Redegattungen (genera orationis)

Die Unterscheidung in Redegattungen ist durch Aristoteles festgelegt worden; sie findet sich allerdings bereits in älteren Überlegungen zur Rhetorik (z.B. bei Anaximenes von Lampsakos). Aristoteles hält in seiner Rhetorik[1] den Zuhörer für das entscheidende Kriterium für die Bestimmung der Redegattung: man kann eine Rede hören, um sie wegen eines gegenwärtigen Anlasses zu genießen (Lobrede) oder um eine Entscheidung zu fällen. Im letzteren Fall kann es sich um eine Versammlung (Volksversammlung, Parlament) handeln, die eine Entscheidung über eine zukünftige Regelung zu treffen hat, oder um ein Gericht, das über ein vergangenes Geschehen zu urteilen hat.[2]

Genus iudiciale

γένος δικανικόν
[Genos dikanikon]

Gerichtsrede

Zeitform: Vergangenheit

Genus deliberativum

γένος συμβουλευτικόν
[Genos Symbouleutikon]

Beratungsrede

Zeitform: Zukunft

Genus demonstrativum

γένος ἐπιδεικτικόν
[Genos Epideiktikon]

Lobrede

Zeitform: Gegenwart

Ein solche Einteilung entspricht einem Ordnungsbedürfnis angesichts der prinzipiell unbeschränkten Anwendungsmöglichkeiten einer Rede, wenngleich eine eindeutige und trennscharfe Abgrenzung nicht möglich ist.  Kritik an der Dreiteilung, insbesondere an ihrer Vollständigkeit, hat es bereits in der Antike gegeben. So hat Cicero etwa darauf hingewiesen, dass die Lobrede im Grunde genommen eine Residualkategorie für sehr unterschiedliche Anlässe darstellt. Bedenken äußert auch Quintilian. Moderne Rhetorikkonzeptionen attestieren dieser Einteilung allerdings durchaus Sinnhaftigkeit, so etwa Regina Podlewski in ihrer Unterscheidung zwischen juristischer Rhetorik, gekennzeichnet durch argumentative bzw. problemorientierte Elemente, kommunikativer bzw. informationserzeugender Rhetorik und ästhetischer Rhetorik.[3] Dabei ist allerdings zu bedenken, dass es sich dabei zwar um eine Typologie von Eigenschaften und Elementen handelt, die potenziell in jeder Rede und in sämtlichen Redegattungen vorhanden sind, die aber von Fall zu Fall eigene Schwerpunkte bilden.[4]

  1. Die Gerichtsrede

Auch wenn man vom historischen, d.h. griechisch-römischen Kontext absieht, kommt der Gerichtsrede bzw. dem genus iudiciale in gewisser Weise eine modellgebende und damit paradigmatische Funktion zu.[5] Übertragen in die heutige Anwendungssituation, entspricht die Gerichtsrede einem Plädoyer, entweder von Seiten der Anklage oder der Verteidigung.  Das genus iudiciale hat einen typischen Aufbau, in dessen Zentrum der Beweis steht:

  • exordium: Einleitung
  • narratio (und divisio):
  • Argumentatio oder probatio (confirmatio und refutatio): Beweisführung zur Darlegung der Richtigkeit der eigenen Behauptungen und zur Widerlegung der gegnerischen Behauptungen.
  • peroratio:

Mit der Beweisführung (griech. πίστεις / Pisteis) hat sich die antike Rhetorik besonders ausführlich beschäftigt, da sie der „schlechthin unentbehrliche Teile der Gerichtsrede“[6]  ist.

  1. Die Beratungsrede

Das genus deliberativum [griech: γένος συμβουλευτικόν / Genos Symbouleutikon] ist die politische Rede. Ein politisches Problem wird nach verschiedenen Richtungen hin untersucht und der Redner stellt dazu seine Position dar, z.B. bei der Debatte über einen Gesetzesantrag. Gute Beispiele für derartige politische Reden finden sich bei Cicero, z.B. De imperio Cn. Pompeii als Beispiel einer zuratenden [προτρεπτικόν / protreptikon] oder De lege agraria als Beispiel einer abratenden [ἀποτρεπτικόν / atreptikon] Rede.[7] Es wird immer wieder darauf hingewiesen, dass der Sinn und die Aufgabe von politischen Reden vom jeweiligen gesellschaftlichen Kontext bestimmt sind.[8]

  1. Die Lobrede (Epideiktik, genus demonstrativum)

Epideiktik fungiert als Sammelbegriff für verschiedene Reden, die denselben

thematischen (Ehre bzw. Unehre) oder auch funktionalen (Lob oder Tadel)

Bereich aufweisen. Im Historischen Wörterbuch der Rhetorik wird Epideiktik unter „Epideiktische Beredsamkeit“ geführt: „Der Terminus Epideiktische Beredsamkeit

ist indes keine Gattungsbezeichnung, er ist vielmehr als ein auf die Praxis weisender Oberbegriff für eine Vielzahl verschiedener epideiktischer Gattungen zu verstehen.“[9]

Thomas Zinsmaier[10] nennt das sophistische Lob, den Panegyrikus und den Epitaphios als die drei Entwicklungsstränge der Epideiktik. Im Gegensatz zur Gerichts- oder Beratungsrede beinhaltet die epideiktische Redegattung kein Agon, weshalb eine argumentatio weitgehend fehlt. An deren Stelle tritt die amplificatio (griech. αὔξησις / Auxesis), also die Tendenz, Personen und ihre Leistungen von ihrer jeweils besten Seite darzustellen.

Verweis: Gerichtsrede;

J.J.Hagen

Literatur:

Manfred Fuhrmann, Die Antike Rhetorik. Eine Einführung, 6. Auflage, Mannheim 2011

Karl-Heinz Göttert, Einführung in die Rhetorik, 4. Aufl. München 2009

Peter Hartmann, Arthur-Fridolin Utz, Interessenpluralismus und politische Entscheidung. Zum Problem politisch-ethischen Verhaltens in der Demokratie. Sammlung Politeia , Band XIX. Heidelberg 1965.

  1. Krapinger (Hrsg.), Aristoteles Rhetorik, Stuttgart 2007.

Heike Mayer, Das epideiktische Prinzip oder: Das Gesetz der Sonntagsrede gilt auch im Alltag, http://rheton.at/rheton/2007/04/heike-mayer-das-epideiktische-prinzip-oder-das-gesetz-der-sonntagsrede-gilt-auch-im-alltag/)

Thomas Zinsmaier, Epideiktik zwischen Affirmation und Artistik. Die antike Theorie der feiernden Rede im historischen Aufriss, in: Josef Kopperschmidt, Helmut Schanze (Hrsgg.), Fest und Festrhetorik: Zur Theorie, Geschichte und Praxis der Epideiktik, München 1999, 375 – 398

[1]Rhetorik 1. 3 (1358b); Krapinger (2007) 19

[2]Göttert (2009) 21 f.

[3]Podlewski, Rhetorik als pragmatisches System, Hildesheim – New York 1982.

[4]Mayer (2007)

[5]Fuhrmann  (2011) 81

[6]Fuhrmann 87

[7]Stichwort Adhortatio in HWRh

[8]Hartmann, Utz (1965).

[9]Stichwort Epideiktische Beredsamkeit in HWRh.

[10]Zinsmaier (1999) 377