2018 Satuer Zeitschrift 10 Stoiber (Brassat)

›pictura et poesis‹

Ein Essay über Bildende Kunst und Konversationsrhetorik

von Thomas A. Stoiber

Konsumieren oder genießen wir heute gezielt Kunst, sei es in einem Kunstmuseum, einer Galerie oder im Rahmen einer Freilichtinstallation, so sind wir es gewohnt, dies in zurückhaltender Ruhe zu tun. Jedes (falsche) Wort  könnte  anmaßend sein oder den καιρός des Kunsterfassens unterbinden, denn Meinungen sind nun mal subjektiv und die Freiheiten der Kunst in jedem erdenklichen Sinne sakrosankt. So wird also der Schwätzer im Museum als störend empfunden, und die Kunstkritikerin soll erst einmal beweisen, dass sie es besser kann. Es ist nur schwer vorstellbar, dass dies noch bis vor etwa einem Vierteljahrtausend anders gewesen, dass Kunstwerken ganz im Gegenteil die Funktion zugeschrieben wurde, das Gespräch über sie im Speziellen und die Kunst im Allgemeinen zu initiieren, und dass eine einschlägige ars conversationis das Sprechen über kunstbezogene Themen lust- und kunstvoll zu zelebrieren wusste. Wolfgang Brassat lud das Auditorium in seinem Vortrag zu einem pointierten Streifzug durch die abendländische Kunstgeschichte und deren Rezeption ein.

Antike

In der Antike vollbrachte dies seit der berühmten Schildbeschreibung Homers im achtzehnten Gesang der Ilias die literarische Technik der Ekphrasis, ein Amalgam aus literarischer Fiktion und sehr freier Dokumentation von (nicht zwingend existierenden) Kunstobjekten. Es ist der Leitgedanke des Ut pictura poesis, (»Wie Malerei [ist] Dichtung«) der sowohl die Kunst sich artikulieren lässt, als auch von der Lyrik expressis verbis gezeichnete Bilder an Kunstwerken misst. Infolgedessen machte Philostrat der Ältere mit seinen fünfundsechzig εἰκόνες (»Bildbeschreibungen«) das Besprechen von Kunstwerken endgültig salonfähig und verschaffte der Literatur über Kunst einen Autonomisierungsschub, der in Form der Ekphrasis im griechischen Osten bis weit ins späte Mittelalter erhalten blieb. Erwähnenswert ist an dieser Stelle auch das klassisch griechische, aus κύλιξ und κρατήρ bestehende Symposionsgeschirr, dessen kunstvolle Bemalung mit meist mythologischen Themata nicht nur dem ästhetischen Genuss gewidmet war, sondern auch Gesprächsstoff für den gehobenen Diskurs über Ästhetik an sich lieferte: Das stilvolle Spiel mit Worten kreiert Bilder, die künstlerisch umgesetzt wiederum zum Ausgang für geschmackvolle Konversation werden – eine beinahe mystisch anmutende Rückkopplung, bei der Kunst eben nicht nur wie auf einer Einbahnstraße produziert und dann konsumiert, sondern vielmehr in beide Richtungen gelebt wird.

Frühe Neuzeit

Die Renaissance entdeckte erst einmal die Ekphráseis der Antike neu und bediente sich dieser sowohl zur Gestaltung von Vernissagen, als auch zur offensichtlich intertextuellen Beschreibung von Werken der bildenden Kunst. Die zu Beginn des fünfzehnten Jahrhunderts ins Latein übersetzte Bildbeschreibung des Lukian mit dem Titel Die Verleumdung des Apelles inspiriert Sandro Botticelli gar zur Anfertigung eines gleichnamigen Gemäldes, dessen darauf abgebildete Pfeiler mit antik-mythischen Motiven und biblischen Szenen dekoriert sind: Bilder rezipieren Bilder und im fingierten Kontext einer antiken Galerie erfüllt die frühneuzeitliche Kunst eine ihrer vorgegebenen Funktionen.

Ebenfalls von Lukian ließ sich Botticelli bei der Schöpfung seiner Gemälde Primavera sowie Venus und Mars inspirieren, die einerseits das Schlafgemach der Gattin Lorenzos di Pierfrancesco deʼ Medici schmückten, andererseits aber auch explizit zur Konversation vorbestimmt waren. Die Deutungen allegorischer Bildthemata, die gerade in Botticellis Werken auch heute noch genügend Fragen aufwerfen, waren bei der intellektuellen Elite der damaligen Zeit äußerst beliebt und zogen im sechzehnten Jahrhundert die kategorische Forderung nach vorsätzlichem Einbau eines schwer zu verstehenden Motivs nach sich, um das Interesse gebildeter Kunstliebhaber für sich zu gewinnen.

Zum ästhetischen Plaisir für kultiviertes bel parlare wurden im Barock die damals beliebten Bilderrätsel. Ein eindrückliches Exemplum hierfür stellt etwa der Festsaal des Gutes Ludwigsburg bei Eckernförde dar, in dem hundertfünfundsiebzig Miniaturgemälde die Salongesellschaft des Schlossherren bei elitärer kulinarischer und musikalischer Begleitung amüsierten, indem sie die BetrachterInnen mit ihrer Collage aus Sentenz, allegorischer Darstellung und Epigramm zu mitunter ganz eigenwilligen Synthesen derselben anzuregen wussten. Und hatte Annibale Caracci mit seinem um 1600 entstandenen Fresko Der Triumph von Bacchus und Ariadne ein aufwändiges und komplexes Gefüge aus hierarchisierten Illusionen geschaffen, die reichlich Stoff für Deutungen lieferten, so schlug er mit seinen nur mit wenigen Strichen gezeichneten Skizzen, die den Betrachter mit der Darstellung physiognomischer Deformation von Zeitgenossen erheitern sollten, einen ganz anderen Weg ein und wurde zum Begründer dessen, was wir heute als Karikatur bezeichnen. Ob Bilderrätsel oder Karikatur, in beiden Fällen existierte das Kunstwerk nicht lediglich aus und für sich selbst, sondern hatte die klare Aufgabe, mit den es betrachtenden Individuen zu interagieren,  ja es forderte zu Deutungen auf, über die parliert und sogar gelacht, aber um Himmels willen bloß nicht still und heimlich kontempliert werden sollte.

Heute

Die Bruchlinie, die die Abkehr zu diesem offenen Umgang mit Kunst markiert, setzte in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts Gotthold Ephraim Lessings Schrift Über die Grenzen der Malerei und Poesie, die tausendachthundert Jahre Ut pictura poesis hinwegfegte und das Sprechen über Kunst zum Problem erklärte. Demonstrativ stellte in Folge Daniel Chodowiecki in seinen Radierungen die natürliche, in seinen Augen  kontemplativ ergriffene Betrachtung der affectirten [sic!], das heißt geselligen, lauten und damit anmaßenden Auseinandersetzung mit Kunstobjekten gegenüber und erhob die schweigsame und damit verinnerlichte Rezeption von Kunst zu einem Ideal, das bis heute hochgehalten wird und seine sensibelsten fellow travelers mit der Diagnose »Stendhal-Syndrom« gleichsam zu adeln scheint. Seit dem neunzehnten Jahrhundert also suchen KunstliebhaberInnen die Objekte ihrer sinnlichen Begierde in einschlägigen Ausstellungsräumen auf, bewaffnet mit einem entsprechenden Kunstführer, der anstelle einer polychrom wirkmächtigen Ekphrasis auf die distanziert nüchterne Descriptio analytischer Fakten setzt, und einer esoterischen Anteilnahme, die oft eher an eine Totenwache erinnert denn an das perikleische φιλοκαλεῖν (»das Schöne lieben« Thuk. 2, 40). Diesem meditativen Treiben nicht genug, kulminiert der kalmierte Kunstgenuss inzwischen im Gebrauch sogenannter Audio-Guides, die die zwischenmenschlichen Kommunikationskanäle der MuseumsbesucherInnen nun gänzlich kappen und jedes Individuum auf sich alleine gestellt zurücklassen – fehlt nur noch, dass das mit Sanktionen drohende totale Sprechverbot einzelner US-amerikanischer Kunstmuseen seinen Weg in den Rest der Welt findet!

Cum tacent, significant?!

Auf der lautlich-verbalen Ebene sind Bilder stumm. Und doch artikulieren sie sich über die in ihnen enthaltenen Zeichen in gewissermaßen kommunikativer Absicht gegenüber den sie betrachtenden Menschen. Infolge der Entrhetorisierung der Kunst und somit einer geeigneten ars conversationis verlustig gegangen, fehlen unserem Bewusstsein heute einerseits entsprechende Termini, um in die Kommunikation der zu uns sprechenden Bilder einzusteigen, andererseits aber auch vielfach geeignete Räume, die eine solche überhaupt zulassen. Stellen Sie sich vor, Sie besuchen die National Gallery in London, wo sie zum ersten Mal auf Caravaggios Knabe, der von einer Eidechse gebissen wird treffen. Das Gemälde inszeniert die sinnerschließenden Bildelemente in der Weise, dass sich etwa die Illusion, der Knabe erschrecke angesichts der ihn betrachtenden Person, erst beim Näherkommen auflösen wird. Denn erst ganz nahe beim Bild entnehmen Sie dessen Titel die beißende Eidechse – Symbol für Tod und Auferstehung. Nehmen Sie dann das vom Mittelfinger tropfende Blut wahr, denken Sie vielleicht an Goethes Mephisto und dessen Worte: „Blut ist ein ganz besondrer Saft!“ Und die Frage, was es mit der phallisch anmutenden Anordnung der Früchte auf sich hat, eröffnet ein Spektrum an semiotischer und kulturhistorischer Ambiguität, die eineN in Staunen versetzt. Lässt sich über all diese Eindrücke und Empfindungen wirklich schweigen?