Abstract: Rhetorik ist für die Schule auf zwei Ebenen bedeutsam: als Fähigkeit der Unterrichtenden, wirkungsvoll zu kommunizieren, und als Lerngegenstand, der Schülerinnen und Schüler fähig macht, ihrerseits wirkungsvoll zu kommunizieren.
Das Kerngeschäft der Schule, der Unterricht, besteht in der absichtsvoll inszenierten Kommunikation von Lehrenden und Lernenden. Die Rhetorik setzt da an, wo die beiden Kommunikationsrollen sich ihr Kommunikationsverhalten als Sprach-, Sprech- und Körperverhalten bewusst machen und zum Beispiel Differenzen der Textgestalt als unterschiedliche Qualität wahrnehmen und anerkennen
Weil die typischen schulischen Prozesse nur als kommunikatives Handeln existieren, müssen sich Lehrende und Lernende frei machen von der naiven Vorstellung, der Bezug zwischen Sprecher und Adressaten sei durch die Unterrichtsfächer ausreichend festgelegt. Wenn diese Fächer aber keine vorgegebenen kommunikativen Qualitäten darstellen, braucht die Schule Lehrerinnen und Lehrer, die ausgebildet sind in wirkungsbewusster, rhetorischer Kommunikation.
Werner Müller
Schule braucht Rhetorik
Sei Er kein schellenlauter Tor.
Es trägt Verstand und rechter Sinn
Mit wenig Kunst sich selber vor;
Und wenn’s euch Ernst ist, was zu sagen,
Ist’s nötig, Worten nachzujagen?2
Er muss sich abgekanzelt und ironisiert fühlen von seinem wortgewaltigen Vorbild, das ihm die Höhe der Kunst vorführt, ihm aber den Weg dorthin nicht öffnen will.
Den von Faust konstruierten Gegensatz zwischen reden und redlich führt übrigens das etymologische Wörterbuch wieder zusammen in der gemeinsamen Grundlage ratio.4
Und noch ein weiterer, gern bemühter Kronzeuge rhetorischer Abstinenz erweist sich eher als Anwalt rhetorischer Bewusstheit: Der berühmte letzte Satz von Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus eignet sich nicht dazu, den Verfasser zum Rhetorikgegner zu stilisieren. Neben diesem Satz Nr. 7 ( „Worüber man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen“ ) steht Wittgensteins Selbstverpflichtung aus der Vorrede: „Wenn diese Arbeit einen Wert hat, so besteht er in Zweierlei. Erstens darin, daß in ihr Gedanken ausgedrückt sind, und dieser Wert wird umso größer sein, je besser die Gedanken ausgedrückt sind.“5
- Schule geschieht durch kommunikatives Handeln, Schule findet statt als kommunikatives Handeln.
- Schulisches Wissen, schulische Fähigkeiten existieren nur als schulische Kommunikation,
- im engeren Sinn als gesprochene und geschriebene Unterrichtssprache, im weiteren Sinn als kommunikatives Beziehungshandeln.
- als professionelle Kunst der Vermittlung bei den Lehrenden,
- als Instrument emanzipatorischer Kulturteilhabe bei den Lernenden.
Weil jeder Unterricht in diesem Sinne eine rhetorische Veranstaltung ist, müssen wir Lehrer für die Rhetorisierung des Unterrichtens eintreten. Das bedeutet für Lehrerinnen und Lehrer, den naiven pädagogischen Bezug zu einem bewussteren, wenn möglich zu einem reflektierten Kommunikationsgeschehen zu gestalten. Das bedeutet, sich zu verabschieden von einem vermeintlich gegebenen und geklärten Sach- und Adressatenbezug, der mit der Berufsrolle einmal erworben wird und dann gültig bleibt. Das bedeutet, die enge Rhetorik der Staats- und Fest- und Gelegenheitsreden zu öffnen für die alltagsnahe Sach- und Beziehungsrede, die jeden Unterricht kennzeichnet.
Mut in die Seele gehaucht und die Furcht den Gliedern entnommen.
Und sie stand und erwartete ihn. Da zweifelt Odysseus,
Ob er flehend umfaßte die Kniee der reizenden Jungfrau.
Oder, so wie er war, von ferne mit schmeichelnden Worten zu flehen,
Daß ihm das Mädchen nicht zürnte, wenn er die Kniee berührte.
Schmeichelnd begann er sogleich die schlau ersonnenen Worte.8
Werner Müller,
Am Erdäpfelgarten 2,
D-82205 Gilching
Jahrgang 1945
Lehrer am Max-Born-Gymnasium Germering für Deutsch, Latein, Rhetorik; als Mitarbeiter der Schulleitung zuständig für Fragen der pädagogischen Qualitätsentwicklung
Referent der Lehrerakademie Dillingen im Themenbereich (Konflikt)Kommunikation bei der Fortbildung von Schulleitern, Seminarlehrern, Deutschlehrern
Aufsätze in der Zeitschrift für Schulverwaltung und Schulleitung:
Achtung, eine Durchsage. Zur Rhetorik von Lautsprechertexten
Wie wütend darf der Direktor werden?
Der Traum vom guten Schulleiter
Mitarbeit an der Handreichung Praxisorientierte Rhetorik
Zitiervorschlag:
Werner Müller, Schule braucht Rhetorik, in: RhetOn. Online Zeitschrift für Rhetorik & Wissenstransfer 1/2005 (www-Datei: http://rheton.at.dedi2887.your-server.de/rheton/rheton/?page=articles§ion=01.05&article=schulemueller, [Datum des Abrufs]).
[ 1 ]Angenehm nachzulesen bei Walter Jens, Rhetorik und Propaganda, in: Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Band 20, Mannheim 1977, 94 ff.
Gegen Jens darf man sagen, dass tatsächlich kein Rhetoriklehrer der europäischen Kulturgeschichte die Rhetorik vom Makel der Instrumentalisierung reinwaschen konnte. Quintilians tapfere Behauptung, ein guter Redner müsse notwendig ein guter Mensch sein, bleibt ein ethisches Postulat.
[ 2 ]zitiert nach der Hamburger Ausgabe (Johann Wolfgang von Goethe, Faust. Eine Tragödie. Erster Teil, in: Ders.: Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 3. Dramatische Dichtungen I. Textkritisch durchgesehen und kommentiert von Erich Trunz, München 1988, 25).
[3 ]Goethe, Faust (wie Anm. 2), 25. Wagner zitiert hier Hippokrates, wie zuvor Quintilian:
Allein der Vortrag macht des Redners Glück;
Ich fühl es wohl, noch bin ich weit zurück.
[ 4 ]Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, bearb. von Elmar Seebold, 23. Aufl., Berlin u. New York 1999, 673.
[ 5 ]zitiert nach der Ausgabe in der edition suhrkamp (Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 23. Aufl., Frankfurt am Main 1992 (Edition Suhrkamp 12), 8.
[ 6 ]Siegward Berthold, Gesprächsrhetorik in Sekundarstufe I. Beleidigungen und Komplimente, in: Rhetorik, Band 17. Rhetorik in der Schule, 89 ff.
[ 7 ]Hans-Joachim Glücklich, Hg., Redekunst – Lebenskunst. Ein Rhetorikkurs im Lateinunterricht. Göttingen 1980.
[ 8 ]Homer, Odyssee. Aus dem Griechischen von Johann Heinrich Voß, hg. v. Marion Giebel, München 1986, 75.
[ 9 ]Christoph Martin, Die Odyssee. Erzählt von Christoph Martin, Frankfurt am Main 1996.
[ 10 ]Berthold, Gesprächsrhetorik (wie Anm. 6).
