vergleicht in seiner Untersuchung von „Hören und Klang“ die (im Sinne Husserls) phänomenologische  mit der empirisch-kognitionswissenschaftlichen Position in Hinblick aufs Hören. Ausgehend von Husserls Annahmen zum Sehen stellt er fest, dass „kein Mensch Dinge mit ihren Abbildungen und vice versa“ verwechselt. In der antiken Anekdote von den Trauben, die ein Vogel auf einem Gemälde für echt hält, ist es ja auch nur ein Tier, das sich täuschen lässt. Die „Fähigkeit, Bilder als Abbildung aufzufassen“ muss als „universales kognitives Vermögen des Menschen“ gesehen werden.[xx] Wir können diesen Theorieansatz Husserls heute also durchaus mit der semiotischen Theorie harmonisieren, indem wir drei analytische Ebenen definieren:

  1. Das Medium („das physische Bild, das Ding aus Leinwand, aus Marmor usw.“).
  2. Das zeichenhafte Bild („das repräsentierende oder abbildende Objekt“ oder „das repräsentierende Bild oder Bildobjekt“).
  3. Ein in der äußeren Welt vorfindlicher Referent, auf den die Bildtextur verweist („das repräsentierte oder abgebildete Objekt“, dafür „wollen wir am liebsten einfach Bildsujet sagen“).

Diese Husserl‘sche teilambige Begrifflichkeit tritt für uns heute intuitiv unhandlich auf. Man merkt an den ungelenken Formulierungen, dass es vor hundert Jahren noch an Terminologie fehlte. Der alles verändernde De Saussure steht noch nicht im Raum.

Das ‛eigentliche Bild’

Kommen wir noch einmal auf den zweiten Punkt, also das zeichenhafte Bild zu sprechen, das ‛eigentliche Bild’ oder – wie wir sagen würden – das Bild im terminologischen Sinn. Husserl macht dazu folgende Bemerkung: „Natürlich ist dieses nun, das repräsentierende Bild, nicht etwa ein Teil oder eine Seite des physischen Bilddinges. Das gilt wohl von den Farbpigmenten, die auf der Leinwand verteilt sind, von den Strichen oder Zeichnungen, die auf das Papier aufgetragen sind. Aber diese Farben, diese Striche usw. sind nicht das repräsentierende Bild, das eigentliche Bild der Imagination, das Scheinding, das aufgrund der Farben-, Gestaltempfindungen usw. uns zur Erscheinung kommt.“

Husserl betont damit nochmals die von uns auch begrifflich deutlich markierte Differenz von Medium und Bild (als dem eigentlich Informationellen, sprich: Semiotischen). Die Pigmente gehören zum materiellen Medium. Erst wenn eine Bildgestalt entsteht, können wir den Bild-Fall abstrahieren. Zugleich wird hier auch klar, dass im wissenschaftlichen Zusammenhang alles auf Abstraktionen (basierend auf Wesenserkenntnis, wenn man es so husserlianisch getönt sagen möchte) hinausläuft. Wir mit Zeichen in der Kultur befassten Wissenschaftler*innen können diese Zusammenhänge aus der Erlebenserfahrung heraus in Modelle bringen, obwohl wir meist keine genaue Kenntnis der dabei ablaufenden neuronalen und sonstigen physiologischen Prozesse haben. Für uns ist beruhigend, dass auch die Psychologie noch bei der Erklärung des „Übergangs von physiologischen Prozessen in das bewusste Wahrnehmungserleben“ immer noch von einer Theorielücke ausgeht, die als „the hard problem“ bezeichnet wird, wie ich einer Einführung in den Psychologie-Bachelor entnehme.[xxi]

Die neuere phänomenologische Schule

Wir haben bei Husserl Ansätze einer Bildtheorie gesehen, die in verschiedene Richtungen geht, aber mit der aktuell semiotischen Bildtheorie Salzburg-Tübinger Prägung durchaus harmonisierbar ist. Eine ganz andere Frage ist, ob die neuere phänomenologische Schule ihrerseits mit dem alten Husserl und der Semiotik harmonisierbar ist. Da, so haben wir gesehen, gibt es Probleme. Um es noch einmal deutlich zu sagen: Wir finden bei den neueren Phänomenologen in Hinblick auf das Bild letztlich nur eine reduzierte Theorie visueller Wahrnehmung und deren Verarbeitung sowie der damit verbundenen Erlebnisdimensionen, nicht aber eine Bildtheorie im komplexen Sinn.[xxii] Kurz gesagt: Wir haben es da mit einer Verarbeitungs- und Erlebnistheorie zu tun, und diese berührt in gewisser Weise nur eine der drei Perspektiven der Bildtheorie:

  1. Semiotische Dimension: Bild als Text.
  2. Kommunikative Dimension: Bild als eingebettetes Element in (rhetorischer) Kommunikationen.
  3. Mentale Verarbeitungsdimension: Bild als Gegenstand von Wahrnehmung und psychischer Verarbeitung.

Der Verdacht liegt nahe, dass sich dieser Erlebnis-Ansatz eher auf abstrakte Gemälde bezieht, die keine Bilder sind oder auf Kultobjekte, bei denen es um religiöse Dimensionen und gar nicht um Bildinformation geht. Vor diesem Hintergrund ahnen wir, was Wiesing mit seiner kryptischen dritten und vierten These gemeint haben könnte (siehe oben): die „Sichtbarkeit des Bildes [ist] grundlegender als seine Lesbarkeit“ und es ist möglich, „ein Bild ohne jegliche semiotische Funktion zu verwenden“. Bei der letztgenannten These scheint es eher um den Bildträger zu gehen, also ums Medium, nicht um den semiotischen Zeichenkomplex, den Text.

Verstehen können wir durchaus, worum es den neueren Phänomenologen eigentlich geht, deren Ausgangspunkte sind:

  1. das „Seh“-Erlebnis des Bildbetrachters und
  2. die Interpretations- und Verstehenstätigkeit.

Dabei wird das Bild mit seinem Medium als einfach vorfindliche Tatsache jenseits kommunikativer Funktionalisierung ins Erleben gezogen. Semiotik und Rhetorik würden demgegenüber das Bild als kommunikatives Faktum würdigen.

Versuchen wird den phänomenologischen Ansatz in Hinblick auf visuelle Objekte abschließend noch einmal genauer zu untersuchen: Die theoretische Crux bei manchen Vertretern dieser Schule macht sich insbesondere am Begriff der Kommunikation fest, der entweder für das Bild ganz geleugnet oder idiosynkratisch verwendet wird. So leugnet etwa der phänomenologische Soziologe Srubar zwar die Semiotizität, will aber dennoch von Kommunikation sprechen.[xxiii]

Will man den phänomenologischen Ansatz in unserem Zusammenhang besser verstehen, ist an Martin Heideggers Idee der Suche nach ursprünglicher Seinserfahrung zu denken. In diesem Sinn bezieht sich Srubar auf das vorbegriffliche Erleben in Sexualität und in Gewaltexzessen.[xxiv] Und damit wird klar, dass wir uns auf ganz anderem Terrain als dem der genuinen Bildtheorie im engeren Sinn befinden. Wenn wir die Möglichkeit einer solchen Erfahrung zugestehen, so sagen wir damit aber nicht zugleich, dass so eine Erfahrung mit dem Kommunikationsfall gleichzusetzen ist, wie es etwa Srubar behauptet. Zwischen dem, was ein Individuum erlebt und dem, was darüber gesagt wird, besteht eben ein fundamentaler Unterschied. Das Erlebnis göttlicher Offenbarung, das ein Prophet in Trance oder Entrückung zu haben erklärt und das seinem Körper demnach in ursprünglicher Eindeutigkeit eingeschrieben sein dürfte, ist nicht identisch mit dem außerhalb seines Körpers aufgezeichneten Bericht von dieser Offenbarung, nicht identisch mit dem darüber körperextern dokumentierten Protokoll in Gestalt eines Textzeugnisses. Da entwickeln die Zeichen ihr Eigenleben. Über sein persönliches Erleben braucht der einzelne Mensch bisweilen keine weitere Verständigung, es könnte originär sein. Das sei gern zugstanden.

Merleau-Ponty

Was ich eben das Eigenleben der Zeichen genannt habe, erkennt ein differenziert denkender phänomenologischer Philosoph wie Maurice Merleau-Ponty durchaus an. Er stellt fest, dass sich bei der Begegnung eines Menschen mit irgendeinem Ding der Welt, wo sich etwas ereignen kann, die kulturelle Geprägtheit, die semantischen Zuschreibungen nicht vom Ding zu trennen sind und die Sinnstruktur mitbestimmen: „Das Ding ist von einer Symbolik durchdrungen, die eine jede seiner Sinnesqualitäten mit allen anderen verbindet. Wärme gibt sich der Erfahrung als eine Art Erzittern des Dinges, Farbe ist wie eine Herausgehen des Dinges aus sich selbst, und es ist a priori notwendig, dass ein sehr heißer Gegenstand sich rot färbt, die übermäßige Erschütterung das Ding gleichsam zerspringen lässt.“[xxv]

Zugleich aber tritt unser Leib mit dem konkreten Ding über die Wahrnehmung in eine direkte, sagen wir analoge Beziehung, die ebenfalls eine ganz eigene Sinnschicht entfalten kann. „Nie ist das Ding von einem es Wahrnehmenden zu trennen, nie kann es wirklich ganz an sich sein, denn all seine Artikulationen sind eben die unserer eigenen Existenz“.[xxvi] Und nun kommt die Schlussfolgerung Merleau-Pontys, die gegenüber anderen neueren Phänomenologen wie Srubar sehr viel differenzierter ist: Es kann beides ins Spiel kommen unter uns Menschen bei der Dingbegegnung, nämlich – und das ist nun eine sehr interessante begriffliche Unterscheidung – Kommunikation oder Kommunion, was nicht dasselbe ist! „Insofern ist jede Wahrnehmung Kommunikation oder Kommunion, Aufnahme und Vollendung einer fremden Intention in uns, oder umgekehrt äußere Vollendung unseres Wahrnehmungsvermögens, und also gleich einer Paarung unseres Leibes mit den Dingen.“[xxvii]

Den Kommunikations-Teil in uns nennt Merleau-Ponty „fremde Intention“, das ist der soziale Sinn, das ist das immer ins Spiel kommende Dritte, den Kommunion-Teil die „Vollendung des Wahrnehmungsvermögens“ in uns. Das also geschieht im Moment der Begegnung mit anderen Körpern (wenn ich geschlagen oder geküsst werde) und mit Dingen im Erlebnis.

Es ist evident, dass diese hoch spekulative Idee des existenziellen Dingerlebens von religiösen Praktiken inspiriert ist. Insbesondere das trancehafte, das meditative oder anderweitig auf Ergriffenheit basierende Erleben von religiösen Kultbildern, von Marienbildern etwa, an verschiedenen heiligen Orten der Welt steht hier Pate. Diese Kultbilder werden von den Gläubigen nicht ikonographisch oder ästhetisch gewürdigt, oft sind ihre Bildinformation und ihr Bildwert gering. Stattdessen werden sie als heilige Objekte an einem geheiligten Platz (unabhängig von ikonographischen Dimensionen) mit existenzieller Inbrunst verehrt.

Etwas ganz anderes passiert dann in dem Moment, in dem ein Mensch mit einem anderen Menschen in Kontakt tritt, um sich über das individuell oder gemeinschaftlich Erlebte zu verständigen. Hier liegt der semiotische Fall zwingend vor, denn in dem Moment benötige ich das Dritte, um als Mittleres, als Medium mit Text außerhalb von Körpern zu vermitteln und die Körper damit in Kontakt zu bringen. Da steht plötzlich Interpretation oder Verhandlung über „fremde Intentionen“ – wie Merleau-Ponty sagt – bezüglich der Dinge der Welt im Raum.

Im Kern läuft Merleau-Pontys Dingtheorie auf das hinaus, was wir eine Medientheorie des Erlebens und des puren Wahrnehmens ohne diskretes oder digitales Deuten nennen würden. Ein Mensch begegnet einem Artefakt, etwa einem Gemälde, und tritt mit seinem Leib in eine analoge existenzielle Beziehung mit dem Ding ein, nicht mit der Textur, ohne in eine Interpretation nach dem Muster des Studiums von Roland Barthes einzutreten. Es ereignet sich keine Interpretation (Merleau-Ponty nennt es „Verbalanalyse“ auf digitaler Basis bei Sprachtexten), sondern eine direkte Leib-Objekt-Begegnung, die von der semiotischen Interpretation absieht. Das ist dann ein Ding-Erlebnis besonderer Art, wie Merleau-Ponty ausführt: „Der Sinn des Dinges selbst baut sich unter unseren Augen auf, ein Sinn, den keine Verbalanalyse zu erschöpfen vermag, der zusammenfällt mit der Offenlegung des Dinges in seiner Evidenz. Jeder Pinselstrich, den Cézanne aufträgt, muss, wie E. Bernard bemerkt, ‚die Luft, das Licht, den Gegenstand, die Ebene, den Charakter, die Zeichnung, den Stil enthalten‘. Jedes Fragment eines sichtbaren Schauspiels genügt einer unendlichen Zahl von Bedingungen, und es ist das Eigene des Realen, in einem jeden seiner Momente einer Unendlichkeit von Beziehungen zusammenzuschließen. Das Bild ist, wie das Ding, etwas, das zu sehen, nicht zu definieren ist, doch freilich, wenn es gleichsam eine kleine Welt ist, die in der anderen sich öffnet, so eignet ihm doch nicht die gleiche Solidität. Wir fühlen, dass es mit Absicht hergestellt ist, dass in ihm der Sinn seiner Existenz vorangeht [d.h. der Textmacher eine Botschaft hat, um die es ihm geht, JK] und sich lediglich in das zu seiner Kommunikation erforderliche Minimum an Materie einhüllt.“

Wir verstehen langsam, es geht nicht ums ‛Bild’ in dem von mir exponierten strengen, terminologischen Sinn, sondern um das Objekt jenseits seiner Textur, das vor uns steht. Was sich dann als Semantik der Bildtextur anbietet, das, was wir Rhetoriker das eigentlich Informationelle nennen, indem es sich auf dem externen Medium unseren Sinnen anbietet und sich dann auf unserem inneren Screen in Zeichenkonfigurationen darstellt, wertet Merleau-Ponty als das bloß „Imaginäre“ ab. „Das Imaginäre ist ohne Tiefe, antwortet nicht auf unsere Bemühung, unseren Gesichtspunkt abzuwandeln, leiht sich nicht unserer Beobachtung.“

Es ist eben ein Text, mit dem wir sinnvollerweise nicht machen können, was wir wollen. Das Erleben aber will machen, was es will. „Dahingegen nimmt in jeder Wahrnehmung die Materie selbst Sinn und Form an.“[xxviii] (Sinn und Form für das einzelne Subjekt, müssen wir hinzufügen, das dieses Erlebnis hat.)

Der Tod des Bildes

Künstler haben sich im 20. Jahrhundert die Frage gestellt, wie man angesichts des Codezwangs beim Schaffen von Bildtexturen zur Spur einer Mitteilung über ursprüngliche Seinserfahrung kommt, ohne zugleich auf Codes zurückzugreifen. Das ist ein erstes Beispiel der gefundenen Antworten. Seit dem 20. Jahrhundert gibt es in der Kunst Versuche, die Einmaligkeit des Erlebens, dieses ganz subjektive und direkte Welterleben künstlerisch umzusetzen. Dabei stellt der Dadaismus noch eine erste Stufe dar. Die nachfolgende Phase der abstrakten Malerei wird sehr viel radikaler. Warum ist das nun bildtheoretisch wichtig? Weil diese Bestrebungen mit dem Abschied vom Bild verbunden sind. Diese Künstler fordern den Tod des Bildes? Warum? Wer zur sogenannten abstrakten Kunst übergeht, geht zu einer Kunst über, die jeglichen konventionellen Code programmatisch ausmanövrieren will, die die Einmaligkeit des Künstlererlebens in der Einmaligkeit irgendwelcher visuellen, farblichen, geometrischen oder sonstigen formalen Gestaltung ausdrücken will, in der Hoffnung, dass andere Menschen dennoch daran teilnehmen können, irgendwie emotional, intuitiv, auf jeden Fall unbegrifflich.

Darum geht es: unbegriffliches Erleben. Gewünscht ist also das Ende der Codes und damit auch des sozialen Bild-Codes, die letztlich Begriffliches oder semantisch Konventionelles ermöglichen. Weg von der Bildersprache heißt da die Devise, hin zu Ausdrucksformen, die andere Menschen auf irgendeine Weise doch an einem ganz einmaligen unverwechselbaren Erlebnis des Künstlers teilnehmen lassen. Vielleicht versteht mancher Künstler dies sogar als direktes Seinserleben. So wenigstens könnte bei manchen die Hoffnung sein. Ob die Rechnung dieses spekulativen Wunsches aufgeht, ist eine andere Frage.

Wissenschaftlich gesehen müsste man Experimente machen, um herauszubekommen, ob die Betrachter solcher Artefakte wirklich auf den Erlebnisgrund des Künstlers kommen und im Sinne der ‚Kommunions‘-These Merleau-Pontys etwas völlig Gemeinsames geschieht. Es muss auf jeden Fall diskutiert werden, ob das sich Befreien von den Codes und das freie Erleben des Künstlers wirklich dasselbe ist wie das in der Rezeption auf der anderen Seite des Kommunikationsmodells stattfindende Erleben des Betrachters. Oder ist das schon wieder zum kommunikationstheoretisch gedacht? Geht es um das ganz freie Spiel?

Künstler unterstützen ihr eigenes besonderes Erlebensbedürfnis auch immer wieder dadurch, dass sie sich bewusst in Rauschzustände versetzen, dazu verhelfen nicht selten Drogen irgendwelcher Art. Was da im Rausch an Produkten emergiert, lässt sich später kaum noch als Entstehungsgrund rekonstruieren, geschweige denn mitteilen. Das Objekt steht dann einfach im Raum. Wie könnte ein Betrachter auf der anderen Seite jemals zu einer genau entsprechenden Erlebens-Homologie gelangen? Beim Betrachter wird sich zumeist aufgrund des Gemälde-Stimulus irgendetwas ganz anderes ereignen, jenseits einer Erlebens-Homologie. Das kann eine Ergriffenheit ganz anderer Art sein, und ob es sich dabei dann um ein Existenzialerleben im Sinne der Phänomenologie handelt, wäre noch zu beweisen.

Aus der Perspektive Kunstschaffender

Produktionstheoretisch verwertbare Informationen, um wieder zur Perspektive des Künstler*innen zu wechseln, lassen sich auch von Künstler*innen selbst gewinnen. Wir wissen etwa, wie der lange an der Stuttgarter Akademie tätige K. R. Hoffmann, genannt Sonderborg, gearbeitet hat. Die Gemälde dieses einarmigen Künstlers entstanden aus dem heftigen Impuls seines Arms heraus, der sich in so etwas wie körperlichen Ausbrüchen ergab, denen konzentrierte Ruhe vorausging. Der Arm des Künstlers wurde zum spontanen Seismographen eines inneren Ereignisses und eines zunächst noch schlummernden ästhetischen Formantriebs; wie hier in seinem Gemälde „Ohne Titel“ von 1994. Gebändigtes Chaos, das zu malerischer Struktur führt, die uns eventuell emotional anspricht oder auch nicht. Oft verzichtete er bei seinen Gemälden auf semantische Titel, weil sie eben keine Bilder sind, sondern abstrakte Formationen. Er versah sie ausschließlich mit genauen Zeitangaben, die den Entstehungsimpuls auf einen ganz bestimmten Ereignis-Zeitpunkt (Datum, Uhrzeit) festlegen, nicht auf eine spezifische Semantik. Damit werden seine Kunstobjekte zu Indices physikalischer Impulszustände, physikalischer Bewegungs-Ereignisse mit deutlichem Kontingenzfaktor.

Auch die schon genannte Drip-Painting-Technik, von Jackson Pollock seit den 1940er Jahren verwendet, hat diesen Faktor. Der Zufall in Form stochastischer Willkür wird hier bewusst ins Spiel gebracht.[xxix] Pollock führt zwar die Farbtuben noch mit seiner Hand, er bemalt auch zuvor die Leinwand mit figuralen, also konventionellen Gestalten, doch dann lässt er das spritzende, klecksende, wilde Spiel des Farb-Dripping zu. Es ist keine reine Willkür, aber es ist auch nicht mehr die vom Künstler in jeder Sekunde kontrollierte Form. Das Chaos darf sich ein Stück weit ausbreiten. Damit wird der Übergang von der strikten ästhetischen Ordnung zum Chaos und umgekehrt vom vermeintlich chaotischen Faktor des künstlerischen Materials hin zu einer dann doch erkennbaren Kunstordnung zu einem Signum der Moderne. Auch hier gibt sich die Kunst ihr eigenes Gesetz, aber es ist das Gesetz der Zulässigkeit, auch des freien Spiels der ‚Selbstorganisation‘ (wie es Physiker nennen würden) von Form mit einem gewissen Chaosanteil. Ob sich bei all dem auch das phänomenologische Existenzial zeigt oder gar der kommunikative Fall vorliegt, wäre noch genauer zu diskutieren. Will Sonderborg mit uns trotz des Verzichts auf semiotische Konvention kommunizieren? Oder will er einen Erlebnisstimulus für uns schaffen, in dem wir mit uns und für uns etwas individuelles ausschöpfen können? Dann wäre das ein Erlebensangebot, aber keine Kommunikation im strikten Sinn. Vielleicht Merleau-Pontys „Kommunion“?

Das Bildphänomen in der Menschheitsgeschichte

Hier nun tut sich eine philosophische Begründung meiner These auf, dass abstrakte Gemälde keine ‛Bilder’ sind. Man würde dem existenzialphilosophischen oder auch nur experimentellen Anliegen der sogenannten abstrakten Künstler nämlich Unrecht tun und ihnen ohne angemessenes Verständnis begegnen, wenn man ihre Gemälde, Artefakte, Kompositionen doch ‛Bilder’ im terminologischen Sinn nennen würde, denn damit würde man behaupten, dass sie immer noch den Codes in Gestalt des Bildcodes verpflichtet blieben. Genau das aber wollen sie ja nicht.

Wie wir die Rezeptionsseite und die Interaktionsseite dieser Art Kunstgeschehen insgesamt wissenschaftlich einordnen, ist eine andere Frage. Dass zwischen dem ‛Bild’ im engeren – wir sagen: im terminologischen – Sinne und anderen visuellen Artefakten oder visuellen Tatsachen der Welt ein fundamentaler Unterschied besteht, wussten die religiösen Ikonoklasten, Bilderfeinde, Bilderstürmer aller Zeiten. Das gilt auch für den seinerzeitigen Kölner Kardinal Meißner und die Anhänger der jüdischen oder islamischen Religion, die meinen Bildansatz sofort verstehen. Der Kölner Kardinal, weil er Jackson Pollocks dripping-Gemälde nie in den Dom als Wandschmuck gelassen hätte (wir denken an den Dom-Fenster-Skandal mit Gerhard Richter), weil es für ihn eben kein Bild ist; und dann in genau entgegengesetzter Richtung etwa ein Imam, der vermutlich nichts Prinzipielles gegen Pollocks Gemälde als Moscheeschmuck einzuwenden hätte, gerade weil es für ihn ebenfalls kein Bild ist. Die religiösen Bilderverbote, etwa bei den Juden oder im Islam, setzen theoretisch zwei Dinge voraus, nämlich dass das Bild aus kodierten Elementen besteht und dass es referentialisiert. Genau darum werden die ‛Bilder’ im eigentlichen Sinn verboten. Demgegenüber sind andere visuelle, asemantische Artefaktkomponenten nicht verboten: Ornamente, Farben, geometrische Formen aller Art. Das aber sind eben keine Bilder, wenn sie auch visuell sind. Für uns aber ist das ein Hinweis, dass die theoretischen Grundlagen unseres strengen Bildverständnisses zum intuitiven Verstehen des Bildphänomens in der Menschheitsgeschichte gehören.


[i] Knape: Radical text theory (2019).

[ii] Wiesing spricht in diesem Sinn von „Cyberspace“-Präsenz. Wiesing (2000) 111.

[iii] Wiesing (2000) 43-48.

[iv] Vgl. zum Folgenden das Kapitel „Die Dingbild-Frage“ bei Knape: Die Dinge (2019).

[v] „Simulacrum“ als „Abbild“ schon 1764 bei Johann Heinrich Lambert, siehe Lambert (1965) 9.

[vi] Knape (2017).

[vii] Vgl. die 15 bildtheoretischen Eckpunkte bei Knape (2007) 12ff.

[viii] Husserl (Ed. Marbach) 26.

[ix] Wiesing (2000) 13f.

[x] Wiesing (2000) 14f.

[xi] Srubar (2012) 226.

[xii] Das dokumentiert der Basler Ausstellungskatalog zu Pollocks Werk deutlich: Helfenstein/Zimmer 2016. Pollock rekurriert damit zwar auf den Farbcode, aber nicht mehr auf den rein gestalttheoretisch fundierten Bildcode.

[xiii] Husserl (Ed. Marbach) 18-20.

[xiv] Husserl (Ed. Marbach) 18-20.

[xv] Mitchell (2008). Mitchell nennt seinen Sammelband „Bildtheorie“, doch um eine systematische Bildtheorie im eigentlichen Sinn geht es nicht, sondern letztlich nur um eine Begriffsverwendungsgeschichte, die eher einer philologischen Distributionsanalyse des Wortes „Bild“ gleicht. Am ehesten kommt das Kapitel „Was ist ein Bild?“ einer Bildtheorie am nächsten.

[xvi] Husserl bezieht sich insbesondere auf die „bemalte und eingerahmte Leinwand“; siehe Husserl (Ed. Marbach) 19.

[xvii] Simmel (Ed. Kramer). Schapiro (1994).

[xviii] Im Hintergrund des bildtragenden und -sendenden Schirms kann insbesondere bei modernen Bildverfahren ein großer technischer Equipment-Komplex der Produktion und Distribution stehen; vgl. insgesamt Knape (2005) und Knape (2013).

[xix] In der Lautsprache sind komplexe, aber doch immer noch als lexikalisierte Ausdrücke  zu verstehende Einheiten z.B. Komposita oder Phraseme mit Einzelzeichenbedeutung (etwa „sich gehen lassen“). Dass die Verknüpfung von Einzelzeichen zu einer neuen semantischen Qualität führt, hebt schon Lambert hervor, wenn er die „Verbindungskunst der Zeichen“ auch unter der Rubrik der „Dianoiologie“, der Gedankenkunst, abhandelt. Lambert (Ed. Arndt) 26.

[xx] Schmicking (2003) 198.

[xxi] Wendt (2014) 15f.

[xxii] Zu den dabei zu unterscheidenden analytischen Ebenen das Kapitel Abbild und Autonombild in Knape: Die Dinge (2019).

[xxiii] Srubar (2014).

[xxiv] Srubar (2012) 207f. u. 22. Srubar (2014).

[xxv] Merleau-Ponty (1966) 369.

[xxvi] Merleau-Ponty (1966) 370.

[xxvii] Merleau-Ponty (1966) 370.

[xxviii] Merleau-Ponty (1966) 374.

[xxix] Zu denken wäre etwa an die ‚Composition Nr. 1‘ von 1948.


Bibliographie

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Husserl, Edmund: Phantasie und Bildbewusstsein. In: Ders.: Phantasie, Bildbewusstsein, Erinnerung. Zur Phänomenologie der anschaulichen Vergegenwärtigungen. Texte aus dem Nachlass (1898–1925). Herausgegeben von Eduard Marbach. Nr. 1 (= Husserliana 23). Den Haag 1980, 1–169.

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Srubar, Ilja: Formen asemiotischer Kommunikation. In: Joachim Renn (Hg.): Lebenswelt und Lebensform. Zum Verhältnis von Phänomenologie und Pragmatismus. Weilerswist 2012, 206–228.

Srubar, Ilja: Gewalt als asemiotische Kommunikation. In: Michael Staudigl (Hg.): Gesichter der Gewalt. Beiträge aus phänomenologischer Sicht. Paderborn 2014, 74–86.

Wendt, Mike: Allgemeine Psychologie – Wahrnehmung (= Bachelorstudium Psychologie 18). Göttingen 2014.

Wiesing, Lambert: Phänomene im Bild. München 2000.