„Ich sehe viel mehr, mach ich die Augen zu!“
Über die Wirksamkeit innerer Bilder
von Johanna Gschaider
Im Workshop „Ich sehe viel mehr, mach ich die Augen zu“ der Linguistin und Sprecherzieherin Sylvie Polz und der freischaffenden Theaterkünstlerin Tomma Galonska nehmen die äußeren Bilder genauso eine untergeordnete Rolle ein wie die Stühle im Raum. Wir erforschen Erlebniswelten, die uns durch innere Bilder zugänglich gemacht werden, und trainieren gleichzeitig die Fähigkeit zur Imagination. Mittels der sprachlichen Anleitung finden wir unser Reservoir der eigenen inneren Bilder. Diese Bildsprache ist so individuell wie die Körpersprache und die Empfindungen, die wir dabei erfahren, und doch ähneln sie sich in gewisser Weise. Wir werden unterstützt, bei den Stimmübungen die passende individuelle Körperspannung zu finden, und erweitern unsere Bewegungsmuster durch das Visualisieren der eigenen Körpersprache.
Bereits die Ausschreibung klingt so spannend, dass ich bei diesem „Abenteuer im Kopf“ unbedingt dabei sein möchte. Tomma Galonska übernimmt den ersten Teil des Workshops und führt uns gleich in das Erlebnisfeld der inneren Bilder und Empfindungen.
Für die erste Übung legen wir uns einen schweren Gegenstand bereit und die Gruppe stellt sich in gespannter Vorfreude im Kreis auf. Die Übung „lightness and ease“ wird gerne in der Aufwärmphase oder als energetisierende Übung bei Leistungs- oder Konzentrationsabfall eingesetzt. Die Anleitung klingt leicht und der Sinn erschließt sich nicht sofort. Das ändert sich, sobald wir ins Tun kommen.
Aber von Anfang an: Wir stellen uns mit lockeren Knien hin und heben den dominanten Arm (meist ist das der rechte). Dieser fällt dann schwer wieder nach unten. Mit dem anderen Arm machen wir das gleiche und auch er drängt wieder zurück in die Ausgangsstellung. Soweit so gut. Das kennen wir alle. Doch nun aktivieren wir unser Imaginationszentrum und lassen ein sogenanntes Gas der Schwerelosigkeit in unseren rechten Arm fließen. Und siehe da: als wäre dies wirklich passiert, reagiert dieser plötzlich völlig anders und fühlt sich auch anders an. Dieses Gas breitet sich schön langsam in unserem Körper aus und mit ihm die Empfindung der Schwerelosigkeit. Unsere Bewegungen schauen von außen seltsam aus und fühlen sich ungewohnt an. Ungewohnt heißt aber durchaus nicht unangenehm, sondern ganz im Gegenteil. Was für eine wunderbare Erfahrung einmal (fast) schwerelos zu sein. Sogar der bereitgestellte Gegenstand hat an Gewicht verloren. Wir bewegen uns nicht nur leicht durch den Raum, auch Bück-Bewegungen machen wir ohne Anstrengung. Und alles, was wir dazu brauchen ist ein bisschen Vorstellungsvermögen und Konzentration. Schade nur: Verschwinden Konzentration und inneres Bild, löst sich auch die Empfindung augenblicklich auf. Es bleibt dann nur noch eine Vorstellung davon.
In der zweiten Übung widmen wir uns dem Sitz unseres Körperzentrums. Zu unserem Erstaunen kann das bei jedem von uns an verschiedenen Stellen sitzen und auch seinen Standort im oder am Körper wechseln. Wir probieren aus, wie es sich anfühlt, wenn es beim Brustbein sitzt oder sich ein Stück vor dem Körper auf gleicher Ebene befindet. Dabei gehen wir durch den Raum und die meisten von uns erleben uns und die KollegInnen als sehr präsent. Verschieben wir das Körperzentrum in die linke Schulter- ja, sie lesen richtig, auch das ist möglich- dann ändert sich augenblicklich die wahrgenommene Präsenz. Anscheinend tragen viele Menschen ihr Körperzentrum auf der Nasenspitze oder auf der Stirn spazieren. Das haben wir aus Zeitgründen nicht mehr ausprobiert. Die wichtige Erkenntnis ist, dass das Körperzentrum wandern darf und wir mit der Übung einen Referenzpunkt schaffen, wohin es zurückkehren kann. Auch diese Übung erweist sich als eine Visualisierung mit unglaublichen Konsequenzen, wenn man sich darauf einlässt.
Im zweiten Teil entführt uns Sylvie Polz in die Welt der Stimmarbeit. In der von ihr vorgestellten Arbeit von Kristin Linklater wird die Imagination benutzt, um die lokale Körperspannung zu optimieren. Die neuromuskuläre Kontrolle der Stimmfunktion wird unwillkürlich ausgeführt. Sie kann mit entsprechender Übung aber willkürlich gesteuert werden. Kristin Linklater vertritt den Ansatz, dass man nicht in die unbewussten Körperprozesse eingreifen soll, sondern dem Körper durch den Einsatz innerer Bilder ermöglichen kann, feinmotorische Höchstleistungen zu erbringen. Diese inneren Bilder aktivieren zahlreiche sensorische Netzwerke im Gehirn. Die Verbesserung der Vorstellungskraft und ein bewussterer Zugang zu verschiedenen Körperregionen, die wir sonst nicht willentlich beeinflussen können, sind ein positiver Nebeneffekt und dienen gleichzeitig einer optimierten Stimmproduktion.
Nach dieser kurzen theoretischen Einführung gehen wir sofort zum Praxisteil über. Wir beobachten unseren Atem, um gleich darauf zu erfahren, wie er sich verändert, wenn wir uns in Gedanken an einen Ort oder in eine Situation versetzen, in der wir uns glücklich fühlen. Gleich darauf begegnen wir unserer Stimme. Wir verlegen in unserer Vorstellung den Stimmsitz in den unteren Brustbereich und… Ja, Sie haben es erraten, es verändert sich etwas. (Vielleicht wollen auch Sie, lieber Leser oder liebe Leserin, es gleich ausprobieren?) Als nächstes lassen wir aus unserem imaginierten Stimmreservoir im unteren Bauchbereich einen Laut nach oben fließen und entlassen ihn mit einem mmmm und einem aaaa. Nicht genug – ein weiteres Bild regt uns an, die „mmms“ und „aaas“ vor den Lippen im Mundraum zu versammeln und sie dann sanft zu entlassen. Und kaum zu glauben: auch dieses Bild ruft eine hörbare Veränderung hervor! Das war aber nur der Anfang, denn wir tauchen noch tiefer in die Körper- und Vorstellungswelten ein. Nachdem wir unser Hüftgelenk gelockert haben, schütteln wir das Bein und atmen durch die Kehle, die nun durch das Bein verläuft und in einen Mund am Fußballen endet aus. Wie es scheint, sind wir in dieser Übungsstunde bereits in die Meisterklasse der Imagination eingeladen worden.
Am Schluss dürfen wir noch „Stimmtropfen“ in verschiedenen Höhen von unserem Körper schütteln und kommen am Schluss zu einer hörbar volleren und entspannten Sprechstimme zurück. Diese Arbeit der unterstützenden Bilder lässt sich nicht nur in Übungsphasen anwenden, sondern eignet sich genauso als Vorbereitung auf eine Redesituation. Natürlich erfordert es Übung über einen längeren Zeitraum, um einen nachhaltigen Effekt zu erreichen und diesen auch in Stresssituationen hervorrufen zu können. Doch auch ohne Übung gibt es manchmal spontane Erfolge. Probieren Sie doch einfach den Tipp aus, den uns Frau Polz am Ende noch mitgibt: Normalerweise führt Aufregung dazu, dass die Kehle eng wird. Da hilft schon mal ein Cocktail aus entspannter Atmung und einem wunderbaren Bild der sprühenden Stimmtropfen in positiver Umgebung, um die optimale Körperspannung zu erreichen. Dieser positive Zustand verhilft dann nicht nur dem Redner und der Rednerin zu exzellenten Leistungen, sondern überträgt sich auch auf das Publikum. Dieses sollte am Ende der Rede dann mindestens so begeistert und energiegeladen sein, wie wir nach diesem bereichernden Workshop waren.